Busfahrerin in Paris: Unsere Interessen sind ganz andere als die der Regierung, auch während Corona

26.03.2020, Lesezeit 9 Min.
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Unsere französische Schwesterzeitung Révolution Permanente interviewte die Pariser Busfahrerin Nadia über ihre Arbeitsbedingungen während der Corona-Krise. Sie stand als Angestellte des staatlichen Betriebs für den öffentlichen Nahverkehr in der Region Paris (RATP) bei den Streiks gegen die Rentenreform an der vordersten Front.

Berichte uns bitte über die Arbeitsbedingungen bei der RATP seit Beginn der Corona-Krise.

Seit die Corona-Krise begonnen hat, wurde nichts Konkretes für die Menschen unternommen. Zehn Tage nach ihrem Ausbruch hat man eine lächerliche kleine Geste gemacht: Wir haben ein Fläschchen Desinfektions-Gel bekommen, das alle zehn Tage aufgefüllt wird. Im selben Atemzug hat man uns aber das Tragen von Handschuhen und Masken untersagt, selbst diejenigen, die sich auf privatem Wege Masken besorgt haben, dürfen sie während der Fahrt nicht benutzen.

Getestet werden wir nicht. Ich kenne Menschen, die befürchten, infiziert zu sein, aber keinerlei Möglichkeit haben sich Gewissheit zu verschaffen. Wie kann die Regierung behaupten, sie würde versuchen die Krise zu bewältigen, wenn nicht einmal flächendeckende Tests gemacht werden? Wenn wir nicht einmal wissen, wer krank ist und wer nicht, um gezielt die Betroffenen isolieren zu können? Denn, mal ehrlich, die jetzigen Beschränkungen sind lächerlich. Man tut so, als ob man sinnvolle Maßnahmen träfe, doch die Katze beißt sich in den Schwanz: Einerseits fordern sie von der Bevölkerung, isoliert zu Hause zu bleiben, andererseits fordern sie von den Arbeiter*innen, wie gewohnt zur Arbeit zu gehen.

Im Nahverkehr haben wir nur noch sehr wenige Fahrgäste, selbst zu den Stoßzeiten ist nur eine Handvoll Leute im Bus. Ich wäre in dieser Woche eigentlich im Dienst, aber ich habe beim Management angerufen, um herauszufinden wer überhaupt noch zur Arbeit geht, denn in Anbetracht der geringen Fahrgastzahlen sollte auch unser Arbeitspensum sinken. In meinen Augen ist der Nahverkehr einer der riskantesten Orte für eine Ansteckung mit dem Virus, aufgrund der Enge und dem geringen Abstand zu Mitmenschen.

Zudem werden die Busse nicht so gereinigt, wie es nötig wäre. Erst Anfang letzter Woche hat man damit begonnen, die Fahrzeuge zu desinfizieren. Ich sehe es mit eigenen Augen, die Busse sind schmutzig, es ist widerlich, die Sitze wurden wahrscheinlich noch nie gesäubert. In meinem Bus war ein junger Mann mit einem Eimer, er hat die Fahrerkabine und den Fahrgastraum mit demselben Tuch und demselben Wasser geputzt – und das Putzmittel war nicht einmal ein Desinfektionsmittel. Darüber hinaus haben wir schon vor einigen Tagen das Risiko kritisiert, dem die Reinigungskräfte ausgesetzt werden. Auch sie haben ihre Tätigkeit ohne Masken oder andere Schutzvorrichtungen ausgeführt.

Neulich teilte man uns von oben mit, dass von nun an die Sauberkeit der Busse kontrolliert wird. Wenn ich das richtig verstehe, bedeutet dies, dass dies erst seit wenigen Tagen überhaupt passiert – es ist also bereits Schaden angerichtet worden.
Die Fahrgäste nutzen den Nahverkehr im Vertrauen darauf, dass die Fahrzeuge gereinigt werden, aber sauber sind sie erst seit kurzer Zeit – das ist unverantwortlich. Man kann also getrost sagen, dass nichts gegen die Ausbreitung des Corona-Virus unternommen wurde.

Ich vertraue dem Management nicht mehr. Die Arbeitskräfte müssen gute Entscheidungen treffen, denn die Regierung wird das nicht für sie tun. Die Arbeiter*innen der PSA (frz. Automobilwerke, Produzent von u.a. Peugeot und Citroën – Anm.d.Übs.) haben von ihrem Recht, der Arbeit fernzubleiben, Gebrauch gemacht, weil sie sich gefährdet sahen – und wurden unter Druck gesetzt, weiterhin Autos zu produzieren. Das ist absurd, insbesondere weil einige Arbeiter*innen sich freiwillig zur Produktion notwendiger Geräte, wie etwa Beatmungsmaschinen, gemeldet haben!

Wenn wir zur Arbeit gehen, sind wir in Gefahr. Wir riskieren es, uns selbst und andere anzustecken. Meine Kinder sind zu Hause, sie halten sich an die Ausgangssperre, doch die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihnen den Virus vom Arbeitsplatz nach Hause mitbringe, liegt bei 9:10.
In einem solchen Fall steht mir ein Verweigerungsrecht zu, das bedeutet, dass ich die Entscheidung treffen darf der Arbeit fern zu bleiben, wenn betriebsinterne oder gesundheitliche Umstände eine Gefahr für mich darstellen.

Als der Staatssekretär für Transport vorschlug, einen Sicherheitsabstand zwischen Fahrer*in und Passagieren einzurichten, indem die Vordertür geschlossen bleibt und die Fahrgäste hinten einsteigen, lehnte die RATP dies ab. Wir selbst fordern seit einigen Tagen die Umsetzung dieser Maßnahme, doch die RATP bleibt bei ihrer Position: „Ihr habt ein Schutzglas, das sollte euch reichen, öffnet die Vordertüren!“, das sagen sie uns immer wieder.

Eine meiner Kolleginnen hat von sich aus begonnen, die Leute nur noch hinten einsteigen zu lassen. Ich wiederum habe bei den Vorgesetzten angerufen. Ich habe ihnen gesagt, wie verantwortungslos es ist, diese Maßnahme nicht umzusetzen, und dass ich es genau so machen werde, wie meine Kollegin. Am nächsten Tag erhielten wir schließlich einen Brief vom Management mit der Erlaubnis, die Passagiere durch die Hintertür einsteigen zu lassen.

Sie wollen wirtschaftliche Verluste gering halten, ob sie uns dafür in Lebensgefahr bringen spielt für sie keine Rolle! Jetzt wird es klar und deutlich: Sie übernehmen keinerlei Verantwortung.
Die RATP hält sich peinlich genau an die Anweisungen der Regierung, selbst wenn sie riskant sind. Wenn Macron morgen beschließen würde, dass wir weiter zur Arbeit gehen müssen, wird die RATP das umsetzen – selbst wenn es Tausende Tote bedeuten würde. Das Einzige, das wir tun können, ist diese Behandlung nicht mehr länger hinzunehmen. Die Menschen müssen Mut fassen und kämpfen, um die Kontrolle über die Situation zu übernehmen.

Du sagtest, dass die öffentlichen Verkehrsmittel nur noch selten genutzt werden, selbst zu Hauptverkehrszeiten sind sehr wenige Menschen unterwegs. Wie findest du die Idee eines von den Beschäftigten überarbeiteten Fahrplans, mit an die Situation angepassten Routen und Arbeitszeiten?

Ja, das wäre schön. Es bringt nichts, weiterhin so viele Busse fahren zu lassen, auch aus ökologischer Sicht, obschon das Unternehmen Umweltschutzkampagnen in seinem Namen durchführt. Wenn die Menschen wirklich zu Hause bleiben dürften, würden sie ohnehin nur noch für Einkäufe in ihrer Nachbarschaft raus gehen und müssten den öffentlichen Nahverkehr gar nicht erst benutzen.
Man könnte, bedarfsgerecht, Shuttles fahren lassen, um den Menschen ein Mindestmaß an Mobilität zu ermöglichen.

Die RATP wird pro Kilometer bezahlt. Sie haben einige Linien still gelegt, lassen die Busse aber weiterfahren, um ja kein Geld zu verlieren. Sie lassen die Fahrgäste in schmutzige, nicht desinfizierte Busse steigen, zu Fahrer*innen, denen keine Mittel zum Selbstschutz gestellt werden, sie geben dem Virus beste Verbreitungschancen, all das nur für ihre wirtschaftlichen Zwecke. Und dann werden Bußgelder auf der Straße verhängt, das ist unsinnig. Die Menschen müssen sich jetzt erheben, aktiv werden und widersprechen! Als mein Desinfektions-Gel alle war, ging ich zu den Vorgesetzten und stellte klar, dass ich nicht weiter fahre, bis ich Nachschub bekomme. Jetzt weiß ich ja, dass sie mittlerweile verpflichtet sind, die Hygienevorschriften zu kontrollieren.

Außerdem habe ich neulich von einer neuen Verordnung gehört, die es ermöglichen soll, Arbeitskräfte auch an ihren Urlaubstagen zur Arbeit kommen zu lassen. Sie wollen, dass wir selbst an unseren freien Tagen arbeiten! Für mich steht das außer Frage. Wir sprechen von Gefahren für Leib, Leben und die öffentliche Gesundheitsvorsorge. Was die da oben machen, wird Menschen das Leben kosten. Es reicht! Wir müssen uns organisieren und Widerstand leisten. Sie sind nur einige Wenige – wir aber, die Arbeitskräfte, sind Millionen!

Und wie ist es so zu Hause?

Meine Kinder sind sich des Risikos und des Ausmaßes der Pandemie bewusst. Sie widmen sich, so gut sie können, dem Unterricht. Das Bildungsministerium unter Jean-Michel Blanquer ist nicht bereit, Fernunterricht anzubieten, daher sind die Schüler*innen gezwungen, sich in Eigenständigkeit und Motivation zu üben, um mit dieser Situation fertig zu werden. In Zeiten wie diesen sind die jungen Leute auf sich allein gestellt und müssen selbst Lösungen finden – genau wie wir Arbeiter*innen.

Du sagst, es sei Sache der Arbeiter*innen, die Kontrolle in der Krise zu übernehmen. Kannst du das etwas weiter ausführen?

Entweder fügt man sich den skandalösen Anweisungen der Regierung und der Bosse, und gefährdet damit das eigene Leben und das seiner Mitmenschen, oder man organisiert sich. Wir müssen an unsere Entschlossenheit und unsere Macht glauben.

Auf dem Betriebshof organisieren und koordinieren wir uns systematisch, wir helfen einander und halten uns gegenseitig auf dem Laufenden, und wenn nötig nutzen wir unsere Ellenbogen um uns zu verteidigen. Wir Arbeitskräfte müssen uns auf uns gegenseitig stützen können, es liegt an uns. Es ist wie beim Streik [gegen die Rentenreform], wenn wir uns gemeinsam in Bewegung versetzen und uns organisieren, funktioniert es auch – wenn nicht, dann nicht.

Unsere Interessen sind ganz andere als die der Regierung. Die Bosse und die Politiker*innen sind nicht um unser Wohl bemüht, sondern um das ihrer Konten, um ihren Profit. Es wird immer wieder deutlich, ob während des Streiks oder jetzt, in der Krise: Auf der einen Seite stehen die Arbeiter*innen und auf der anderen die Bosse, die Menschen müssen das endlich verstehen. Es geht um unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Arbeitsbedingungen. Es liegt an uns, uns zu nehmen, was man uns nicht freiwillig geben wird.

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