„Asla yalnız yürümeyeceksin!“: Doppelter Femizid in der Türkei
Ein doppelter Femizid sorgt in der Türkei für vermehrte Proteste – und macht die steigende Zahl an Femiziden und ihrer Brutalität besonders deutlich. Wie sich diese Brutalität zeigt, welche Schuld die Politik trägt und was wir dagegen tun können, erklären wir in diesem Artikel.
„Du wirst niemals alleine gehen“ skandierten die Massen in den letzten Tagen auf den Straßen Istanbuls und nachfolgend auch in anderen türkischen Städten wie İzmir, Mersin, Gaziantep oder Diyarbakır. Den Protesten ging ein sexistisch motivierter Doppelmord voraus.
Am Nachmittag des 4. Oktober fanden zwei Femizide mitten in Istanbul statt, mit einem zeitlichen Abstand von nur dreißig Minuten. Der neunzehnjährige Semih Çelik ermordete um 15:30 Uhr erst die ebenfalls neunzehnjährige Ayşenur Halil und gerade einmal eine halbe Stunde später die gleichaltrige İkbal Uzuner. Die beiden jungen Frauen wurden am helllichten Tag auf brutalste Weise verstümmelt und enthauptet – kurz darauf tötete sich der Täter selbst.
Er hatte in der Vergangenheit Beziehungen zu beiden Opfern und sprach İkbal Uzuner gegenüber bereits eine Morddrohung aus, die allerdings von den Behörden nicht ernst genommen wurde. Bei der Durchsuchung seines Zimmers nach der Tat wurden Zeichnungen von verstümmelten Frauenkörpern gefunden, die darauf schließen lassen, dass die Tat Çeliks lang geplant war. An den folgenden Tagen demonstrierten Frauen auf der Straße und an verschiedenen Universitäten wie der Boğaziçi-Universität, der Istanbul Universität und an der Medipol-Universität. An der Boğaziçi-Universität eskalierte der Protest, da die Polizei die Demonstrant:innen im Universitätsgebäude verbarrikadierte und sie daran hindern wollte, ihren Protest offen auszutragen.
Gefährlicher Antifeminismus in der Türkei
Der verbreitete Antifeminismus in der Türkei nimmt bedrohliche Ausmaße an. Alleine im letzten Jahr wurden dort insgesamt 403 Frauen ermordet. Dieses Jahr wurden bereits 296 Femizide begangen, 184 Frauen sind auf angeblich „ungeklärte Weise“ gestorben. Alleine am 27. Februar dieses Jahres wurden in der Türkei sieben Femizide verübt, das ist der höchste Wert für einen einzelnen Tag. Die Täter sind meist (Ex-)Partner der Frauen oder ihnen nahestehende Männer, wie auch in dem Fall von Ayşenur Halil und İkbal Uzuner.
Es fällt auf, dass die Anzahl der Femizide immer weiter steigt und auch die Art und Weise, wie Frauen ermordet werden, immer brutaler wird. Ein Beispiel hierfür ist auch der Mord an Emine Bulut, der 2019 am hellichten Tag in einem Café vor ihrer zehnjährigen Tochter die Kehle von ihrem Ehemann aufgeschlitzt wurde. Sowohl die Opfer von sexualisierter Gewalt, als auch die Täter werden immer jünger. Wie der Fall Narin im August erneut bewiesen hat, sind nicht einmal Opfer im Kindesalter ausgenommen von sexualisierter Gewalt und ruchlosem Mord – ihr Körper wurde tot und missbraucht an einem Flussufer gefunden, acht Tage nach ihrem Verschwinden.
Erdoğan sagte damals zum Austritt aus der Istanbul-Konvention einem Nachrichtensender gegenüber, dass „sexualisierte Gewalt im Islam sowieso verboten sei“ und man deshalb die Konvention nicht brauche. Dabei ist es exakt seine islamisch-konservative Partei, die AKP, die ein Land regiert, in dem seit Jahrzehnten durchschnittlich jeden Tag (!) mindestens ein Femizid passiert. Seine Parteipolitik ist es, die die Grundsteine für patriarchale und sexualisierte Gewalt erst legt. Diese Regierung schafft die materiellen Hauptursachen für Missbrauch, Vergewaltigung und Femizide.
Was sind materielle Ursachen und wie wirken sie sich auf sexualisierte Gewalt und Femizide aus?
Die Bevölkerung in der Türkei lebt mehrheitlich an der Hunger- und Armutsgrenze, die Situation hat sich besonders in den letzten Jahren unter anderem auch durch die immer weiter steigende Inflation verschärft. Die Arbeitsbedingungen sind hart, es gibt kaum Kündigungsschutz und der Mindestlohn ist sehr niedrig. Die Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan (AKP) verteidigt außerdem eine sehr traditionelle Familienpolitik. Frauen erledigen deshalb oft die unbezahlte Care-Arbeit und sind für die Kindererziehung zuständig, müssen gleichzeitig aber auch in vielen Fällen noch arbeiten gehen, da das Geld vorne und hinten nicht ausreicht.
Diese Umstände begünstigen sexualisierte Gewalt zu einem Ausmaß, in dem sie unkontrolliert stattfinden kann, größtenteils im Verborgenen, aber mittlerweile sogar auch auf offener Straße. Frauen, die sich in traditionellen Familienrollen wiederfinden und Care-Arbeit und Kindererziehung verrichten, sind oft zuhause in den vier Wänden auf sich alleine gestellt. Sie können meist wegen fehlender Zeit nicht zusätzlich arbeiten gehen, was sie finanziell abhängig von ihrem Partner macht. Das ist nicht zwangsläufig ein Grund für häusliche Gewalt – aber eine gewaltige Begünstigung für sie.
Auch sorgt die Tatsache, dass der Mindestlohn in der Türkei unter der Armutsgrenze liegt, dafür, dass Frauen, selbst wenn sie selbst arbeiten gehen, weiterhin abhängig von einer weiteren Einkommensquelle bleiben. In einer vierköpfigen Familie müssten drei von ihnen für den Mindestlohn arbeiten, damit sie nicht unter der Armutsgrenze leben müssen. Und auch das ist nicht garantiert: Die Arbeitsbedingungen in der Türkei sind immer noch in den meisten Betrieben so miserabel, dass man trotz langjähriger Anstellung jederzeit gekündigt werden kann oder sich wegen fehlendem Arbeitssicherheitsschutz schneller lebensbedrohlich verletzt – was wiederum dazu führt, dass man nicht mehr arbeiten kann und abhängig von Partner:innen und Familie wird. Eine ausreichende Sozial- oder Krankenversicherung gibt es nicht.
Dazu kommen massive Repressionen, die vor allem Frauen bei Protesten erfahren. In der Türkei sind Demonstrationen generell verboten – in Ausnahmefällen wie dem 8. März oder 1. Mai werden sie zwar genehmigt, aber stehen unter strengster Kontrolle durch die Polizei und Gendarmerie. Vor allem feministische Proteste für Queer- und Frauenrechte werden oft gewaltvoll niedergeschlagen. Grund dafür ist eine zutiefst antifeministische Politik, die sowohl sexualisierte und häusliche, als auch staatliche Gewalt gegen Frauen und Queers begünstigt und selbst erzeugt.
Die Folgen sind schwerwiegend: Gewalt an Frauen wird von Regierung und Justiz nicht ernst genommen, Gewalttäter werden schnell wieder freigesprochen und einstweilige Verfügungen nicht umgesetzt. In vielen Fällen sind Frauen trotzdem immer wieder Gewalt ausgesetzt und im schlimmsten Fall Opfer eines Femizids. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Fälle, in denen bewiesen werden konnte, dass die Opfer ihren Mörder bereits mehrfach den Behörden und der Polizei gemeldet hatten und schlichtweg nicht ernst genommen wurden, wie auch im Falle der İkbal Uzuner. Im Jahre 2021 befand das türkische Verfassungsgericht im Falle eines Femizids offiziell, dass die Nachlässigkeit der Polizei und Behörden nachweislich zum Tod einer Frau geführt haben.
Auch symbolisch für den Rechtsruck und die damit einhergehende vermehrt auftretende sexualisierte Gewalt ist der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention im Jahre 2021. Erst 2011 wurde die Konvention als Übereinkommen des Europarats ins Leben gerufen, um Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt stärker zu bekämpfen. Außer Russland und Aserbaidschan haben bisher alle 45 Mitgliedsstaaten des Europarats und die Europäische Union die Konvention unterschrieben, 34 Mitgliedsstaaten haben sie ratifiziert. Der Austritt der Türkei wurde damit begründet, dass die Konvention angeblich traditionelle Familienbilder gefährde und zu Scheidungen animiere. Mit ihrem Austritt zeigt die Türkei, dass der Staat nicht nur Gewalt an Frauen toleriert, sondern nahezu legitimiert.
Der Austritt der Türkei wird immer noch von Frauenrechtler:innen scharf kritisiert. Besonders jetzt, nach den Morden an Ayşenur und İkbal, werden die Stimmen nach einer Wiederaufnahme der Istanbul-Konvention laut: „Nehmt das Gesetz Nr. 6284 wieder auf!” Dabei ist es ein trauriger Fakt, dass die Verhältnisse mit jährlich Hunderten Femiziden bereits vor dem Austritt der Istanbul-Konvention durchschnittlich höher war als in allen (!) anderen europäischen Ländern. 2019, als die Türkei noch Unterzeichner der Istanbul-Konvention war, gab es in der Türkei 474 Femizide. Das sind nicht nur ein Femizid an jedem Tag, sondern zwei an jedem dritten Tag noch dazu.
Ist das nur in der Türkei so?
Die Istanbul-Konvention soll ein Übereinkommen zwischen den unterzeichnenden Staaten darstellen, welches vorschreibt, dass die Gleichstellung der Geschlechter in den Verfassungen und Rechtssystemen verankert sein muss. Angebliches Ziel sei es, Hilfsangebote für Frauen deutlich zu verbessern und auszubauen sowie die Zugänglichkeit für Bildungsangebote zu erhöhen. Zudem fordert es auch ein offensives Vorgehen der Staaten und Justiz gegen Gewalt an Frauen.
Es wird jedoch deutlich, warum wir uns nicht auf eine Konvention verlassen können, die, wie das Beispiel der Türkei klar und deutlich zeigt, nicht verbindlich wirkt und aus welcher wieder ausgetreten werden kann. Denn auch in Deutschland gibt es seit Inkrafttreten der Konvention deutliche Kritik an der Umsetzung. Frauenhäuser sind chronisch unterversorgt und überfüllt, es existieren kaum Präventionsprogramme, noch gibt es keine zentrale Anlaufstelle und auch keine verpflichtende Erhebung geschlechtsspezifischer Gewalt, so wie es eigentlich gefordert wird.
Dass diese Gesetze und die Konvention nichts als eine reformistische Farce sind, zeigen auch die Fakten vor deutschen Gerichten: Femizide werden immer noch nicht als gesonderter Strafbestand anerkannt und als Totschlag abgetan, somit wird das Tatmotiv der Misogynie oft verschleiert. Sie werden außerdem oft mit Worten wie „Ehedrama” oder „Liebestat” umschrieben, um den sich dahinter verbergenden Frauenhass zu relativieren. Femizide stehen jedoch am Ende einer langen Kette des Hasses.
Diese Kette ist nicht nur aufgebaut und getragen durch vorausgehende Taten wie abwertende Kommentare, unfreiwillige Berührungen, Missbrauch und Vergewaltigung. Sie bildet sich auch durch die materiellen Umstände der Opfer sexualisierter Gewalt. Diese sind viel öfter in Arbeitsbereichen beschäftigt, die kaputt gespart werden: In Kitas, an Schulen, in Krankenhäusern, in Pflegeheimen, etc. Sie verdienen durchschnittlich weniger, weil sie öfter in Teilzeit arbeiten müssen, um die Care-Arbeit zuhause noch zu erledigen, die wegen der konservativen Familienpolitik immer wieder auf Frauen alleine abfällt. Viele Mütter können kaum bis gar nicht arbeiten. Wenn sie dann auch noch in Partnerschaften oder Ehen leben, sind sie der Gefahr von sexualisierter Gewalt in den eigenen vier Wänden nahezu schutzlos ausgeliefert. Die Folgen: Auch in Deutschland wird jeden zweiten Tag eine Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet.
Was können wir statt bürgerlicher Reformen wirklich gegen sexualisierte Gewalt und Femizide tun?
Wir können uns nicht auf Regierungen und die Justiz verlassen, denn sie stehen unter dem Einfluss des Kapitalismus – eines Systems, das auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht. Ein Staat, der die materiellen Ursachen für Femizide verschlimmert, kann uns nicht schützen.
Er verschlimmert sie, indem er doppelt so viel für Kriege, Waffen und Militär ausgibt, wie für Gewaltschutzprogramme, für ein zugängliches, funktionierendes Bildungssystem oder für soziale Einrichtungen und Angebote. Er verschlimmert sie, indem er die Machtgefälle aufrechterhält und Rassismus benutzt, um die eigentlichen Ursachen für sexualisierte Gewalt zu verschleiern. Denn nicht migrantische Männer oder ihre Kulturen sind verantwortlich für immer mehr Femizide weltweit, sondern Regierungen, die dieses zutiefst sexistische Klassensystem aufrechterhalten und Ursachen für sexualisierte Gewalt schaffen.
Die Kürzungen kristallisieren also deutlich heraus: Staaten verfolgen ihre kapitalistische und imperialistische Agenda, während sie gleichzeitig die Gewalt, die täglich gegenüber Frauen ausgeübt wird, als “außerkulturelles” beziehungsweise “migrantisches” Phänomen abstempeln und somit das Leid dieser für ihre rechte Propaganda missbrauchen. Sexualisierte Gewalt an Frauen, als auch Femizide, finden in allen Kulturkreisen weltweit statt, in Deutschland werden dabei die meisten Femizide von den Ex-Partnern der ermordeten Frauen oder ihnen nahestehenden Männern begangen. Der Rechtsruck entwickelt sich international, und so auch die Häufung von Gewalt gegen Frauen und Queers. Eine feministische Bewegung, die die Ketten ihrer Unterdrücker sprengen will, darf deswegen nicht an den eigenen Ländergrenzen stehen bleiben, sie muss an erster Stelle auf internationaler Solidarität basieren.
Frauen, die kämpfen, sind Frauen, die leben!
Wir Frauen, weltweit, wollen nicht nur ein Leben in Sicherheit und Freiheit – wir haben ein Recht darauf! Dieses Recht lässt sich weder auf eine Wahlperiode verschieben, noch auf die Hoffnung, dass ein Staat wie die Türkei oder Deutschland endlich die Vorsätze einer Konvention umsetzt, während er immer wieder Leistungen in sozialen Bereichen kürzt.
Wir Frauen kämpfen nicht nur gegen die brutale Gewalt, sondern auch gegen ein System, welches uns zum Schweigen bringen will und uns einreden möchte, dass wir Frauen schon “genug” gefordert hätten. Doch um es in den Worten unserer Schwestern in der Türkei zusammenzufassen: Wir sind nicht allein. Wir sind viele. Und wir werden siegen! Hand in Hand, Feuer und Flamme dem Patriarchat!
Diese Orientierung wollen wir auch unserer Politik als Waffen der Kritik in den nächsten Wochen und Monaten geben. In einem Lesekreis zu Brot und Rosen in München und Berlin sowie auf verschiedenen Veranstaltungen zum Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November wollen wir eine Perspektive des sozialistischen Feminismus aufwerfen, die zum Ziel hat, die Grundlagen der Femizide zu beenden. Das geht nur im Kampf für eine Gesellschaft, die die bürgerliche Kleinfamilie überwindet und Frauen und Queers sowie andere unterdrückte Teile der Gesellschaft aus der Prekarität hebt. Das geht nur mit einer Strategie, die sich die vollständige Zerschlagung des Kapitalismus zum Ziel setzt. Wir brauchen also eine revolutionäre Alternative, und in den nächsten Wochen und Monaten wollen wir mit euch in Diskussion treten, wie wir solch eine Alternative mit einem sozialistischen und feministischen Programm unter Studierende und innerhalb der Arbeiter:innenklasse aufbauen können.