Assad gestürzt: Der Machtwechsel in Syrien

08.12.2024, Lesezeit 10 Min.
1
Syrische Milizen übernehmen die Kontrolle über die Zitadelle von Aleppo. Foto: Mohammad Bash / Shutterstock.com

Die Regierungszeit von Bashar al-Assad in Syrien ist vorbei. Die HTS-Milizen haben in kurzer Zeit die Macht erobert und kündigen den Wiederaufbau Syriens an. Was passiert nun?

In der Nacht auf Sonntag hat Bashar al-Assad die syrische Hauptstadt Damaskus verlassen. Die HTS-Milizen gaben an, die Hauptstadt erreicht zu haben, ohne auf Widerstand der Armee zu stoßen. Regierungschef Mohammad Ghazi al-Jalali erklärte sich bereit, die Machtübergabe umgehend in die Wege zu leiten. Somit endet eine Ära in Syrien, die ursprünglich im Jahr 1970 durch den Militärputsch von Hafez al-Assad (dem Vater von Bashar al-Assad) eingeleitet wurde. 

Die Unterstützung für Assad blieb diesmal aus

Die Militäroffensive der Milizen von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) am 26. November hat Assad kalt erwischt. Begonnen im Nordwesten Syriens, konnten die Milizen ohne große Verluste in weniger als zwei Wochen mehrere Städte erobern und letztlich in Damaskus eindringen. Wie gelang es den Milizen, die Macht in kurzer Zeit an sich zu reißen? Schließlich war Assad als derjenige bekannt, der sich trotz des Bürgerkriegs behauptet hat. Anders als Gaddafi in Libyen, Ben Ali in Tunesien oder Mubarak in Ägypten konnte er seine Macht verteidigen, nachdem der sogenannte arabische Frühling im Jahr 2011 ausbrach. Was hat sich verändert, dass er heute kampflos kapituliert hat?

Der erste und wahrscheinlich wichtigste Grund dafür liegt in den Bedingungen, unter denen Assad seine Macht verteidigte. Letztlich errang er nur einen Pyrrhussieg: Die Kosten waren so hoch, dass der Sieg ihm letztlich keinen echten Vorteil verschaffte. Er wurde damals zwar nicht aus Damaskus vertrieben, dafür verlor er die Kontrolle über mehrere Territorien Syriens. Das bedeutete auch den Verlust von Ölfeldern, die vor dem Bürgerkrieg 25 Prozent der Staatseinnahmen ausmachten. Laut den Angaben des syrischen Außenministeriums blieben nur 20 Prozent der Ölförderung in seinen Händen. Dazu kommen noch die wirtschaftlichen Sanktionen, die Flucht von Millionen Arbeitskräften und die Zerstörung der Infrastruktur, die einen Wiederaufbau Syriens verhindert haben. Unter diesen Bedingungen gelang es ihm nicht, sein Regime zu rehabilitieren. Dass die Menschenmenge Assads Kapitulation auf den Straßen bejubelt, zeigt auch, dass Assad seine Macht hauptsächlich durch militärische und polizeiliche Maßnahmen verteidigen und sich nicht auf eine soziale Basis stützen konnte. 

Der zweite Grund ist der Zustand der Verbündeten Assads. Als Russland im Jahr 2015 mit der Luftwaffe an der Seite Assads in den Bürgerkrieg eingriff und ihm dadurch strategische Vorteile verschaffte, gab es keinen Krieg in der Ukraine. Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 musste Russland jedoch einen Großteil seiner Militärressourcen umleiten. Russlands Fähigkeit, Assad zu unterstützen, ist aufgrund des Kriegs in der Ukraine stark eingeschränkt, da ein großer Teil der Luftstreitkräfte dort eingesetzt ist. Es wäre für Putin nicht von Vorteil, sich an einem aussichtslosen Krieg zu beteiligen, da selbst Assads eigene Soldaten von den Frontlinien flohen.

Auch das iranische Regime, ein langjähriger Verbündeter Assads, ist in den letzten Jahren stark geschwächt worden. Der Iran leidet unter erheblichen wirtschaftlichen Problemen, die durch internationale Sanktionen verschärft wurden. Die internen Herausforderungen des Mullah-Regimes beeinträchtigten seine Fähigkeit, Assad mit der gleichen Intensität zu unterstützen wie früher. Das Regime geht von einer internen Krise in die nächste. Seit 2019 hat der Iran wiederholt mit landesweiten Protesten und Unruhen zu kämpfen, die sich sowohl gegen die wirtschaftlichen Bedingungen als auch gegen die politische Führung richten. Außerdem haben die Unterstützung der Ansar-Allah-Rebellen (Huthi) im Jemen und die Konfrontationen mit der von Saudi-Arabien geführten Koalition den Iran in einen langwierigen, kostspieligen Konflikt verwickelt. Das Mullah-Regime im Iran hatte daher weder die ökonomische noch die politische Stabilität, um an mehreren Fronten zu kämpfen und Assads Niederlage zu stoppen. Dasselbe gilt auch für die Hisbollah im Libanon, die durch den Konflikt mit Israel im Zuge des Gazakriegs erheblich geschwächt wurde. Sie hat in den letzten Monaten einen Teil ihrer Kräfte verlagert, um der israelischen Offensive im Südlibanon entgegenzutreten. Die HTS hat Assads Fragilität genutzt, um ihn zu besiegen.

Wofür steht die HTS?

Mohammed al-Julani, der Anführer der HTS, beabsichtigt den Aufbau einer islamischen Republik in Syrien und präsentiert sich bisher als moderat und pragmatisch. Julani sammelte erste Erfahrungen für al-Qaida im Irak im Kampf gegen die US-Besatzung. Während des syrischen Bürgerkriegs kehrte er in sein Heimatland zurück und leitete den syrischen Ableger, der damals noch den Namen Al Nusra trug. Später brach er seine Verbindungen zu al-Qaida ab und seine Organisation entwickelte sich Anfang 2017 zu Hay’at Tahrir al-Sham. Die HTS ist als ein Bündnis von mehreren Gruppen entstanden, die nach der Rückeroberung von Aleppo durch Assad nach Idlib flohen. Sie kontrollierte die Provinz Idlib seit 2017 und verwaltete den öffentlichen Dienst, die Bildung, die Gesundheitsversorgung, das Justizwesen, die Infrastruktur sowie die Finanzen. Die HTS arbeitet mit anderen bewaffneten Oppositionsgruppen wie Harakat Nour al-Din al-Zenki, Liwa al-Haqq und Jaysh al-Sunna zusammenarbeiten und meidet frühere Verbündete wie Hurras al-Din, den neuen Al-Qaida-Ableger in Syrien. Die HTS war in Interessenkonflikte mit dem IS und der Freien Syrischen Armee (FSA) verwickelt, da sie sich nicht unterordnen, sondern über sie herrschen wollte. Auch die fundamentalistische Absicht des IS, ein Kalifat zu errichten, lehnte sie ab. Mit der Militäroffensive Ende November hat die HTS allerdings die FSA auf ihre Seite ziehen können.

Julani betonte im Interview mit CNN, dass es seiner Organisation nicht um den Religionskrieg gehe, sondern die Befreiung Syriens durch den Sturz von Assad und die Säuberung von Iran und Hisbollah. Er versicherte, dass religiöse und ethnische Minderheiten geschützt würden. Julani beklagt, dass die HTS für die USA, die Türkei, die Vereinten Nationen und mehrere andere westliche Staaten weiterhin als Terrororganisation gilt, obwohl die Gruppe sich vorgenommen hätte, sich von ihren Wurzeln zu distanzieren. 

Die Türkei ist bisher indirekt an der Militäroffensive durch Rebellengruppen beteiligt, die unter dem Banner der Syrischen Nationalarmee (SNA) versammelt sind. Auch wenn sie die politische Nähe zu HTS abstreitet, unterstützte sie den Sturz von Assad, um ihren Einfluss in Nordsyrien zu vergrößern. Besonders im Sommer gab es die Option eines Paradigmenwechsels von Erdoğan, durch die Wiederaufnahme der Gespräche mit Assad die Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus zu normalisieren. Doch es kam nicht zu Gesprächen, weil dafür die Bedingungen nicht gegeben waren. Die Türkei war nicht bereit, ihre Truppen zurückzuziehen und die Unterstützung für die Rebellen zu beenden. Für sie war die Normalisierung mit Assad keine vorteilhafte Option, da er und seine Verbündeten in der Region nur Schwäche zeigten, woraus ein Machtvakuum entstanden ist. Der Sturz von Assad bietet der Türkei die Gelegenheit, ihren Einfluss in Syrien und der Region zu stärken.

Die HTS steht vor der Herausforderung, die Einheit im Krieg gegen Assad nach dessen Sturz beizubehalten. Denn die taktische Einigung gegen den Hauptfeind stellte viele programmatische und ideologische Fragen hintan, die nun an die Oberfläche kommen werden. Wie wird die künftige Regierung aussehen? Wie werden die Ämter verteilt? Welches Gesetz wird verabschiedet? Wie werden die regionalen und internationalen Beziehungen aussehen? Es ist wahrscheinlich, dass Interessenkonflikte zwischen Fraktionen der HTS entstehen werden. Die HTS war bisher anfällig für Kontrolle durch das Ausland, um sein Hauptziel zu erreichen. Angesichts der ökonomischen Schwäche des Landes und der US-Kontrolle der Ölreserven wird diese Abhängigkeit vertieft.

Noch keine Befreiung

Diejenigen politischen Strömungen, die unter dem Label des „Antiimperialismus“ zu Assad standen, werden seinen Sturz betrauern. Das bonapartistische Regime der Baath-Partei stützte sich in dem industriell rückständigen Land auf das Militär und die Geheimdienste. Im Interesse der nationalen Bourgeoisie wurden die Arbeiter:innenorganisationen unter Kontrolle des Staates gebracht und die Kommunistische Partei vereinnahmt, welche die Massenmobilisierungen von 2011 als imperialistische Verschwörung ablehnte. Schon vor dem Bürgerkrieg gab es gesetzliche Beschränkungen des Rechts auf gewerkschaftliche Organisation und die Abhängigkeit der Allgemeiner Verband der Arbeitergewerkschaften (GFTUW) von der Baath-Partei sowie das Verbot von Streiks. Dies spiegelte die aggressive bürgerliche Politik gegenüber den Arbeiter:innen in Syrien wider. Die Unterdrückung der kurdischen Nation hat sich während der Diktatur von Baschar Al-Assad verschärft. Die Assad-Diktatur zu verteidigen war meilenweit von einem tatsächlichen Antiimperialismus entfernt. 

Wir verstehen die Freude der syrischen Arbeiter:innen, Jugendlichen und Geflüchteten, weil sie den Sturz von al-Assad mit der Hoffnung verbinden, nach Syrien zurückzukehren und die Befreiung zu genießen. Doch leider teilen wir diese Erwartung nicht, weil der Sturz von Assad nicht das Ergebnis einer unabhängigen Mobilisierung des syrischen Volkes ist. Vielmehr geht es darum, dass der Machtwechsel zwischen reaktionären Lagern stattgefunden hat, wo die Arbeiter:innen keine protagonistische Rolle eingenommen haben. Es gibt keine Möglichkeit der Befreiung des Landes unter der Führung von HTS und der Einflussnahme von USA, Israel und der Türkei. Schon während der Militäroffensive erschienen in sozialen Medien zahlreiche Beweise für Kriegsverbrechen seitens der Milizen, die nicht mit der Machtübernahme enden werden. Die Berichte aus Idlib unter der HTS zeigen auch, dass die Führung dort mit eiserner Faust regierte und keine Opposition duldete. 

Mazlum Abdi, Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), erklärt sich kooperationsbereit und spricht von einem historischen Moment der „Chance, ein neues Syrien aufzubauen, das auf Demokratie und Gerechtigkeit basiert und die Rechte aller Syrer garantiert“. Die kurdische Führung hat bisher manövriert, um die Verwaltung von Rojava, der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, zu schützen. Nun entwickelt sie eine neue Taktik. Wie eine islamische Republik die Interessen der kurdischen, christlichen und alevitischen Bevölkerungen gewährleisten kann, bleibt allerdings fraglich. Das islamistische Regime wird Rojava unter Kontrolle bringen wollen, was das Selbstbestimmungsrecht der Kurd:innen und ihre bisherigen Errungenschaften zu zerstören droht. Die pragmatischen Taktiken werden den Kurd:innen zwar eine Atempause verschaffen. Eine langfristige Lösung sind sie nicht. 

Assads Sturz gibt den syrischen Geflüchteten die Hoffnung, in ihre Heimat zurückzukehren und beim Wiederaufbau mitzuwirken. Auch die Menschen in Syrien teilen diese Hoffnung. Doch es wäre ein großer Fehler, die drohende Gefahr durch den Machtwechsel zu relativieren. Die Massen fühlen das Ende der Assad-Diktatur als eine Befreiung. Daran muss angeknüpft werden, um eine politische Kraft zu schaffen, die eine wirkliche Befreiung durchsetzen kann. Im Iran haben damals die Massen den Fehler gemacht, die Macht den Mullahs zu übergeben, als sie den Schah gestürzt haben. Die Folge war die Konterrevolution, deren Auswirkungen die Massen bis heute beschäftigen. Während die Diktaturen in der Region schwach sind und regionale Kriegstendenzen zunehmen, müssen die Arbeiter:innen in Unterstützung mit Bäuer:innen, Jugendlichen und Frauen eine unabhängige Front der sozialen Befreiung aufbauen, um ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass die Massen in Syrien anfangs für Freiheit und Brot auf die Straßen gegangen sind. Viele der Forderungen der Massen sind im Zuge des reaktionären Stellvertreterkriegs untergegangen. Einen progressiven Ausgang des Konflikts kann es nur geben, wenn eine revolutionäre Kraft entsteht, die diese Forderungen wieder aufgreift und die Fehler des arabischen Frühlings nicht wiederholt. 

Die Arbeiter:innen und Bauern müssen dafür kämpfen, dass nicht ausländische Mächte oder eine neue korrupte Cliquen an der Regierung sich des Privateigentums an den Produktionsmitteln bemächtigen. Es braucht ein ökonomisches Programm, um das Land mit einer rätebasierten Planwirtschaft wieder aufzubauen, die den Boden aufteilt und die Fabriken und besonders die Erdölfelder unter Kontrolle der Arbeiter:innen stellt. Ansonsten wird eine neue Diktatur mit einer Vetternwirtschaft der neuen Machthaber folgen.

Die Bedingung für die Befreiung ist es, den Einfluss des Imperialismus aus der Region zu drängen. Zahlreiche ausländische Mächte werden versuchen, sich die ungewisse Übergangsphase zunutze zu machen und Einfluss zu gewinnen. Ein neues Regime unter Führung der HTS wäre stark von der Türkei und den USA abhängig. USA und Israel könnten sich ermutigt fühlen, nun auch stärker gegen den Iran vorzugehen. Die Massen müssen sich selbst organisieren und unabhängig für eine sozialistische Perspektive kämpfen. Es braucht Rätestrukturen, die Brot, Arbeit und Wohnungen für alle organisieren können. Es braucht die Enteignung der Banken und das Monopol auf den Außenhandel statt Abhängigkeit von Weltbank und IWF. Um das zu erkämpfen, wird es auch nötig sein, sich der HTS zu entledigen.

Mehr zum Thema