Armenien: “Eine Massenbewegung, die das Land noch nie zuvor gesehen hat”
In Armenien zwang eine Massenbewegung den Premierminister und früheren Präsidenten Serj Sargsyan zum Rücktritt. Auch wenn liberale Kräfte die Bewegung kanalisieren und in Wahlerfolge ummünzen wollen, könnte die Bewegung ein positiver Ausgangspunkt für die unterdrückte Jugend und die Arbeiter*innenklasse in dem Land werden. Ein Interview von Philippe Alcoy mit Hovhannes Gevorkian.
Wie begann die Bewegung? Ist es das erste Mal, dass Menschen gegen die Regierung demonstrieren?
Die Bewegung begann am 13. April, als die ersten Aktionen des zivilen Ungehorsams begannen. Zuvor hatte Oppositionsführer Nikol Paschinyan einen Protestmarsch durch Armenien unternommen. Zurück in der Hauptstadt Jerewan begann die Opposition mit Protesten gegen die Wahl des ehemaligen Präsidenten Serj Sargsyan zum Premierminister, die am 17. April im Parlament stattfinden sollte. Es waren die Jugendlichen, die mit friedlichen Mitteln die Straßen blockierten, weil sie nicht wollten, dass die Wahlen stattfinden. Studierende versuchten, die Universität zu besetzen, aber die Polizei hinderte sie daran. Wegen des massiven Polizeiaufgebots konnten die protestierenden Massen die Abstimmung im Parlament nicht verhindern, doch die Proteste wurden immer größer.
Armenien ist ein Land, das schon immer große wirtschaftliche Probleme und eine korrupte politische Kaste hatte – aber auch eine Geschichte des Protests. Im Jahr 2008 protestierten die Menschen gegen die betrügerische Wahl von Serj Sargsyan zum Präsidenten. Auf dem Höhepunkt demonstrierten über 150.000 in Eriwan. Damals waren die Kämpfe viel heftiger: Am 1. März jenes Jahres schossen die Repressivkräfte (einschließlich russischer Spezialeinheiten) mit scharfer Munition auf die Demonstrant*innen. Bei diesen Ereignissen – in Armenien heute einfach „1. März“ genannt – starben zehn Menschen.
Eine weitere interessante Bewegung war der weitgehend jugendliche Protest gegen den Anstieg der Strompreise im Jahr 2015. Damals blockierten und besetzten die Menschen auch Straßen und Plätze. Dieser Protest war friedlich, zeigte aber wieder einmal die Unzufriedenheit mit der Regierung und der regierenden Armenischen Republikanischen Partei (HHK nach dem Namen auf Armenisch).
Welche sozialen Kräfte treiben die Bewegung an?
Ganz klar die Jugend, aber auch die Frauen, die einen großen Anteil am Protest haben, wenn auch leider mit schwächerer Repräsentation. Die Studierenden sind sehr aktiv und eine Bastion der Bewegung. Es ist meine Generation, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR geboren wurde und nur die bürgerliche Republik kennt. Es ist die Generation, die keine Perspektiven im Land hat, die Generation, die das Land verlässt, um in anderen Ländern zu studieren oder zu arbeiten.
Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass aufgrund des Hasses gegen die Oligarchen andere Teile der Bevölkerung daran teilnehmen. Es ist eine Massenbewegung, die das Land noch nie zuvor gesehen hat.
Es gibt liberale politische Kräfte in der Bewegung, was ist ihr wirklicher Einfluss?
Sie haben einen großen Einfluss, denn der charismatische Anführer der Bewegung ist Nikol Paschinyan, der selbst ein Liberaler ist. Man mag hierzulande seinen Namen in den letzten Tagen zum ersten Mal gehört haben, aber er ist keine unbekannte politische Figur in Armenien. Grundsätzlich ist er ein Schüler des ehemaligen und ersten Präsidenten Levon Ter-Petrosyan, der das Land von 1991 bis 1998 regierte. Ter-Petrosyan war für alle Privatisierungen der Industrie und den raschen Aufstieg der Oligarchen verantwortlich. Er selbst musste 1998 wegen Massenprotesten zurücktreten, da er bereit war, mit Aserbaidschan über einen möglichen armenischen Rückzug aus Berg-Karabach zu verhandeln.
Im Jahr 2008 war es erneut Ter-Petrosyan, der Sersch Sargsyan bei den Präsidentschaftswahlen herausforderte. Nach dem 1. März und der Verhängung des Ausnahmezustands (mit Streikverbot, Verbot von Demonstrationen, Medienzensur und vielem mehr) wurde Ter-Petrosyan unter Hausarrest gestellt. Dabei war Nikol Paschinyan sein Unterstützer. Im Jahr 2008 hatte er eine viel militantere Agenda, als er etwa sagte: „Wir werden bis zum Ende kämpfen!“ Nikol und die anderen Oppositionsführer mussten sich verstecken, bis sie sich im Juni 2009 an die Polizei wandten. Nikol wurde dann des Mordes und der Massenunruhen beschuldigt. Er sollte die nächsten zwei Jahre im Gefängnis verbringen.
Seitdem hat er viel gelernt. Vorbei sind die Tage des seriösen Politikers Nikol Paschinyan, der wie andere Politiker gekleidet war. Heute sieht man ihn als Aktivisten, der den ganzen Tag mit einem Megaphon durch die Straßen marschiert. Seine politische Agenda blieb fast unverändert, da er ein Liberaler und Abgeordneter der liberalen Koalition „Yelk“ ist. Es ist eine Formation kleinbürgerlicher Geschäftsleute, aber Nikol ist in der Lage, sich selbst als Aktivist zu repräsentieren, der genau wie die Studierenden ist.
Weil es eine demokratische Bewegung ist, sind seine Forderungen nach freien und fairen Wahlen und seine Ablehnung von Serj und seiner Partei, sehr beliebt. Er wendet sich immer an die Menschen und versucht, sich als transparent und antikorrupt zu präsentieren. In dieser Hinsicht ist er sehr offen und ruft immer zu offenen Gesprächen auf. Das ist auch der Grund, warum es öffentliche Gespräche zwischen ihm und Serj oder dem Präsidenten Armen Sargsyan gab.
Wie ist die Situation der Arbeiter*innenklasse und der Jugend in Armenien heute?
Beide leben unter schrecklichen Bedingungen. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent, Arbeitsplätze sind selten. Für die Jugend gibt es keine Perspektive, weil die Wirtschaft in Armenien sehr schlecht ist. Es gibt viele arme Menschen in Armenien, die leiden, da die Industrie in den 90er Jahren fast vollständig zerstört oder privatisiert wurde. Armenien als ehemalige Sowjetrepublik hatte eine Arbeiter*innenklasse, die gut organisiert war und Gewerkschaften hatte. Die Gewerkschaften existieren noch, aber sie sind sehr schwach und die Arbeiter*innenklasse ist fragmentiert.
Dennoch haben wir auch während der politischen Proteste bei dem IT-Unternehmen Synopsys und dem großen Einkaufszentrum Dalma Streiks gesehen. In beiden Fällen streikten die Arbeiter*innen und schlossen sich den Straßenblockaden an. Die Studierenden sind gut organisiert und haben auch gestreikt. Interessanterweise rief Nikol am 25. April zu einem landesweiten Arbeits- und Studierendenstreik auf, der dann nicht stattfand, weil die Übergangsregierung angekündigt hatte, dass am 1. Mai Neuwahlen zum Premierminister stattfinden werden.
Also trat der Premierminister zurück, aber die Bewegung geht weiter. Wie sind die Aussichten dafür?
Die Leute wissen, dass das Problem nicht nur Sersch war. Er selbst hatte ein skandalträchtiges Luxusleben und es war klar, dass die Menschen ihn hassen. Aber sie wissen auch, dass er und seine Partei die Oligarchen vertreten. Die Bewegung geht weiter und die Slogans gehen weiter von #RejectSerj zu #RejectHHK. In sehr armen Halbkolonien wie Armenien hat die demokratische Bewegung immer soziale Forderungen, denn die Menschen wollen nicht nur freie Wahlen, sondern auch Arbeit, höhere Renten und Brot. Anfang des Jahres sahen wir etwas Ähnliches in unserem Nachbarland Iran.
Jetzt bereiten sich alle auf die Parlamentswahlen vor. Es ist möglich, dass andere bürgerliche Parteien wie Tsarukyan (gegründet und geführt von Oligarch Gagik Tsarukyan) Paschinyan unterstützen. Er selbst hat angekündigt, dass er und Yelk an den Wahlen teilnehmen werden. Das ist auch der Grund, warum jetzt die Mobilisierungen und Handlungen des zivilen Ungehorsams aufgehört haben. Sie werden nun in die anderen Städte gehen und ihren Wahlkampf führen. Paschinjan hat eine Chance zu gewinnen, aber es ist nicht sicher. Er ist im Moment sehr beliebt.
Es wird sehr interessant sein zu sehen, wie die Wahlen verlaufen werden, ob es Korruption und Betrug geben wird oder nicht. Es scheint wahrscheinlich, weil der gesamte Staatsapparat unter der Kontrolle der HHK steht. Diese Partei funktioniert auch wie eine Mafia, die ebenfalls entschlossen ist, kriminelle Methoden anzuwenden, um ihre Herrschaft zu sichern.
Möchtest du etwas hinzufügen?
Ich denke, die Massenproteste in Armenien mit dem Sieg über Sersch Sargsyan eröffnen ein neues Kapitel im Nahen und Mittleren Osten. In den letzten Jahren gab es Massenproteste in Kurdistan, im Iran und jetzt in Armenien. In einer Region, die sehr explosiv und zerbrechlich ist, hat die armenische „Samtene Revolution“ (wie sie von Paschinjan und seinen Anhänger*innen genannt wird) gezeigt, dass ein Sieg möglich ist. Das haben wir seit dem Arabischen Frühling mit dem Sturz von Ben Ali und Husni Mubarak in Tunesien und Ägypten nicht mehr gesehen. Seitdem haben wir aber auch gesehen, dass der Sturz eines Herrschers nicht ausreicht, und die Massen in Armenien werden die gleiche Erfahrung machen.
Ich halte die jüngsten Ereignisse in Armenien nicht für eine Revolution, weil die alte Kapitalist*innenklasse das Land und die Arbeiter*innenklasse immer noch ausbeutet. Es gibt auch keine revolutionäre Partei in Armenien – aber solche Erfahrungen helfen uns, revolutionäre Organisationen aufzubauen. Siege wie diese fördern das Klassenbewusstsein der Protestierenden. Die Jugend, die diesen Sieg möglich gemacht hat, wird sich an ihre Stärke erinnern. Andere unterdrückte und ausgebeutete Massen wie das kurdische Volk, die iranische Arbeiter*innenklasse, aber auch die Schwestern und Brüder der aserbaidschanischen und georgischen Arbeiter*innenklasse werden von den Massenprotesten lernen. Sie werden gemeinsam mit den armenischen Massen sehen, dass ein vollständiger Sieg nur auf internationaler Ebene möglich ist.
Das Interview führte Philippe Alcoy. Es erschien schon auf Französisch bei Révolution Permanente und auf Englisch bei LeftEast.