Armenien: Massenaufstand stürzt Premierminister Sargsyan
Am frühen Montagnachmittag trat der gerade erst gewählte Sersch Sargsyan von seinem Amt als Premierminister zurück. Schon am Morgen hatten bereits Hunderte Soldaten ihre Kasernen verlassen und sich der Demonstration der Studierenden angeschlossen. Der Rücktritt ist Ergebnis der tagelangen Massenproteste und eröffnet eine Periode im Nahen Osten.
Endlich wurden wir von diesem Tyrannen befreit.
Das waren die Worte eines Studenten, der bei der zentralen Abschlusskundgebung mit über 100.000 Menschen um seine Meinung gebeten zu einem historischen Tag, der das Land und die Region für immer verändern wird. Was war geschehen? Schon seit fast zwei Wochen demonstrieren die Armenier*innen gegen den Premierminister Sersch Sargsyan von der nationalkonservativen Armenisch-Republikanischen Partei. Dieser hatte das Land schon vorher seit zehn Jahren als Präsident regiert und wirtschaftlich ruiniert. Nun wollte er als Premierminister in einer eigens dafür geänderten Verfassung mit neuen Vollmachten seine dritte Amtszeit in die Wege leiten.
Dagegen hatte sich ein Protest gebildet, der vom Oppositionsführer Nikol Paschinyan geführt wurde und innerhalb kürzester Zeit zu einem Massenaufstand wurde und der von der Jugend angeführt wurde. Seit Tagen fanden überall Demonstrationen und Straßenblockaden statt, die teilweise gewaltsam von der Polizei und von Spezialeinheiten aufgelöst wurden. In der Hauptstadt Jerewan wurde oftmals der Verkehr lahmgelegt, als infolge von Akten des Zivilen Ungehorsams Jugendliche die Straßen blockierten. Eine Taktik, die integraler Teil der friedlichen „Samtenen Revolution“ von Nikol Paschinyan ist. Vielerorts ging sie auf, weil die Massen die Selbstinitiative ergriffen und sogar ihre eigenen Autos im Verkehr querstellten.
Eine Taktik aber auch, die auf brutale Repression stieß. Täglich wurden fast 200 Personen festgenommen, auch Paschinyan selbst samt zwei anderer Parlamentsabgeordneter seiner liberalen Koalition Yelk. Und das, obwohl sie als Parlamentsabgeordnete Immunität genießen. Doch nicht nur das: Bei den schwersten Zusammenstößen setzten die Repressivkräfte auch Tränengas- und sogar Betäubungsgranaten ein.
Paschinyans Verhaftung währte dagegen nur 24 Stunden, als er am Montag Morgen freigelassen wurde. Dieser Montag, der 23. April 2018, wird in die Geschichte eingehen.
Das Volk übernimmt die Macht
Sargsyan hatte in einer kurzen Unterredung mit Paschinyan indirekt die Protestierenden mit einem neuen 1. März gedroht, was in Armenien ein Synonym für die blutige Niederschlagung der Massenproteste von 2008 ist. Er schien uneinsichtig und bereit, notfalls mit weiteren Ermordungen seine Macht zu behalten. Paschinyans Verhaftung rund zwei Stunden später schien die Einleitung eines weiteren Massakers zu sein. Doch was folgte, war etwa nicht der Zerfall der Bewegung ohne ihre wichtigsten Anführer*innen, sondern eine verstärkte Mobilisierung der Massen. Obwohl alle Demonstrationen und Kundgebungen verboten wurden und die Polizei dazu angehalten wurde, diese sofort aufzulösen, erfolgte eine gewaltige Demonstration des Volkes. Geeint im Hass gegen Sargsyan und die von ihm repräsentierte korrupte Herrschaft der Oligarchie gingen auch ohne den Oppositionsführer Zehntausende auf die Straße und formten damit mehrere kämpferische Demonstrationen, die zum zentralen Platz der Republik führen sollten. Obwohl die Polizei vorher mit einem Kordon den Platz absperren wollte, fanden sich auf der zentralen Kundgebung fast 120.000 Menschen zusammen.
Spätestens ab da war klar, dass die Regierung den Protest nicht ohne weiteres reprimieren konnte. Für den frühen Morgen hatten die Studierenden angekündigt, nicht in ihre Seminare zu gehen, sondern in einen Streik zu treten und eine Demonstration zu organisieren. Was sodann folgte, zeigte endgültig, dass das System Sargsyan vollkommen am Zerfallen war: Soldaten verließen in Hunderten ihre Kasernen und schlossen sich den Demonstrationen an!
Wurde die Demonstration zunächst von den Medizin-Studierenden angeführt, so übernahmen nun die Soldaten die vorderen Reihen der spektakulären Ansammlung. in Sprechchören forderten sie alle anderen dazu auf, sich der Bewegung anzuschließen:
Paschinyan und die anderen Abgeordneten wurden sodann freigelassen, Zehntausende waren schon auf den Straßen mobilisiert, als … Sersch Sargysan kurz vor 15 Uhr seinen Rücktritt erklärte!
Die Nachrichte löste Jubel auf den Straßen Jerewans auf, überall herrschte Euphorie und Siegesstimmung. Es war klar, dass dies ein Sieg der Bewegung war — gar ein grandioser Sieg der Massen, wovon die Studierenden am meisten dazu beitrugen. Überall sammelten sich nun die Menschen und warfen sich um die Arme. Etwa 500.000 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt auf den Straßen, die Polizei hatte sich vollkommen zurückgezogen. Es war unerlässlich geworden, dass Sragsyan zurücktritt, da am 24. April, dem Gedenktag für den Genozid an den Armenier*innen noch mehr Menschen auf den Straßen sein werden und die Lage somit unkontrollierbar für die Regierung wäre. Sie feierten das Ende der Ära von Sersch Sargsyan, der das Land schamlos ausbeutete und mit seine Clique um seine Familie sich ungemein bereichterte in einer Zeit, als immer mehr Menschen das Land verlassen, weil sie dort keine Perspektive mehr sehen.
„All die Jahre über haben sie uns ausgebeutet und nun sollten sie alles zurückgeben“, sagte demgemäß auch ein junger Demonstrant bei den zentralen Abschlusskundgebung. Paschinyan fand dort pathetische Wort, als er an die Bewegung von 2008 erinnerte: „Wir widmen diese Revolution den Märtyrern des 1. März“. Ferner zielte er auch auf die Umsetzung der vier Forderungen, die auch einen neuen Premierminister und Neuwahlen enthalten.
Zunächst jedoch wird Karen Karapetyan von der gleichen Partei interimsweise Premierminister werden, am Mittwoch wird es Gespräche mit der Oppostion geben. Paschinyan kündigte an, dass nun für Armenien ein neues Kapitel beginne, die „Atmosphäre der Furcht und Rache“ solle beendet werden.
Der heutige Sieg der armenischen Massen bedeutet gleichzeitig einen Sieg aller unterdrückten Völker in der Region, da zum ersten Mal seit dem Arabischen Frühling mit den Regierungsstürzen in Tunesien und Ägypten die ausgebeuteten und unterdrückten Massen wieder einen Sieg feiern können. Die Situation bleibt auch weiterhin angespannt, ist doch in Armenien selbst morgen der 24. April und in der Region das Elend und die Wut auf die Herrschenden groß. Es ist ein Sieg, der weit über die Grenzen Armeniens eine Resonanz finden wird, vor allem bei denen, die unter dem Joch des Kapitalismus und Imperialismus leiden — es möge ein Sieg sein, der in Armenien in Permanenz fortgesetzt und in den anderen Ländern seine Fortsetzung finden wird.