Argentinien: Ultrarechte gewinnt die Wahl, Konfrontation vorbereiten
Der Rechtsextreme Javier Milei gewann die argentinischen Präsidentschaftswahlen, indem er die Stimmen der traditionellen Rechten sammelte und aus der Wut über die harten Sparmaßnahmen der alten Regierung Kapital schlug. Seine Amtszeit wird jedoch von Widersprüchen und zahlreichen Schwächen geprägt sein.
Argentiniens neuer Präsident heißt Javier Milei. In den frühen Morgenstunden des 20. Novembers gewann er die Stichwahl gegen den Peronisten Sergio Massa. Milei konnte einen Großteil der Stimmen erringen, die in vorherigen Wahlgängen an die traditionelle Rechte von Patricia Bullrich und Ex-Präsident Mauricio Macri gegangen waren. Diese hatten zur Wahl der Kandidat:innen von Mileis Partei La Libertad Avanza (LLA, Die Freiheit schreitet voran) aufgerufen. Er scheint auch einen großen Teil der Stimmen, die zuvor Präsidentschaftskandidat Juan Schiaretti auf sich vereinen konnte, für sich gewonnen zu haben.
Die gestrige Nacht markiert den Beginn einer beispiellosen Übergangsphase in Argentinien, die bis zum Amtsantritt der rechtsradikalen Libertären in der Casa Rosada, dem argentinischen Präsidentenpalast, am 10. Dezember führen wird. Zum ersten Mal seit 1983 kommt ein politischer Flügel an die Macht, der für die Straffreiheit jener, die für die Verbrechen der Militärdiktatur verantwortlich sind, eintritt und die 30.000 während der Diktatur Verschwundenen leugnet. Das ist noch nicht alles, da es sich bei Javier Milei und seiner Vizepräsidentin Victoria Villarruel zudem um Kandidat:innen handelt, die den Menemismus – die neoliberalste Periode in der Geschichte Argentiniens – verteidigen und die Dollarisierung der Wirtschaft, die unbegrenzte Liberalisierung des Handels, Privatisierungen, Angriffe auf die Rechte von Frauen und die Diskriminierung verschiedener Minderheiten fördern wollen.
Gewinnen konnten sie nur, weil die Wähler:innen aus Wut über eine Regierung abstimmten, die für die Sparpolitik, multiple Krisen und eine im Vergleich zu den letzten drei Jahrzehnten historische Inflation verantwortlich ist. „Im April 2020, zu Beginn der Pandemie, erhielt man für einen Dollar 80 argentinische Pesos […]. Diese Woche entsprach ein Dollar fast 1.000 Pesos“, recherchierte die New York Times. Es war also der Peronismus – eine klassenversöhnlerische politische Strömung –, der den Weg für die extreme Rechte geebnet hat.
Jetzt stehen wir vor einer Geschichte, die gerade erst begonnen hat. Die Rechtsentwicklung, die sich im gesamten Wahlkampf ausgedrückt hatte, fand am Sonntagabend ihren Höhepunkt. Sie bot eine wichtige Grundlage für die Umsetzung der von Milei vertretenen reaktionären Ideen, die nun in die Exekutive gelangen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass La Libertad Avanza von Anfang an von zahlreichen institutionellen Schwächen geplagt sein wird. So hat die neue Regierung beispielsweise keine eigene Mehrheit im nationalen Parlament: Sie besetzt nur sieben der 72 Sitze im Senat und 38 der 257 Sitze im Repräsentantenhaus. Auch beginnt Milei seine Amtszeit ohne lokale Gouverneur:innen und Bürgermeister:innen. Und: Die für den Flexibilisierungsfan abgegebenen Stimmen gehen nicht zwangsläufig mit einer Zustimmung für seine künftige Politik einher. Vielmehr ist mit Widerstand gegen die Einsparungen zu rechnen. Denn fast die Hälfte des Landes hat gegen Milei gestimmt.
Die Rechtsradikalen triumphieren nach Jahrzehnten unsozialer Politik
Das alte politische Zweiparteiensystem – Macrismus auf der einen und Peronismus auf der anderen Seite – hat gerade einen historischen Schlag erlitten. In schwindelerregender Weise hat sich eine neue Rechte, die rechts von der etablierten Rechten angesiedelt ist, herausgebildet. Sie ist gewachsen und hat die Struktur der argentinischen Politik mit ihren zwei Polen in wenigen Jahren zu Fall gebracht. Es handelt sich um ein Phänomen, das Ähnlichkeiten mit anderen Beispielen hat, die in den letzten Jahren in der internationalen Arena zu sehen waren. Identisch sind sie aber nicht.
Und als ob das nicht genug wäre: Milei und Villarruel setzten sich nicht nur gegen fast alle altbekannten politischen Parteien, sondern auch gegen die Mehrheit der führenden Ökonom:innen durch. Viele von ihnen befürworten das Programm von LLA, sorgen sich aber um die „Regierbarkeit“ des südamerikanischen Landes. Die neue Rechte siegte auch über die mit ihrem Gegenkandidaten verbündete US-Regierung, Gewerkschaften, soziale, feministische und Menschenrechtsbewegungen und große Teile der katholischen Kirche. Die meisten von ihnen hatten, mehr oder weniger explizit, ihre Unterstützung für Sergio Massa zum Ausdruck gebracht.
Ein solcher Sieg über so viele Akteur:innen lässt sich nur dadurch erklären, dass bei dieser Wahl die Ablehnung der aktuellen Situation gegenüber der Angst vor dem Unbekannten überwog. Eine solche gesellschaftliche Unzufriedenheit hat erklärbare Grundlagen – zum Beispiel die Zahlen, die das Scheitern der letzten beiden Regierungen begleiteten. Seit der Rückkehr des Internationalen Währungsfonds (IWF) nach Argentinien im Jahr 2018 ist der Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, dramatisch angestiegen, von 27 auf 40 Prozent. Die Politik des IWF, die zuerst von Macri, dann von Ex-Wirtschaftsminister Martín Guzmán und daraufhin von Massa, der aktuell Wirtschaftsminister ist, umgesetzt wurde, erzeugt diese Armut. Die Löhne aller Arbeiter:innen sind eingebrochen, wobei die informell Beschäftigten – also all jene ohne Arbeitsvertrag – besonders schwer betroffen sind. Sie haben in den letzten sieben Jahren 47 Prozent ihrer Kaufkraft verloren.
Zwar hat der Macrismus mit der Unterstützung peronistischer Gouverneur:innen, Abgeordneter und Senator:innen diesen Weg eingeleitet. Doch es ist auch wahr, dass das peronistische Bündnis Frente de Todos (FdT, Front Aller), sobald sie im Jahr 2019 an die Regierung kam, nicht alle ihre Versprechen hielt und stattdessen den Sparkurs fortsetzte. So kürzte Massa allein in diesem Jahr 3,57 Milliarden US-Dollar bei den Grundausgaben. Währenddessen trifft auch die Inflation die unteren und mittleren Sektoren am härtesten. Laut einem Bericht des Centro Cifra sind während der letzten beiden Legislaturperioden rund 101 Milliarden US-Dollar aus den Taschen der Arbeiter:innenklasse in die Taschen der Großunternehmer:innen gewandert. Dabei fand der Großteil dieses Transfers unter der aktuellen Regierung statt. Sowohl Macri als auch Alberto Fernández haben also für die Reichen regiert. Das ist die materielle Grundlage für die enorme Unzufriedenheit mit dem politischen Regime in den letzten Jahren.
Vor diesem Hintergrund gelang es der Ultrarechten, die Wut mit ihrer Hetze für sich zu nutzen. Ein erheblicher Teil ihrer Wähler:innenschaft ist wirklich rechts und vertritt reaktionäre Werte. Doch ist auch zu beachten, dass es der extremen Rechten gelungen ist, Stimmen aus anderen Bereichen der Gesellschaft zu gewinnen – indem sie Wunderlösungen propagierte. Das gilt zum Beispiel für ihr „libertäres“ Wirtschaftsprogramm. Die Schwierigkeiten, mit denen die Argentinier:innen zu kämpfen haben, werden sich enorm verschärfen, wenn dies umgesetzt wird. Doch werden dann auch ihre Erwartungen von der Realität zerschmettert. Aus diesem Grund kann es in der kommenden Periode zu vielfältigen Phänomenen auf dem Gebiet der Politik und des Klassenkampfes kommen.
Darüber hinaus muss beachtet werden, dass es für den Peronismus unmöglich war, die Wahlen zu gewinnen. Denn er verteidigte die Politik, die er bereits an der Macht vorantrieb: die einer kontinuierlichen und unaufhörlichen Verschlechterung fast aller wirtschaftlichen und sozialen Variablen, aber auch die einer Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung oder Gesundheit, die von den Beschäftigten trotz ständiger Sparmaßnahmen weiterhin am Leben gehalten werden. Die Angst vor der LLA und ihren Vorschlägen, die einen Sprung ins Ungewisse darstellen, reichten angesichts von so viel Wut über die aktuelle Situation nicht aus, ebenso wenig wie die abstrakte Verteidigung von „40 Jahren Demokratie“, die ihre Versprechen nicht gehalten haben.
Die objektiven Verbündeten von Milei und der extremen Rechten
Um ihren Kulturkampf zu führen, hatte LLA Verbündete. Nachdem sie dazu beigetragen haben, dieses Monster zu erschaffen, haben einige von ihnen versucht, sie an den Wahlurnen zu bekämpfen. Dazu zählen Großunternehmer:innen, die sie gefördert haben, wie beispielsweise Eduardo Eurnekian, der sich inzwischen von ihnen distanziert hat. Doch gilt dies auch für die Peronist:innen, die darauf gesetzt haben, der extremen Rechten Zulauf zu verschaffen, um die Wähler:innenbasis der Mitte-Rechts Partei Juntos por el Cambio (Zusammen für den Wandel) zu spalten. Wie auch aus den eigenen Reihen einige anprangerten, half der Peronismus dabei, die Listen von Milei zu erstellen und ihn zu finanzieren.
Allerdings wäre all dies nicht möglich gewesen ohne die wertvolle Mitwirkung der Gewerkschaftsbürokratien und der Bürokratien der sozialen Bewegungen. Denn sie ließen die Verarmung, die Sparprogramme und die aufeinanderfolgenden Kapitulationen der Regierung der peronistischen FdT mit fast völliger Passivität und Komplizenschaft über sich ergehen. Die sehr niedrigen Niveau von Protesten schuf einen idealen Nährboden für den Vormarsch von Mileis individualistischen und ultraliberalen Ideen, die sozialen Kämpfen und kollektiven Lösungen diametral entgegenstehen. Niemand hat der Rechten mehr in die Hände gespielt als diese Bürokratien.
Gleichzeitig waren immer dann, wenn der Widerstand von links kam, die peronistische Regierung und die Rechte zur Stelle, um ihn zu bekämpfen. Dies betraf unter anderem die Kämpfe obdachloser Familien in Guernica, die von Peronist:innen niedergeschlagen wurden, oder die Unterdrückung der großen Rebellion der Menschen in Jujuy gegen den autoritären Kurs von Gerardo Morales, der ebenfalls mit Massa verbündet ist. So verurteilte Letzterer die Angriffe seines Freundes kein einziges Mal. Ganz im Gegenteil: Er rief ihn dazu auf, Teil seiner Regierung der nationalen Einheit zu werden. Kurzum: Milei ist nicht allein so weit gekommen.
Wir müssen uns vorbereiten, die Politik der extremen Rechten zu bekämpfen
Die argentinische Linke hat sich nie davor gescheut, sich mit der extremen Rechten anzulegen. Vielmehr stand sie immer auf der Seite der Kämpfe der Arbeiter:innen und der Armen. Sie stand immer gegen Repressionen und Sparmaßnahmen ein, die der Ultrarechten den Weg ebneten. Während einige diese Kämpfe totschwiegen, um die aktuelle Regierung nicht kritisieren zu müssen, hielt die Linke immer an ihren Prinzipien fest und setzte sich im Wahlkampf gegen die extreme Rechte zur Wehr. Dies zeigte die enorme Wirkung der Auftritte von ihrer Präsidentschaftskandidatin und unserer Genossin Myriam Bregman in den TV-Debatten. Letztendlich hat sich der Weg des kleineren Übels als katastrophal erwiesen und nur dazu geführt, dass die Rechte stärker geworden ist.
Heute beginnt also eine neue Etappe, in der sie sich mit Millionen von Menschen auf den Straßen wiederfinden wird, um den Plänen der regierenden Rechtsradikalen entgegenzutreten. Das bedeutet nicht, dass die Zeit danach leicht sein wird, bei weitem nicht. Vielmehr beginnt eine neue Periode, auf die man sich vorbereiten muss, indem man die Lehren aus der Periode zieht, die nun zu Ende geht.
In dieser Übergangsphase werden schnell konkrete Fragen geklärt werden müssen, etwa welche Teile seines Programms Milei umsetzen will oder wie sein Verhältnis zum Macrismus in der Praxis aussieht. Hier besteht die Möglichkeit einer Koalitionsregierung. Auch die Frage, inwiefern er bereit ist, zu Bedingungen zu handeln, die für sein Projekt mit großen Schwierigkeiten verbunden sind, ist noch offen. Und es gibt noch viele weitere ungeklärte Fragen. Schließlich bleibt auch abzuwarten, wie sich der Peronismus und die Gewerkschaftsführungen, die immer bereit sind, sich an neue Zeiten anzupassen, positionieren werden.
Einige Dinge sind jedoch sicher. Neue Angriffe auf die Lebensbedingungen der arbeitenden und armen Massen werden auf der Tagesordnung stehen, mindestens mit neuen Abwertungen des Peso und steuerlichen Anpassungen – inmitten einer sozialen Situation, die durch jahrelange Austeritätspolitik bereits sehr kompliziert ist. In diesem Zusammenhang wird es notwendig sein, die Organisation an den Arbeitsplätzen, Universitäten und Schulen und in den Arbeiter:innenvierteln zu stärken, die Bürokrat:innen, die in den letzten Jahren Verrat begangen haben, zu konfrontieren und ein Programm gegen die Kürzungen und für die demokratischen Freiheiten zu diskutieren. Angesichts dessen, was die Machtübernahme durch Milei bedeutet, müssen die Gewerkschaftsführungen aus der Passivität herauskommen, die es der Rechten ermöglicht hat, zu wachsen. Sie müssen zu Versammlungen und Aktionen aufrufen, um einen Kampfplan zu erstellen.
Die extreme Rechte hat die Wahlen gewonnen, aber die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten in sozialen Bewegungen sowie Menschenrechtsorganisationen stellen eine enorme gesellschaftliche Kraft dar, wenn sie sich in Bewegung setzen. Es gibt keine Zeit zu verlieren.
Dieser Artikel erschien zuerst auf La Izquierda Diario, der Website unserer argentinischen Schwesterpartei, und wurde leicht für ein internationales Publikum angepasst.