Asylstreit: Merkels Gefecht um Europa

20.06.2018, Lesezeit 7 Min.
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12.06.2018, Berlin: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (M, CSU), Bundesminister für Inneres, Heimat und Bau unterhalten sich Beginn der CDU/CSU-Fraktionssitzung im Bundestag. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Im Streit um die Zurückweisung von Geflüchteten an den deutschen Grenzen tastet Seehofer an der Belastungsgrenze der Koalition. Nach dem Motto "Deutschland zuerst" konfrontiert er Merkels EU-Politik. Nun muss sie um eine neue europäische Verständigung kämpfen.

Als Bundesinnenminister macht Horst Seehofer das, was er schon zuvor als bayerischer Ministerpräsident so gerne gemacht hat: die Autorität von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Frage stellen. In Erinnerung blieb, wie er im November 2015 in der Hochphase der Ankunft Hunderttausender Geflüchteter in Deutschland auf dem CSU-Parteitag Angela Merkel vorführte: Minutenlang hielt er ihr auf der großen Bühne ihre „Politik der offenen Grenzen“ vor, während sie ohnmächtig daneben stand. Es sollte der Auftakt einer Reihe nicht enden wollender Sticheleien aus München werden. Die Drohung einer Klage wegen Merkels Asylpolitik ließ Seehofer tatenlos verstreichen – was ihm viel Kritik von rechten Hardlinern brachte, die ihn für inkonsequent hielten.

Den Vorwurf voreiliger Rückzieher wollte sich Seehofer nicht nochmal gefallen lassen. Nun, zweieinhalb Jahre später ist der bayerische Provinzfürst zum Herren über die inneren Belange der Bundesrepublik aufgestiegen. Die Bedingung, die er stellte, um gnädigerweise an einer Koalition teilzunehmen, war eine Obergrenze von 200.000 Geflüchteten. Dieser Wunsch war ihm Befehl. Mit seiner Speerspitze Bayern, wo sein Kettenhund Markus Söder als Ministerpräsident durchgreift, führt Seehofer immer neue Angriffe auf Geflüchtete durch.

Bisher konnte Merkel ihn weitgehend gewähren lassen. Ein paar Spitzen wies sie zurück, wie die Aussage Seehofers, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Aber im Großen und Ganzen kann auch sie mit einer rigorosen Abschiebepolitik gut leben. Sie hat erreicht, was sie wollte: Den Zuzug einiger hunderttausend, insbesondere syrischer Geflüchteter, die als Reservearmee zu Niedrigstlöhnen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Eine darüber hinausgehende Integration von Geflüchteten – da sind sich Merkel und Seehofer einig – ist nicht im Interesse der deutschen Bourgeoisie. Mit dem EU-Türkei-Deal wurde die Zuwanderung gestoppt. 2015 beantragten 890.000 Menschen in Deutschland Asyl. 2017 waren es lediglich 187.000.

Seehofers Pläne konfrontieren Merkels EU-Politik

Trotz der sinkenden Zahlen droht Seehofer nun, Geflüchtete bereits an der deutschen Grenze zurückzuweisen. Dabei beruft er sich auf die Dublin III-Gesetzgebung, die besagt, dass ein Asyl-Antrag in dem EU-Land gestellt werden muss, das zuerst betreten wurde. Eine Auslegung, die – konsequent angewandt – bedeuten würde, dass Hunderttausende Geflüchtete vor allem in die Mittelmeerstaaten wie Italien und Griechenland abgeschoben würden. Eine Politik, die eine europäische Verständigung in der Geflüchtetenfrage deutlich erschweren würde. Merkel hatte sich hingegen seit längerem für eine Quotenregelung eingesetzt, bei der Geflüchtete auf die Länder der EU verteilt würden.

Gegenwind kam insbesondere aus den osteuropäischen Staaten mit rechten Regierungen, wie der von Viktor Orbán in Ungarn – der seit einiger Zeit zu einem der Lieblinge der bayerischen CSU-Granden aufgestiegen ist. Auch mit dem österreichischen Nachbarn ist Seehofer bereits auf Verständigungskurs gegangen. Der dortige Bundeskanzler Sebastian Kurz forderte eine „Achse der Willigen“ im Kampf gegen „illegale Migration“, die auch bis in die neue Rechtsaußen-Regierung in Rom reichen könnte. Mit dem neuen Innenminister Matteo Salvini hatte Seehofer bereits eine Verständigung über Fragen der Sicherheit, Zuwanderung und des Terrorismus angesprochen.

Zu dieser Parallel-Diplomatie, die Mekel nicht besonders gefallen dürfte, gab auch Markus Söder einen Kommentar ab, der in seiner ganzen Tragweite einen grundlegenden Paradigmenwechsel der deutschen Europapolitik bedeuten würde: Die „Zeit des geordneten Multilateralismus“ sei vorbei und werde „etwas abgelöst von Einzelländern, die auch Entscheidungen treffen“. Zu Ende gedacht würde dies eine ganz andere EU-Politik bedeuten. Während Merkel stets darauf setzte, in langen Verhandlungen möglichst viele der anderen EU-Staaten um die deutsche Position zu scharen, würde Söders Herangehensweise bedeuten, dass Deutschland zumindest in einigen Fällen eigenständig Fakten schaffen könnte. Seehofers Vorstoß, Geflüchtete an der Grenze einseitig abweisen zu wollen, ist deswegen so heikel für Merkel, weil er ihr grundlegendes Konzept der Verhandlungen in Frage stellen würde.

Merkels Problem ist nicht per se die Abweisung von Geflüchteten, sondern ein deutscher Alleingang, der tiefgreifende Fragen der Zukunft der EU mitschwingen lässt. Sogleich bemühte sie sich, die Diskussion auf die europäische Ebene zu verlegen. So kam es zum Ultimatum Seehofers, der Merkel noch bis zum EU-Gipfel Ende Juni Zeit lassen will, eine Lösung zu präsentieren – andernfalls droht er sogar im Alleingang die Anweisung zu geben, Geflüchtete zurückzuweisen. Ein Affront, den Merkel unmöglich stehen lassen könnte.

Ein Rauswurf Seehofers wäre vermutlich das Ende der Koalition. Auch wenn Seehofer bis zu einem gewissen Grade blufft, so weiß Merkel doch, dass er ein Entgegenkommen braucht, um sein Gesicht zu wahren. In der heiklen Phase vor den bayerischen Landtagswahlen hat er sich sehr weit vorgewagt, ja fast die Machtfrage gestellt. Ein kampfloser Rückzieher kann für ihn nicht in Frage kommen.

Merkels Antwort: Verhandlungen in Europa

Merkel weiß zu gut, dass Seehofer mit seinen Taktierereien und Spielchen für unliebsame Überraschungen gut ist. Um es gar nicht so weit kommen zu lassen, verhandelt Merkel nun mit den Regierungschefs anderer europäischer Staaten. Der italienische Premier Giuseppe Conte und der französische Präsident Emmanuel Macron waren bereits bei ihr zur Visite in Meseberg. Macron, der seit seinem Amtsantritt auf eine Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen drängt, sieht seine Stunde nun gekommen. Im Austausch für eine Zusammenarbeit in der Migrationsfrage vereinbarten Merkel und Macron ein europäisches Investitionsbudget. Ein Schritt, dem Deutschland lange Zeit skeptisch gegenüber stand. Zudem verständigten sie sich auf eine weitere Verstärkung der EU-Außengrenzen und eine Wiedereinführung der Dublin-Verordnung. Macron kündigte an, Geflüchtete, die in Frankreich registriert sind, so bald wie möglich wieder aufzunehmen.

Damit steht ein möglicher Ausweg aus der Regierungskrise in Sicht: In bilateralen Gesprächen und schließlich auf dem EU-Gipfel werden neue Vereinbarungen zur Verteilung von Geflüchteten ausgehandelt. Gewiss werden diese Verhandlungen heikel, wie zum Beispiel mit Ungarn. Aber sie werden dadurch möglich, dass Merkel und Seehofer eben nicht prinzipiell unterschiedliche Vorstellungen vom Umgang mit Geflüchteten haben. Was sich dennoch in dem Streit offenbart ist, wie leicht die offene Frage der deutschen Rolle in der EU eine Regierungskrise auslösen kann.

Im internationalen Maßstab von Trump unter Druck gesetzt, der den Multilateralismus für beendet erklärt und Handelskriege entfacht, sucht der deutsche Imperialismus noch immer nach einer klaren strategischen Linie. Eine tiefergehende finanzpolitische Verständigung mit Frankreich lehnte Merkel lange Zeit ab, weil damit auch Konzessionen an den Partner verbunden wären. Doch die inneren und äußeren Spannungen machen es für Deutschland notwendig, die politische Einigkeit der EU unter deutsch-französischer Führung zu stärken. Andernfalls kann Merkel ihre Position weder gegen Seehofer noch gegen Trump halten.

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