Ausgeträumt? Vom arabischen Frühling in den blutigen Herbst
Am 17. Dezember 2010 setzte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi im tunesischen Sidi Bouzid selbst in Brand. Es war der Auftakt einer Welle von Umstürzen im arabischen Raum. Fünf Jahre später versinkt die Region in Chaos und Gewalt. Ist der Traum von Freiheit und Gerechtigkeit endgültig geplatzt? Wir präsentieren hier einen Rückblick in zwei Teilen.
Die Kleinstadt Sidi Bouzid liegt abgelegen im Zentrum Tunesiens. 100 Kilometer sind es zum Meer. 200 Kilometer zur Hauptstadt Tunis. 40.000 Menschen gehen hier täglich ihren Angelegenheiten nach. Es ist eine landwirtschaftliche Region, geprägt durch den Olivenanbau. Vor fünf Jahren wurde jedoch in diesem unscheinbaren Provinznest eine tragische Geschichte geschrieben, deren Wirkung die arabische Welt nachhaltig erschüttern sollte: Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Mohamed Bouazizi.
Nach dem frühen Tod seines Vaters versuchte Bouazizi sich und seine Familie mit fünf Geschwistern als Gemüsehändler zu ernähren. Doch immer wieder drangsalierte ihn die Polizei, beschlagnahmte seine Waren und forderte von ihm Bußgelder wegen fehlender Papiere. So auch am 17. Dezember 2010: Eine Polizistin forderte ihn auf, das Gemüse und seine Waage herauszurücken. Als Bouazizi sich weigerte, wurde er geschlagen und zu Boden geworfen; seine Sachen wurden mitgenommen. Brüskiert ging er zur Stadtverwaltung, mit der Forderung die Verantwortlichen zu sprechen. Doch wie gewöhnlich ließen die Zuständigen verlauten, sie seien gerade beschäftigt. Es ist ein Gefühl, das eine ganze Generation junger Tunesier*innen kennt: Trotz guter Ausbildung keine Zukunft, von hohen Lebenshaltungskosten erdrückt und ständig schikaniert von Behörden und Polizei. Doch die schiere Verzweiflung über die andauernden Demütigungen und die Perspektivlosigkeit brachte an diesem Tag das Fass bei Bouazizi zum Überlaufen: Er holte sich einen Kanister Benzin und übergoss sich damit vor der Stadtverwaltung. Der kleine Funke seines Feuerzeuges setzte zunächst ihn selbst und in wenigen Monaten die ganze arabische Welt in Brand.
Die Ausbreitung der Unruhen
Die Nachricht der schrecklichen Tat verbreitete sich rasend schnell: Noch am selben Tag gingen hunderte Jugendliche in der kleinen Stadt auf die Straße. In den nächsten Tagen verabredeten sich die Menschen spontan per Facebook, Twitter und Co. zu neuen Protesten, die sich bald auf das ganze Land ausweiteten. In westlichen Medien wurde daher der Begriff der Facebook-Revolution geprägt. Doch diese Bezeichnung ignoriert die Ursachen der Bewegung: In Folge von Dürren und der Weltwirtschaftskrise verdoppelte sich der Weltmarktpreis von Getreide im Zeitraum vom Juni 2010 zum Januar 2011. In Zusammenspiel mit der Arbeits- und Perspektivlosigkeit und den fehlenden demokratischen Freiheiten sorgten die hohen Lebensmittelpreise für den sozialen Zündstoff, der auch das Leben von Mohamed Bouazizi nach zweieinhalb Wochen im Koma am 4. Januar 2011 so tragisch beendete.
Viel zu lange waren die Menschen in Tunesien in Ketten gehalten worden. Doch nun wurde ihr Mut stärker als die Resignation und die Angst vor den Schergen des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Das Anrollen des Repressionsapparates hielt die Menschen nicht auf. Anfang Januar bekamen die Proteste Massencharakter. Es kam landesweit zu Angriffen auf Polizeigebäude und öffentliche Einrichtungen, während die Polizei mit scharfer Munition in Demonstrationen schoss. Am 10. Januar rief die Einheitsgewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail zum Generalstreik auf. Öffentlich bezeichnete Ben Ali die Protestierenden als Terroristen und Kriminelle. Was er verschwieg: Dass er selbst bereits seine Flucht vorbereitete, bei der er mehr als 20 Milliarden Dollar außer Landes schaffte. Am 14. Januar wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Noch in der selben Nacht verließ Ben Ali Tunesien in Richtung Saudi-Arabien. Zu diesem Zeitpunkt waren 78 Zivilist*innen von der Polizei getötet worden. Die Wucht der Massenproteste hatte Ben Ali auf dem falschen Fuß erwischt. Trotz seines umfangreichen Repressionsapparates konnte er sein über mehr als zwei Jahrzehnte aufgebautes kleptokratisches System nicht länger halten. Da halfen ihm auch seine guten Beziehungen nach Frankreich nichts.
Der arabische Frühling
Von dieser heldenhaften Leistung ermutigt, begehrten bald auch die Menschen in anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens auf: Für soziale Gerechtigkeit und demokratische Freiheiten! Weg mit den verhassten Diktatoren und Häschern! Hinfort mit all dem Pack, das ihnen täglich die Luft zum Atmen nahm! Nach so vielen Jahren der Angst, des Sich-Wegduckens und des Leidens wehte von heute auf morgen der Geist der Revolution durch die Straßen von Tunis, Kairo, Benghazi oder Sanaa. Im Laufe des Januars und Februars 2011 füllten Millionen von Menschen die Plätze der großen Städte nahezu jedes arabischen Landes.
In Ägypten kam es am 25. Januar zu den ersten Massenprotesten. Verschiedenste Oppositionsgruppen hatten zum „Tag der Revolte gegen Folter, Armut, Korruption und Arbeitslosigkeit“ aufgerufen. Dies ausgerechnet am „Festtag der Polizei“! Für die staatlichen Schläger*innen gab es aber nichts zu feiern: 30.000 Uniformierte versuchten die Demonstration auseinanderzutreiben, mussten sich aber vor der schieren Masse und Entschlossenheit der zehntausenden Demonstrant*innen zurückziehen. In den folgenden Tagen eskalierte die Situation zunehmend: Dutzende Menschen starben bei Protesten und die Armee zeigte sich überall im öffentlichen Raum. Der Tahrir-Platz im Zentrum Kairo wurde besetzt und gegen Schlägertrupps von Mubarak verteidigt, die teilweise auf Kamelen reitend in die Menge prügelten.
In der vordersten Reihe auf Seiten der Revolution: Frauen, die fast die Hälfte der Demonstrant*innen ausmachten. Sie waren es, die gerade in Ägypten den patriarchalischen Strukturen trotzten und auf dem Tahrir-Platz zu gleichberechtigten Kämpferinnen wurden. Schon in den Jahren zuvor hatten die Frauen in Arbeitskämpfen Stärke gezeigt. Seit 2006 gab es bereits Streiks und Fabrikbesetzungen in den großen Zentren der Textilindustrie wie El-Mahalla im Nildelta. Dort stellen Frauen einen großen Teil der Arbeitskräfte, die von den westlichen Firmen besonders schlecht bezahlt werden. Auch seit der Revolution 2011 machten die ägyptischen Arbeiter*innen wieder besonders auf sich aufmerksam: Landesweite Streiks wichtiger Sektoren wie dem Bildungs- und Gesundheitswesen, der Textilproduktion, dem Verkehr und den Häfen ließen immer wieder die Bourgeoisie erzittern. Während die alte korrupte und staatsnahe Gewerkschaft zusehends an Einfluss verlor, konnte sich in den Kämpfen eine neue „Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Ägyptens“ bilden, mit über zwei Millionen Mitgliedern.
Es war auch der Verdienst dieser kämpferischen Frauen- und Arbeiter*innenbewegung, dass Mubarak am 11. Februar 2011 zum Abdanken gezwungen wurde. Hunderte ließen in Kämpfen um den Tahrir-Platz ihr Leben. Doch nach Tunesien war es innerhalb weniger Wochen nun zum zweiten mal gelungen, einen Diktator zu stürzen. Und wieder konnten seine Freund*innen, diesmal in Washington, ihm nicht helfen. Doch wie in Tunesien stellte sich nach seinem Fall die Frage, wie es weiter gehen sollte…
Das Blatt wendet sich
Der Sturz der beiden Diktatoren, der blutig, aber doch so schnell von statten gehen sollte, öffnete das Haifischbecken im Kampf um die Macht. In Tunesien bildete sich eine Übergangsregierung der „nationalen Einheit“. Auch wenn der Präsident verjagt worden war, so blieben damit doch noch die alten Eliten an den Schaltstellen. Folglich gingen die Proteste weiter um Ben Alis Kumpanen aus der Regierung zu vertreiben. Hier zeigten sich jedoch die Grenzen der Bewegung: Es wurden in den Betrieben keine Rätestrukturen gebildet, die unter revolutionärer Führung einen eigenständigen Weg der Arbeiter*innenklasse hätten einschlagen können. Stattdessen folgte die Unterordnung der Bewegung unter bürgerliche Kräfte: Bei den Neuwahlen im Herbst 2011 gewann die islamistische Ennahda-Partei. Es folgte eine Periode der politischen und wirtschaftlichen Instabilität. Die Abhängigkeit vom französischen Imperialismus blieb und so der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen der tunesischen Arbeiter*innen, immer mittels der Drohung, Investitionen zu entziehen. Beim Sturz des alten Regimes spielten die Arbeiter*innen mit ihren Streiks eine zentrale Rolle. Doch im neuen System wurden sie in den Wahlen passiviert. Die Führung der Gewerkschaftsbewegung unterstützt diesen Prozess, da sie in Verhandlungen mit den Vertreter*innen des neuen Regimes ihre Privilegien sichern wollten. So trat die Gewerkschaft UGTT als Vermittlerin zwischen Regierungspartei und Oppositionspartei im Februar 2013 auf, um einen nationalen Dialog einzuleiten. Dadurch bilden mittlerweile bürgerliche-laizistische Parteien zusammen mit alten Eliten und gemäßigten islamistischen Kräften die Regierung. Stück für Stück verkaufen sie die ohnehin geringen demokratischen Errungenschaften der Revolution, sichern ehemaligen Funktionär*innen des Ben Ali-Regimes Straffreiheit zu und beschließen polizeistaatliche Maßnahmen.
In Ägypten übernahmen nach Mubarak die Generäle die Macht. Als die Truppen vor dessen Sturz die öffentlichen Plätze besetzt hatten, skandierte die Menge noch „Die Armee und das Volk sind vereint“. Doch der neu gebildete Militärrat mit dem vorsitzenden Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi hatte eigene Pläne und hielt entgegen seiner Zusagen den 30 Jahre andauernden Notstand aufrecht. Auch hier fehlte eine revolutionäre Kraft, die die Illusionen der Massen in das Militär hätte brechen können. Bei den folgenden Wahlen gewann ähnlich wie in Tunesien die islamistische Muslimbruderschaft mit Mohammed Mursi an der Spitze. Doch sie war nicht in der Lage die sozialen Fragen zu lösen. Stattdessen setzte sie Sparvorlagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) um und strich Subventionen von Benzin und grundlegenden Gütern. Das Wiederaufflammen der Massenproteste im Juni 2013 nutzte die Armee für einen Putsch, unter Wohlwollen von Deutschland, der EU und insbesondere der USA. In der Folgezeit veranstaltete das Militär ein Massaker mit über 1.000 Toten bei der Räumung eines Protestlagers der Muslimbruderschaft. Das jetzige Regime steht damit dem alten Mubarak-Clan an Bestialität in nichts nach.
Vom Sturz der Amtskollegen in seinen Nachbarstaaten sichtlich beeindruckt, fackelte der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi nicht lange, als bei ihm die Proteste im Februar 2011 Massencharakter annahmen. Kurzerhand heuerte er bewaffnete Söldnerbanden an, rückte mit Panzern vor und versuchte die Revolte in Blut zu ertränken. Schnell entwickelte sich ein Bürger*innenkrieg, bei dem sich Teile der alten Eliten den Aufständischen anschlossen. Der kurze Traum von Freiheit und Gerechtigkeit stieß erstmals auf eine schier unüberwindbare Gegenwehr. Zu stark war Gaddafi, der das Gemetzel jeglichen Zugeständnissen vorzog. Doch dies rief die Militärstrateg*innen in Washington, Paris und London auf den Plan: Gaddafi war tendenziell pro-russisch gewesen. Der Westen hatte sich zwar mit ihm arrangiert, eine große Liebe war es hingegen nie. Mit Ausbruch des bewaffneten Machtkampfes gab es nun für Frankreich, Großbritannien und die USA die Möglichkeit, ihn loszuwerden, die libyschen Erdölreserven unter Kontrolle zu bringen und ihre geostrategische Position in Nordafrika zu verbessern. Medial wurden die folgenden Luftschläge als Unterstützung der Demokratiebewegung verkauft. Tatsächlich wurde Gaddafi gefasst und getötet, doch konnte die Protestbewegung ihre Unabhängigkeit nicht bewahren. In seinem Regime waren die Arbeiter*innenorganisationen organisch an den Staat gebunden. Gaddafi hielt diese Verbindung mit Sozialprogrammen aufrecht, die jedoch durch die verstärkte Korruption der Bürokratie und die Wirtschaftskrise geschwächt wurde. Da es den Arbeiter*innen aber nicht rechtzeitig gelang, wie in Ägypten eine kollektive, unabhängige Gewerkschaftsbewegung aufzubauen, war es ihnen fast nicht möglich, zu Beginn der Massendemonstrationen organisiert auf die Straßen zu gehen. Dadurch gewannen stattdessen abtrünnige Offiziere, lokale Banden und Stammesclans an Einfluss. Die rasche Militarisierung des Konflikts und die Unterstützung der NATO spielten ihnen in die Hände. Bis heute kämpfen rivalisierende Gruppen um die Vorherrschaft, eine Staatlichkeit existiert nur in Teilen des Landes.
Mit dem NATO-Einsatz begann eine neue Etappe: Der arabische Frühling militarisierte sich, nicht nur in Libyen sondern vor allem auch in Syrien. Wie sich die Situation weiter entwickelte und welche politischen Perspektiven sich heute ergeben, wird im zweiten Teil dieses Artikels zu lesen sein.