Aufklärung aller Todesfälle! Ende der Straffreiheit bei der deutschen Polizei!

13.06.2020, Lesezeit 20 Min.
1

Der Mord an George Floyd am helllichten Tage hat weltweit Entsetzen und Wut ausgelöst. Für alle, die behaupten, so etwas gäbe es in Deutschland nicht: Wir erzählen von 18 Fällen aus den letzten 26 Jahren, bei denen Menschen ihr Leben durch rassistisch motivierte Gewaltanwendung der Polizei verloren.

Foto von Simon Zamora Martin

Vorwort

Im folgenden Artikel präsentieren wir – nach diesem politischen Vorwort – Todesfälle, die durch die Polizei in Deutschland in einem rassistischen Kontext zustande kamen. Bei keinem der Fälle  wurden die beteiligten Polizist*innen wegen Mordes oder Totschlages verurteilt. Nicht ein*e Verantwortliche*r musste auch nur einen Tag ins Gefängnis. Meist kam es noch nicht einmal zu einer Gerichtsverhandlung. In mehreren Fällen sind die genauen Todesumstände aufgrund von Verfahrenseinstellungen-, Verschleppung bis hin zu aktiver Vertuschung (wie bei Oury Jalloh) nicht abschließend aufgeklärt. Aber allen Todesopfern ist gemeinsam, dass sie ohne polizeiliche Gewaltanwendung heute noch leben würden.

Neben den von Polizeikräften Ermordeten, müssen auch die Opfer faschistischer Gewalttaten gezählt werden, die laut Amadeu Antonio Stiftung bei mindestens 208 Toten seit 1990 liegen. Immer wieder fliegen rechte Strukturen in Polizei, Geheimdiensten und Bundeswehr auf. Die NSU-Morde haben gezeigt, wie sehr Sicherheitsbehörden in den rechten Terror verstrickt sind. Die Aufklärung wurde jahrelang von der Polizei verschleppt: Sie behandelte die Opfer als Verdächtige. Später beteiligten sich die Gerichte an der Vertuschung, indem sie die These der Einzeltäter Böhnhardt, Zschäpe, Mundlos stützten und die Verbindungen zum Verfassungsschutz ignorierten.

Es braucht eine konsequente Aufklärung aller Fälle und Morde durch unabhängige Untersuchungskommissionen, die Offenlegung sämtlicher Akten und ein Ende der Straffreiheit für beteiligte Polizist*innen. Die politisch verantwortlichen Innenminister*innen müssen zurücktreten. Alle Polizeireviere, die in Morde verstrickt waren, müssen aufgelöst werden. Die Gewerkschaften sollten nicht länger dulden, dass sich Polizist*innen in ihren Reihen organisieren, die sogenannte Gewerkschaft der Polizei sollte aus dem DGB ausgeschlossen werden.

In vielen der Fälle behauptet die Polizei, aus Notwehr gehandelt zu haben. Dabei sind es Polizei, Gerichte und Behörden, die die kritischen Situationen erst herbeiführen, indem sie Menschen medizinische Betreuung verweigern, in Lager oder Zellen sperren, mit Abschiebung bedrohen oder in den Hunger treiben.

Die im Folgenden aufgelisteten Fälle haben alle einen rassistischen Kontext – viele offensichtlich, wie bei Oury Jalloh. Andere aber lassen nicht klar auf die Handelsmotivation der Polizist*innen schließen. Dennoch stehen sie in einem ganz klar rassistischen Zusammenhang, vor allem Geflüchtete betreffende Gesetze, wie Lagerunterbringen und Abschiebungen.

Neben den Opfern rassistischer Polizeigewalt gibt es in Deutschland auch Personen, die durch die Polizei in einem nicht rassistischen Kontext umkamen. Zu nennen sind hierbei die fast 300 Personen, die allein zwischen 1990 und 2017 von der Polizei erschossen wurden. Ein Wert, der deutlich niedriger ist als in den USA, wo jährlich etwa 1.000 Personen erschossen werden, was mit der historischen Tradition der US-Polizei als bewaffnete Sklavenpatrouillen zusammenhängt.

Neben der direkten Gewalt durch die Polizei kamen zwischen 1990 und 2016 fast 3.000 Menschen in deutschen Justizvollzugsanstalten zu Tode, die meisten davon durch Suizid. Die Rate der Selbsttötungen ist unter Häftlingen etwa zehn Mal so hoch wie unter der Normalbevölkerung. Gefängnisse sind menschenfeindliche Einrichtungen, die darauf ausgerichtet sind, ihre Insassen mental zu brechen. Gefängnisstrafen kommen einer psychischen Langzeitfolter gleich. Die meisten Insassen sind Menschen, die wegen Armut und psychischen Problemen ohnehin schon an den Rand der Gesellschaft gedrängt waren, doch statt Hilfe zu bekommen, werden sie nach einer Straftat weggesperrt, ohne ausreichende Möglichkeiten, betreut an ihren Problemen arbeiten zu können. Viele landen auch einfach nur wegen Armut im Gefängnis, allein 7.000 Menschen sind inhaftiert, weil sie in Öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Ticket gefahren sind und die Strafen nicht begleichen konnten.

Die politische Verantwortlichkeit für Todesfälle durch die Polizei und in den Gefängnissen liegt beim deutschen Staat,  der durch Kriegsbeteiligungen und Waffenlieferungen weltweit für Tote sorgt und zehntausende im Mittelmeer ertrinken lässt. Diesen an Europas Grenzen Ermordeten gilt unser Gedenken, ebenso wie den Opfern des rechten Terrors und rassistischer Polizeigewalt.

Die folgende Auflistung an Todesfällen enthält Beschreibungen extremer Gewalt. Sie ist zeitlich chronologisch geordnet, ohne den Anspruch, sämtliche rassistischen Morde zu erfassen. Wir haben hier nur auf eine Auswahl von 18 Toten beschränkt, zu denen durch Medienberichte und Pressemitteilungen genug Informationen für eine Berichterstattung existieren. Die Recherche-initiative Death-in-Custody nennt 159 Todesfälle von People of Colour in Polizeigewahrsahm seit 1990. In vielen Fällen sind noch nicht einmal die Namen bekannt.

Halim Dener: 1994 in Hannover erschossen

1

Foto von Kampagne TATORT Kurdistan

Anfang Mai 1994 stellte der aus Kurdistan vor der türkischen Armee geflohene Halim Demer einen Asylantrag in Deutschland. Nur wenige Wochen später war der 16-Jährige tot. Im Jahr zuvor hatte die Bundesregierung die kurdische PKK-Miliz auf die Terrorliste gesetzt, Demer war eines der ersten Todesopfer dieser Entscheidung. Im Protest gegen das Verbot verklebte er Plakate der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK). Dabei wurde er von zwei Zivilpolizisten „erwischt“.

Nach Aussage eines Zeugen seien die Polizisten bereits mit gezogener Waffe auf ihn zugegangen. Kurz darauf seien die tödlichen Schüsse gefallen. Vor Gericht sagte der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte SEK-Beamte, er habe „nicht nur an eine Ordnungswidrigkeit oder eine Sachbeschädigung gedacht“; er habe den Verdacht geschöpft, es könne sich um eine strafbare Unterstützung der verbotenen PKK handeln. Grund genug, um zu schießen. Das Verfahren endete mit Freispruch.

Kola Bankole: 1994 in Frankfurt zu Tode gespritzt

Am 30. August 1994 saß ein unfreiwilliger Passagier im Flugzeug von Frankfurt am Main nach Lagos, Nigeria. Nachdem sich Bankole bei vorherigen Abschiebeversuchen mit Händen und Füßen gewehrt hatte, fesselten ihn vier Polizist*innen des Bundesgrenzschutzes, spannten ihm einen Gurt über die Brust und steckten ihm einen Knebel in den Mund. Ein hinzugezogener Arzt verabreichte Bankole eine Beruhigungsspritze. Durch die starke Fesselung und die Injektion hörte sein Herz auf zu schlagen.

Nachdem Bankoles Puls aufgehört hatte, hielt der Arzt es nicht für nötig, selbstständig Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten, sondern wartete auf den Notarzt. Das Verfahren gegen den Arzt wegen unterlassener Hilfeleistung wurde gegen Zahlung von 5.000 Mark eingestellt. Die Anklagen gegen die beteiligten Beamt*innen wurden fallengelassen.

Amir Ageeb: 1999 in Frankfurt erstickt

1994 floh Ageeb aus dem Bürgerkriegsland Sudan nach Deutschland. Nachdem sein Asylantrag abgelehnt wurde, sollte der 32-Jährige am 8. Mai 1999 von Frankfurt am Main nach Kairo abgeschoben werden. Beim Start wurde er von drei Beamten des Bundesgrenzschutzes gefesselt, bekam einen Motorradhelm aufgesetzt und wurde mit dem Kopf auf die Knie gedrückt, bis er erstickte. In der nachfolgenden Berichterstattung wurde Ageeb fälschlicherweise als schwerer Gewalttäter dargestellt.

Die drei Polizisten wurden wegen „Körperverletzung mit Todesfolge in einem minderschweren Fall“ zu je 9 Monaten Haft auf Bewährung und 2.000 Euro Schadensersatz an die Familie Ageebs verurteilt. Nach den Worten des Kammervorsitzenden wäre bei einer höheren Strafe die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt gewesen, weil die Polizisten bei einem Jahr Freiheitsstrafe ihre Beamtenrechte verloren hätten.

N’deye Mareame Sarr: 2001 in Aschaffenburg erschossen

1

Foto von Umbruch-Bildarchiv

Über den Tod von Mareame Sarr gibt es so gut wie keine Medienberichte. Lediglich über eine Pressemitteilung von Organisationen der Schwarzen Community gibt es öffentliche Informationen zu dem Fall: „Hintergrund ist ein Streit zwischen Sarr und ihrem Ehemann, einem weißen Deutschen, der in der Nacht [auf den 14. Juli] gegen 2.30 Uhr die Polizei gerufen hat, um seine Frau aus der Wohnung werfen zu lassen. Die Frau war in die Wohnung ihres Ehemannes gekommen, weil sie den zweijährigen Sohn abholen wollte, der einige Tage zuvor von dem Mann entführt wurde.“

Nach Eintreffen der Polizei kam es demnach zu einer Auseinandersetzung, bei der Sarr erschossen wurde. Der Polizei nach sei Sarr „gewalttätig“ gewesen und die Beamten hätten aus „Nothilfe“ auf sie gefeuert. Warum trotz dreifacher Überzahl die tödlichen Schüsse gegen eine einzelne Frau fielen, wurde nie aufgeklärt. Die beteiligten Polizisten wurden weder suspendiert noch angeklagt.

Ahidi John: 2001 in Hamburg zu Tode gefoltert

2001 erlaubte der Hamburger Senat der Polizei den Einsatz von Brechmitteln, damit vermeintliche Drogendealer verschluckte Drogen ausspucken. Am 8. Dezember 2001 nahmen Zivilfahnder den 19-jährigen Ahidi John als angeblichen Drogenkurier fest und fuhren ihn in die Rechtsmedizin. Mehrere Polizist*innen fixierten ihn, während ihm die Rechtsmedizinerin den „mexikanischen Sirup“ einflößte. Der Brechmitteleinsatz führte dazu, dass John zusammenbrach und seine Atmung aussetzte.

Das Verfahren gegen die Rechtsmedizinerin und die beteiligten Polizist*innen wurde eingestellt. Politisch für den Mord verantwortlich ist übrigens ein alter Bekannter: Es war der damalige Innensenator Olaf Scholz von der SPD, der den Einsatz von Brechmitteln in Bremen genehmigt hatte.

Laye-Alama Condé: 2005 in Bremen ebenso zu Tode gefoltert

Selbst nach dem Tod von Ahidi John war das Foltern mit Brechmitteln in einigen Bundesländern bis 2006 weiter übliche Praxis. Über 1.000 Personen wurde das Mittel verabreicht, fast alle afrikanischer Herkunft. So auch der 35-jährige Condé, der am 27. Dezember 2014 von der Polizei verdächtigt worden war, Drogen im Magen zu schmuggeln und daraufhin zur Rechtsmedizin gebracht wurde. Während mehrere Polizist*innen ihn fesselten, spritze ihm ein Arzt das Brechmittel und flößte ihm selbst dann noch Wasser durch einen Schlauch ein, als dieser schon mit einer vollgelaufenen Lunge ins Koma gefallen war. Wenige Tage später starb Condé im Krankenhaus.

Der politisch verantwortliche Innensenator Thomas Röwekamp von der CDU wurde nie zur Rechenschaft gezogen, ebenso wenig wie die beteiligten Polizisten. Der Arzt wurde zwei Mal freigesprochen, ihm „sei nicht nachzuweisen gewesen, fahrlässig gehandelt zu haben“, so das Gericht. Ein drittes Verfahren wurde gegen Zahlung von 20.000 Euro eingestellt.

Oury Jalloh: 2005 in Dessau verbrannt

1
WDR Fernsehen: "die story: Tod in der Zelle - Warum starb Oury Jalloh?", Film von Marcel Kolvenbach und Pagonis Pagonakis am Montag (14.05.2007) um 22.30 Uhr. Oury Jalloh, ein Asylbewerber aus Westafrika, stirbt im Dessauer Polizeigewahrsam. Offizielle Todesursache: Tod durch Hitzeschock, keine Fremdeinwirkung. Das Opfer habe die Matratze in der Zelle mit einem Feuerzeug angezündet, dann selbst Feuer gefangen und sei verbrannt. "die story: Tod in der Zelle" prüft die offizielle Version der Selbsttötung. Über ein Jahr lang haben die Autoren Marcel Kolvenbach und Pagonis Pagonakis Fakten, Obduktionsberichte und Ermittlungsunterlagen recherchiert. Sie haben die Familie in Westafrika aufgesucht: Dort war Oury Jalloh nur knapp dem grausamen Bürgerkrieg in Sierra Leone entkommen. Dass er ausgerechnet in einer Polizeizelle in Deutschland verbrannt ist, kann die Familie nicht fassen. Mehr als zwei Jahre nach dem mysteriösen Verbrennungstod hat jetzt ein Prozess gegen zwei Polizeibeamte begonnen, denen Körperverletzung mit Todesfolge und fahrlässige Tötung vorgeworfen wird. Aber wird das Landgericht Dessau das Rätsel um einen der spektakulärsten Tode der deutschen Polizeigeschichte lösen können? - Oury Jalloh mit seinem in Deutschland geborenen Sohn. © WDR/A&O buero, honorarfrei - Verwendung nur im Zusammenhang mit genannter WDR-Sendung bei Nennung "Bild: WDR". WDR-Pressestelle/Fotoredaktion (0221) 220-4405 oder -2408 Fax -8471 E-Mail fotoredaktion@wdr.de - Mehr Motive unter ard-foto.de +++ +++ |

Foto von WDR/A&O buero Kalvenbach

Am 7. Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh mit 36 Jahren in einer Polizeizelle in Dessau – es war auch der Todestag des mit Brechmitteln zu Tode gefolterten Laye Alama Condé. Zuvor war Jalloh nach einer vermeintlichen Belästigung von der Polizei in Gewahrsam genommen worden. In der offiziellen Darstellung der Polizei und Gerichte zündete er in der Arrestzelle seine Matratze an, die Feuer fing, sodass Jalloh verbrannte. Ein Gutachten von 2014 hat festgestellt, dass diese Version der Selbstentzündung nahezu auszuschließen sei. Es sei davon auszugehen, dass sich das Feuer nicht ohne Brandbeschleuniger wie Leichtbenzin entwickelt haben könne – also es sich um Fremdeinwirkung handeln müsse.

Trotz des Gutachtens lautet die offizielle Darstellung weiterhin Suizid. Für den offensichtlichen Mord wurde nie jemand angeklagt. Nur der Dienstgruppenleiter wurde wegen fahrlässiger Tötung zu 10.800 Euro Geldstrafe verurteilt. Begründung: Er habe den Feueralarm ignoriert.  Die Gewerkschaft der Polizei zahlte dem angeklagten Polizisten die kompletten Verfahrenskosten. Das Verfahren wurde mittlerweile eingestellt, wogegen die Familie aber Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt hat. Dass Oury Jalloh als einer der wenigen Fälle noch immer Aufmerksamkeit bekommt, liegt an einer Gedenk- und Aufklärungsinitiative, die Gutachter beauftragt hat und jedes Jahr zum Todestag eine Demonstration durchführt.

Domininque Koumadio: 2006 in Dortmund erschossen

Aus mehreren Metern Entfernung feuerte ein Polizist am 14. April 2006 zwei Schüsse auf den 23-jährigen Koumadio: Einen ins Bein und einen direkt ins Herz. Zuvor hatte ein Kioskbesitzer die Polizei gerufen, weil Koumadio mit einem Messer vor dem Laden stand. In einer Situation, die von Zeug*innen als nicht bedrohlich beschrieben wurde, schoss einer der drei Streifenpolizist*innen.

Die Forderung nach Aufklärung des Falles wurde nie erfüllt. Das eingeleitete Verfahren gegen den Schützen wurde von der Staatsanwaltschaft mit Begründung der Notwehr eingestellt.

Slieman Hamade: 2010 in Berlin durch Pfefferspray gestorben

Der 32-jährige Hamade hatte Streit mit seinen Eltern. Die Schwester rief die Polizei, diese warf Hamade aus der gemeinsamen Wohnung der Familie. Über die darauffolgenden Ereignisse schreibt die Verlobte des Verstorbenen:

„Slieman will zurück in seine Wohnung, doch die Polizisten sehen darin eine Gefahr, eine Gefahr für ihren verletzten Stolz und gehen auf ihn los. Sie fesseln ihn und treten ihn, er wehrt sich. Sie rufen Verstärkung, die Verstärkung kommt und greift ohne Vorwarnung direkt zum RSG (Pfefferspray) und sprüht es auf den am Boden liegenden und gefesselten Slieman, auf dem auch noch ein Beamter sitzt, direkt ins Gesicht und in die Atemwege. Slieman bekommt bis dahin schwer Luft, jetzt noch schwerer und bald gar keine Luft mehr. Er hat keine Chance, sein Herz hört auf zu schlagen. Die Polizisten schleifen ihn das Treppenhaus hinunter und sie wollen nicht gemerkt haben, dass er nicht mehr atmet.“

Die Ermittlungen gegen die Polizist*innen werden eingestellt.

Christy Schwundeck: 2011 in Frankfurt erschossen

1

Foto von Initiative Christy Schwundeck

Am 19. Mai um halb neun in der Früh macht sich Schwundeck auf zum Jobcenter. Seit Tagen hat sie kein Bargeld mehr. Sie fragt in der Behörde, wann ihr Arbeitslosengeld komme, fragt nach 10 Euro, um über den Tag zu kommen. Sie bekommt kein Geld, wird weggeschickt, doch bleibt sie sitzen, weigert sich zu gehen. Der Sicherheitsdienst kommt, dann auch die Polizei. Als sie aufgefordert wird, einen Ausweis zu zeigen, holt Schwundeck ein Messer aus der Tasche und verletzt einen der Beamten am Unterarm.

Die Polizist*innen weichen mehrere Meter zurück und Schwundeck steht ihnen in einigem Abstand gegenüber. Vor Gericht wird die Schützin angeben, Schwundeck sei in dieser Situation mit dem Messer auf sie zugelaufen – eine Version, die von keiner*m der Zeug*innen geteilt wird, ja noch nicht einmal von ihrem am Arm verletzten Kollegen. Trotzdem übernimmt die Staatsanwaltschaft die Version der Polizistin, die die tödlichen Schüsse abgibt und stellt das Verfahren mit Begründung auf Notwehr ein.

Yaya Diabi: 2016 in Hamburg erhängt (wsl. Suizid)

Mit 1,65 Gramm Gras in der Tasche war Diabi auf St. Pauli erwischt worden.  Bei einer*m Weiße*n wäre das fallengelassen worden, ihm brachte  das einen Monat Untersuchungshaft – mehr als alle Mörder dieser Auflistung zusammen! Da er aus Guineau-Bissau geflohen war, bestünde die Gefahr, dass sich Diabi dem Verfahren entziehe, so der Richter.

Am 19. Februar wurde er erhängt vor dem Gefängnisfenster gefunden. Auch wenn es hier keinen direkten Mordverdacht gibt, zeigen sich die tödlichen Auswirkungen der rassistischen Polizeipraxis, die Geflüchtete wochenlang grundlos wegsperrt. Ein Freund von Diabi fragt: „Was muss passieren, damit ein so fröhlicher Mensch so zur Verzweiflung gebracht wird, dass er sich umbringt?“ Trotz der wochenlangen Freiheitsberaubung, die zu Diabis Tod führte, gab es keinerlei Konsequenzen.

Hussam Fadl: 2016 Berlin erschossen

Am 27. September wird ein Mann aus einer Geflüchteten-Unterkunft in Berlin-Moabit von der Polizei abgeholt. Ihm wird vorgeworfen, die 6-jährige Tochter von Hussam Fadl vergewaltigt zu haben. Als der Beschuldigte bereits im Polizeiauto sitz, läuft der 29-jährige Familienvater Fadl aufgebracht auf das Auto zu, so die Version der Polizei. Vier Schüsse treffen Fadl – von hinten. Wie es dazu kam, ist bis heute nicht geklärt.

Der mutmaßliche Vergewaltiger wäre der Hauptzeuge gewesen, ohne Vernehmung wurde er nach Pakistan abgeschoben. Eine Polizistin gab bei einer ersten Befragung an, weder eine Gefährdungslage noch ein Messer in Fadls Hand erkannt zu haben, wie dies später behauptet wurde. Das Verfahren gegen die Polizist*innen wurde zunächst eingestellt, mittlerweile auf Druck der Familie aber wieder aufgenommen. Die Anwälte werfen Polizei und Staatsanwaltschaft vor, die Aufklärung zu verhindern.

Matiullah Jaberkhil: 2018 in Fulda erschossen

Mit 19 Jahren sollte Jaberkhil abgeschoben werden. Drei Jahre zuvor war er aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Am 13. April steht er vor einer Bäckerei, die kurz vor seinem Eintreffen zu machte. Er rastet aus, wirft Steine auf die Schaufensterscheibe – ein Umstand, den Polizei, Medien, Staatsanwaltschaft und Rechte wie die Identitären, AfD bis CDU seit dem Tag nutzen, um ihn als schweren Gewalttäter zu brandmarken.

Beim Eintreffen der Polizei rennt Jaberkhil weg. Er wird von vier Polizisten verfolgt – sie feuern 12 Schüsse auf ihn ab. Die Staatsanwaltschaft wird behaupten, er habe die Polizist*innen schwer verletzt, ein schmächtiger, unbewaffneter junger Mann gegen vier trainierte Polizist*innen? Das Verfahren gegen die Beamt*innen wird mit Begründung auf Notwehr eingestellt. Warum sie 12 Mal (!) schossen, bleibt unbeantwortet.

Amad Ahmad: 2018 in Kleve verbrannt

1

Foto von ANF News

Ahmad saß unschuldig im Gefängnis. Die Polizei verwechselte ihn mit einem mutmaßlichen Straftäter, der mit Ahmad lediglich das Geburtsdatum und den Status als Asylbewerber gleich hatte. Dieser Fehler fällt der Staatsanwältin auf, die die Polizei darüber informiert. Dennoch bleibt Ahmad weitere sieben Wochen unschuldig in Untersuchungshaft bis zum 17. September. Der Tag, an dem in seiner Zelle Feuer ausbricht. 12 Tage später erliegt er in einer Spezialklinik in Bochum seinen schweren Verletzungen.

Die offizielle Version lautet auf Suizid. Der Notruf aus Ahmads Zelle über die Gegensprechanlage wurde ignoriert, weshalb ein Verfahren gegen einen Arzt wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung läuft. Das Verfahren wegen Freiheitsberaubung gegen die beteiligten Polizist*innen aufgrund der unschuldigen Inhaftierung wurde eingestellt. Wie es zum Brand kam, bleibt vorerst ungeklärt.

Aristeides L.: 2018 in Berlin erstickt

Aristeides L. kam als Tourist aus Griechenland nach Berlin gekommen, um Silvester zu feiern. Am 27. Dezember wird er in einer Bäckerei von der Polizei mithilfe von Pfeffersprayeinsatz überwältigt, nachdem er laut der Polizei dort randalierte. Die Beamt*innen bringen ihn auf eine Wache, dort hätte der offensichtlich unter Drogeneinfluss stehende L. sich gewehrt und um sich geschlagen, sodass die Polizei weiter Pfefferspray einsetzte, bis er zusammenbrach.
Statt einen psychiatrischen Notdienst zu verständigen, versucht die Polizei immer weiter, L. unter Kontrolle zu bringen. Was erst durch Akteneinsicht der Nebenklage bekannt wurde: Unmittelbar nach dem Pfeffersprayeinsatz drücken vier Polizist*innen den Gefangenen in einem Fahrstuhl solange auf den Boden, bis er das Bewusstsein verliert. Im Krankenhaus wird L. ins Koma versetzt, 16 Tage später schalten die Ärzt*innen auf Wunsch der Familie die lebenserhaltenden Maßnahmen ab. Das Verfahren gegen die Polizist*innen wird eingestellt.

Adel B.: 2019 in Essen erschossen

Der 32-jähriger B. ruft am frühen Morgen des 18. Juni bei der Polizei an und droht damit, sich das Leben zu nehmen. Mit einem Messer in der Hand geht er durch seinen Stadtteil, gefolgt von Polizist*innen mit gezückten Waffen. Er geht nach Hause, betritt die Tür zum Mehrfamilienhaus, die Polizei stürmt hinterher und gibt einen Schuss auf seinen Oberkörper ab. B. verblutet vor Ort.

Die Polizei wird später sagen, sie habe aus Notwehr gehandelt. Eine Auffassung, die auch die Staatsanwaltschaft teilt und das Verfahren einstellt. Eine Auffassung, die sich nicht durch ein Handyvideo eines Nachbarn belegen lässt, was die Staatanwaltschaft aber ignoriert.

Robble Warsame: 2019 in Schweinfurt erhängt (wsl. Suizid)

Nach einem Streit am 26. Februar wird der 22-jährige Warsame aus dem Ankerzentrum Schweinfurt in eine Polizeistation gebracht. Zwei Stunden später ist Warsame tot. Seine Verwandten reisen daraufhin nach Schweinfurt, nach einigen Diskussionen wird ihnen der Zutritt zur Zelle gewährt. Ein Verwandter erinnert sich:

„Die Zelle war zwei bis drei Quadratmeter groß. Wir untersuchten alles. Doch es war nicht möglich, in diesem Raum Suizid zu begehen. Außer man schlägt seinen Kopf immer wieder gegen die Wand, oder erwürgt sich mit den eigenen Händen. Es gab kein Material in dem Zimmer … keinen Haken, keine Seile, keine Öffnung, an der man etwas hätte befestigen können.“

Die Polizei spricht davon, dass er sich mit Laken und Bettdecke am Zellengitter stranguliert hätte. Laut gerichtsmedizinischer Untersuchung sind keine Kampfspuren zu finden, auch wenn laut Angehörigen Kratzspuren und Hämatome auf dem Leichnam gewesen seien. Juristisch ist der Fall abgeschlossen, doch politisch stellt sich die Frage: Was müssen für Bedingungen in einem Ankerzentrum herrschen, dass sich ein 22-Jähriger das Leben nimmt?

Aman Alizada: 2019 in Stade erschossen

1

Foto von nds-fluerat

Alizada war mehrere Wochen in stationärer psychiatrischer Behandlung, wurde dann ohne Folgebetreuung entlassen. Ihm drohte die Abschiebung nach Afghanistan. Am 16. August sucht die Polizei den 19-Jährigen in seiner Geflüchteten-Unterkunft auf, weil er sich in einer psychischen Ausnahmesituation befindet. Auch am Tag darauf ruft ein Mitbewohner des Geflüchteten-Heims die Polizei, weil er sich Sorgen um Alizada machte. Dort sei Alizada zunächst nicht ansprechbar gewesen, dann kamen vier Polizist*innen in seine Wohnung.

Später sagen sie aus, dass Alizada mit einer Hantelstange aus Eisen auf sie losgegangen sei. Die Staatsanwaltschaft schreibt in einer Pressemitteilung: „Der Einsatz von Pfefferspray durch mehrere Polizisten zeigte keine Wirkung…Zur Unterbindung des Angriffs“ feuerten die Polizist*innen mehrmals auf Alizada. Wie es genau dazu kam, ist nicht bekannt, lediglich die vier Beamt*innen waren mit ihm in der Wohnung. Ein anderer Nachbar wurde ohne den nötigen Dolmetscher befragt. Der Fall wird nicht tiefergehend untersucht, die Polizist*innen sind alle wieder im Dienst.

Mehr zum Thema