Argentinien: Streit im Palast, Kampf auf der Straße

06.02.2024, Lesezeit 20 Min.
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Auf welcher Seite stehst du? Vor dem argentinischen Kongress sind die Fronten klar. Bild: Enfoque Rojo

Während im argentinischen Kongress über harte Angriffe auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung verhandelt wird, gewinnen die Arbeiter:innen draußen im Kampf an Mut. Szenen einer intensiven Woche.

Mittwoch, 31. Januar, 18 Uhr. Der Asphalt der Avenida de Mayo, einer Allee im Zentrum von Buenos Aires, brodelt. Sie ist von einigen tausend Menschen besetzt. In der Überwachungszentrale gibt die Ministerin Befehle. Vor Ort bildet die Gendarmerie eine Kette. Die Motorräder der Bundespolizei rasen heran. Die aufheulenden Motoren sind ohrenbetäubend. Sie wollen die Rufe, Parolen und Live-Videos übertönen. Vor allem aber wollen sie den Widerstand des Volkes übertönen.

Die Protestierenden kommen ein paar Meter weiter, müssen aber vor einer weiteren Absperrung stehen bleiben, die ihnen den Weg nicht freigibt. „Auf den Bürgersteig, meine Herren“, rufen sie. Genau in diesem Moment ertönt von hinten eine Stimme, die den Lärm des Megaphons und der Motoren übertönt. „Bullen, Bullen, Bullen, raus, raus, raus!“ Auch das betäubt. Die Einsatzleiter schauen sich fassungslos an. Seit mehr als einer Stunde versuchen sie, die Anweisungen der Ministerin umzusetzen. Sie waren eindeutig. Um den Kongress herum muss es ordentlich und aufgeräumt aussehen. Die Demonstrierenden sollen sich verständnisvoll und gehorsam zeigen. Niemand darf den Bürgersteig verlassen. Doch so sollte es nicht kommen. Die Ministerin scrollt auf einer riesigen Tafel durch die Nachrichten der Fernsehsender. „Protestierende missachten die Vorschriften“. „Demonstrationen vor dem Kongress“. „Die Banner der Versammlungen und einiger linker Parteien sind noch auf der Avenida„.

Bullrich dreht sich der Magen um. Jetzt ist es fast 19 Uhr. Im Kongress spricht ein liberaler Abgeordneter über die Vorteile von Privatisierungen. Draußen hält eine Lehrerin ihre Kollegin am Arm fest und sagt, bevor sie sich mit ihrem Taschentuch den Mund zuhält: „Geht es dir gut? Es hat gerade erst angefangen.“

1. Der Palast und die Straße

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Vorn die Truppen, im Hintergrund der Kongress. Bild: Enfoque Rojo

Am 31. Januar begann die Debatte über das „Gesetz über Grundlagen und Eckpunkte für die Freiheit der Argentinier“, besser bekannt als das „Omnibusgesetz“. Die Diskussion im Kongress stellte einen selten zuvor gesehenen Skandal dar. Scheinkommissionen, Phantomgutachten, fliegende Koffer. Neben dem Gezanke in den Büros gab es geheime Treffen in Wohnungen im teuren Wohnviertel Recoleta und im Luxushotel Savoy.

Myriam Bregman, eine Abgeordnete der Front der Linken (FIT-U), hatte auf den Punkt gebracht, worum es ging. „Sie wollen ein Gesetz verabschieden, das denjenigen schadet, die sich jeden Morgen auf den Weg zur Arbeit machen. Aber glaubt bloß nicht, dass die Debatte hier endet. Sie fängt gerade erst an. Die einzige Sprache, die diese Regierungen verstehen, ist die der Mobilisierung“. Von dieser Tribüne aus, die dieser Kongress der Krisenzeiten ist, forderte sie dasselbe, was der Block kämpferischer Gewerkschaften, sozialer Organisationen und Nachbarschaftsversammlungen bei den letzten Mobilisierungen gefordert hatte: einen Plan für den Kampf und Mobilisierungen an dem Tag, an dem das Gesetz im Parlament behandelt wird.

Auf Social Media kursiert ein Meme, das auf die argentinische Serie „Okupas“ anspielt.

„Bist du sicher, dass die peronistischen Führungen kommen werden?“, fragt der Protagonist Ricardo unsicher. Im Original fragt er nach seinem kriminellen Kindheitsfreund.

„Ich hab’s dir schon gesagt. Mach dich nicht verrückt…“, antwortet Juan.

Es ist inzwischen sechs Uhr abends und die Gewerkschaftsspitze kommt nicht. Auch die sozialen Organisationen der peronistischen Partei Unión por la Patria sind noch nicht da. Ihr Präsidentschaftskandidat, Juan Grabois, fordert dazu auf, bis 21 Uhr auf ihn zu warten. Ihr Kalender zeigt das Jahr 2027. Dann finden die nächsten Präsidentschaftswahlen statt.

Auf der anderen Seite, der des Kongresses, treffen die Truppen der Ministerin Patricia BullReich – einige Versammelte haben sie so getauft – ein. Wie bei einer ungeschickt inszenierten Parade rückt die Infanteriedivision zuerst vor. Verstärkung kommt von der Bundespolizei: Fußtruppen und motorisierte Einheiten. Später trifft auch die Marinestreitkraft ein. Die Aufführung wird von Zivis mit Westen der Bundes- und der Stadtpolizei abgerundet, die auch Infanterist:innen in der nahegelegenen Yrigoyen-Straße haben. Schließlich haben die Wasserwerfer ihren Auftritt. Das kriegerische Schauspiel begeistert die Kommandantin von Recoleta, Patricia Bullrich. Der Palast selbst scheint durch seine Wachhunde geschützt zu werden. Es scheint so.

Plötzlich zeigen die Kameras eine Gruppe von Menschen auf der Allee. Sie wollen sich nicht bewegen. „Wir befinden uns nicht im Belagerungszustand. Hier sind Arbeiter, Arbeiterinnen, Rentner:innen und Nachbarschaftsversammlungen. Wir sind gegen dieses Gesetz und gegen die Maßnahmen von Milei. Wir werden demonstrieren.“ Claudio Dellecarbonara ist ein bekannter U-Bahn-Fahrer und Anführer der FIT-U. Die Medien konzentrieren sich auf ihn. Aber als die Kameras aus der Aufnahme herauszoomen, wird klar, dass er nicht allein ist.

2. Die Avenida, die brennt

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Im Pfefferspray ist jetzt noch mehr Reizstoff. Bild: Enfoque Rojo

„Wenn sie so viel Polizei auf die Straße bringen müssen, dann deshalb, weil sie etwas Schreckliches gegen das Volk verabschieden“. Der Redner ist ein Abgeordneter aus dem Parque Avellaneda, einem Bezirk der Hauptstadt.

Während der 20. Dezember 2023 die erste Herausforderung der repressiven Vorschriften war, ist der Kampf am 31. Januar zwangsläufig ein anderes Kaliber. Während drinnen über die Auslieferung des Landes abgestimmt wird, träumt die Ministerin draußen davon, ihre Wahlwerbung zu drehen: „Meine Herren, auf den Bürgersteig!“

Der Abend wird immer heißer. Trotz der Drohung, trotz der Abwesenheit der Gewerkschaftssekretär:innen der CGT, sind Tausende gekommen, als die Diskussion begann. Handgeschriebene Schilder von Senior:innen und Anwohner:innen. Andere zeigen ein wenig Kunst und Kreativität. Transparente von antibürokratischen Gewerkschaften, Nachbarschaftsversammlungen, sozialen Organisationen. Die unübersehbaren roten Fahnen der Linken. Auf der Südseite gibt es einen Platz, der für peronistische Gruppen und Gewerkschaften reserviert ist. Er ist leer.

Der erste Angriff der Gendarmerie und der motorisierten Einheit hat sein Ziel nicht erreicht. Als sie beschließen, zum nächsten Schritt des Einsatzplans überzugehen, hören sie hinter sich Gesänge. „Ein einzelner Streiktag, das wird nicht reichen!“ Versammlungen des Westens der Provinz Buenos Aires, heißt es auf dem Banner. Die desorientierte Truppe muss auf Verstärkung warten. Niemand weiß, was sie dort tun, aber sie beginnen sofort, Knüppel und Pfefferspray auszuteilen.

Diese Schlagstöcke und das Pfefferspray wurden zu „übertragenen Befugnissen“, die die Einsatzkräfte drei Tage lang hatten. Die Ärztinnen, die den Gesundheitsposten eingerichtet haben, berichten, dass „mehr als 70 Personen wegen Verletzungen behandelt wurden, die durch das neue Pfefferspray verursacht wurden, das eine hohe Konzentration des Reizstoffs Capsaicin enthält und chemische Verbrennungen verursacht.“ Eine Flasche kostet 200.000 Pesos, etwa 250 Euro. Das ist so viel wie zwei Mindestrenten, so viel wie Grundnahrungsmittel für einen ganzen Monat. Das Brennen ist unerträglich. Und es kann stundenlang andauern. Ich kann das bestätigen. Auch Alejandro Vilca, einer der Abgeordnete der PTS, der Schwesterpartei von RIO/Klasse Gegen Klasse und Teil der Wahlfront FIT-U, nahm an der Demonstration teil und bekam Pfefferspray ab.

Zwischen Fortschritten und Rückschlägen vergehen Stunden. Die Meter, die in einem Moment verloren gehen, werden einige Zeit später wieder eingenommen. Wir müssen dieses umstrittene Territorium verteidigen. Es ist viel mehr ist als eine Allee. Es ist das Recht auf Protest, auf Widerstand. In der ersten Reihe sind Banner von Nachbarschaftsversammlungen und das Banner der PTS zu sehen. Andere Organisationen ziehen es vor, auf dem Vorplatz zu bleiben. Aber vor Ort schließen sich uns Hunderte an, um auf der Straße zu kämpfen. Die Medien berichten darüber, als ob es sich um eine Party handeln würde. Die Ministerin hat das Gefühl, dass sie ihr das Feld weggenommen haben. Am Ende kann die Kette der Bundespolizei nicht das ganze Gebiet „verteidigen“ und zieht sich unter dem Ruf „Raus, raus, raus“ in Richtung Kongress zurück.

In dieser Nacht brannten die Telefone der Rechten so heiß wie das Pfefferspray. Denn die Befehlshaber:innen von Recoleta beschuldigen sich gegenseitig.

3. Fahnen in deinem Herzen

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In Versammlungen organisiert sich der Widerstand. Bild: Enfoque Rojo

Am Donnerstag lässt die Hitze nicht nach. Der Streit im Palast auch nicht. Die Abwesenheit des Peronismus und der CGT noch weniger. Die Wut des Militärs nie.

Aber die Fahnen sind wieder da. Kurz nach 18 Uhr, am Ende der Avenida de Mayo, taucht eine Menschenmenge auf. Die Volksversammlung von Paternal, einem Viertel im Zentrum der Hauptstadt. Die Koordination der Versammlungen der südlichen Zone der Provinz Buenos Aires. Die Selbstbestimmten von Avenidas Rivadavia und Medrano. Kampfplan. Vereinigte für die Kultur. Die Versammlung von Tigre, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires. Viele Viertel, dasselbe Lied: „Mit einem Streiktag wird es nicht getan sein, wir brauchen einen Generalstreik, olé olé!“

Die Einsatzleiter sehen sich gegenseitig an. Sie wollen, dass die Banner verschwinden und sich auf den Bürgersteig verlagern. Dass sie die „Bürgersteig-Demokratie“ respektieren. Das geschieht nie. Ein paar Minuten später stehen sie sich gegenüber. Auf der einen Seite die Bundesbeamten. Auf der anderen, besser organisiert als am Vortag, die Gruppen des Widerstands.

Jorge kommt mit den Versammlungen aus dem Westen der Provinz Buenos Aires an. Er ist knapp über 25 Jahre alt und hat einen unsicheren Job. „Sie sind sauer auf uns, weil wir ein Ausdruck dafür sind, dass echt viele gegen die Regierung sind und sich selbst organisieren.“ Die Stadtteil- und die Kiezversammlungen sind erst vor ein paar Monaten, nach dem ersten cacerolazo, entstanden. Bei dieser Protestform wird mit Holzlöffeln auf cacerolas (Kochtöpfe) geschlagen. Sie sind immer noch eine junge Bewegung. Es handelt sich um von der Krise betroffene Nachbar:innen, junge Menschen, Lehrkräfte und Aktivist:innen. Viele von ihnen haben die Unión por la Patria gewählt und fühlen sich zurückgelassen, seit der „Faschismus“ die Macht übernommen hat. Sie nehmen für sich in Anspruch, „selbstbestimmt“ zu sein, sie wollen sich demokratisch organisieren. Aber sie wissen auch, wer auf welcher Seite steht.

4. Die Freiheit zu schießen

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Abgeordneter im Widerstand: Gendarmen bedrängen Nico del Caño von der PTS. Bild: Enfoque Rojo

Auch wenn einige es bezweifelt hatten, brachte der Donnerstagnachmittag dieselben Fragen erneut auf die Tagesordnung. Wird die Infanterie die Vorschriften durchsetzen können? Werden alle auf dem Gehweg bleiben? Wem gehört die Straße?

Die Debatte wird erneut materiell. In manchen Momenten kann man sich kaum hören. Der Lärm der Motorräder, die Gesänge. Die Schlagstöcke und das Pfefferspray. Die Vorstöße und Rückschläge. Die Vorschriften werden nicht eingehalten. Die Einsatzleiter müssen die nächste Phase ihres Plans einläuten. Kurz nach 19 Uhr betreten die Schützen der Bundespolizei die Szene, zu Fuß oder auf ihren Motorrädern. „Vorrücken und Feeeeeu-er!“, ruft der Einsatzleiter. Der unaufhörliche Klang der Gummigeschosse und die Bilder der ersten Verletzten sollen uns einschüchtern. Die ersten Salven sind auf die Füße gerichtet. Aber die Allee bleibt besetzt. Gruppen, die Terrain wieder gut machen konnten und so viel wie möglich Widerstand leisten. In ihrer Verzweiflung verletzt die Polizei ihre eigenen Vorschriften und jagt die Demonstrant:innen durch die Beete auf dem Platz vor dem Kongress.

Der Knall dringt nicht durch die Mauern des Palastes. Christian Castillo, Abgeordneter der PTS in der FIT-U, erhebt sich von seinem Platz und verkündet, dass sie den Sitzungssaal verlassen: „Wir werden nicht unter Gummigeschossen und Repression tagen.“ Er zieht einige Abgeordnete der Unión por la Patria mit sich, die auf dem Platz umherlaufen, ohne die Blöcke ihrer Partei zu finden. Nico del Caño, ebenfalls Abgeordneter der PTS in der FIT-U, stellt sich erneut der Gendarmerie entgegen.

Der Gesundheitsposten arbeitet im Akkord. Die Mehrheit der „Geheilten“ geht zurück zu ihren Blöcken. Denn sie haben etwas, das man nicht in Flaschen oder Tabletten kaufen kann: die Moral derjenigen, die sich einem gerechten Kampf zugehörig fühlen. Die Genossenschaft der vordersten Front, selbst wenn du die Person an deiner Seite nicht kennst. Die Wut, die dich aufstehen lässt, auch wenn die Beine nicht mehr mitmachen.

Mit dieser Moral dauert der Widerstand bis in die Nacht an. Schon wieder. Außer sich vor Wut gibt die kleine Generalin von Recoleta Befehle. Angreifen ohne Zurückhaltung. Mit der Lizenz zum Schlagen und Schießen versucht die Bundespolizei, den Platz vor dem Kongress zu räumen. Die Schüsse zielen auf die Gesichter. Beim letzten dieser Angriffe kriegt Matías Aufieri einen Schuss ins Auge. Er ist Menschenrechtsanwalt und Mitglied der PTS.

Der Zorn der Polizei entlädt sich gegen diejenigen, die über die Ereignisse berichteten, gegen die Mitarbeiter:innen der Presse. 30 Verletzte. „Wir wollen nicht, dass man sieht, was passiert“, gibt die Ministerin zu. Kresta Pepe, Fotograf für La Izquierda Diario, trifft ein Schuss nur Millimeter von seinem linken Auge entfernt; das Auge, das er schließt, wenn er eine Szene besser einfangen will. 

Die Blöcke der Demonstration zerstreuen sich kurz nach 22 Uhr. Die PTS-Jugend singt noch eine Weile weiter. „Wir sind hier, die kämpferische Linke an der Seite der Arbeiter:innen / wir sind hier, die Linke, die sich gegen alle Bosse stellt / wir waren immer zur Stelle, wenn man kämpfen musste“. Für viele Jugendliche waren das die ersten Zusammenstöße mit der Repression. Seit Dezember 2017, als zum letzten Mal solche Straßenkämpfe stattfanden, sind sechs Jahre vergangen. 

5. Essenzielle Arbeiter:innen

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Die Regierung fürchtet die Öffentlichkeit: Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen versorgen einen Journalisten. Bild: Enfoque Rojo

„Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn du einer Person unter die Arme greifst, die verletzt auf der Straße liegt und du einen Kittel anhast und die Leute wissen, dass du da bist, um zu helfen? Und plötzlich kommen drei Leute zu dir, um zu fragen, was sie tun sollen, und du sagst ihnen, wir tragen sie zum Posten und die Leute nehmen die Person hoch und tragen sie, egal ob der Posten 10 Meter oder einen Block entfernt ist, egal ob dir die Arme weh tun oder du Pfefferspray abbekommst? Weißt du, wie sich diese Solidarität anfühlt, Bruder?“

„Paco“ Cappone ist Arzt im Penna-Krankenhaus und Teil der klassenkämpferischen Gruppierung Marrón im Gesundheitssektor. Gemeinsam mit anderen Krankenhausbeschäftigten aus der Hauptstadt und der Provinz Buenos Aires, Medizinstudent:innen und Pflegestudent:innen haben sie einen „Gesundheitsposten“ aufgebaut. „Es sind sogar zwei Intensivärzte aus der Provinz Entre Ríos gekommen“, erzählen sie. 

„Es ist alles organisiert. Eine Triage teilt die Patient:innen je nach Schwere und Art der Verletzung ein, die Materialien werden verteilt, in einem Bereich findet die Behandlung für die Leute statt, die durch Gummigeschosse verletzt wurden, mit Ausrüstung, um Blutung zu stillen , und im anderen Bereich gibt es Milch, kalkhaltiges Öl und Mullbinden, um diejenigen zu behandeln, die Pfefferspray abbekommen haben.“

An diesen drei Tagen haben sie einen enormen Respekt erlangt. Die Journalist:innen und die Mitglieder verschiedener Organisationen wussten schon, wo der Posten war. Als die Blöcke auf den Platz kamen, applaudierten sie ihnen. Die Polizei ging dicht an ihnen vorbei und schoss, um sie einzuschüchtern.

Obwohl sie schon bei den Protesten 2017 und bei der Besetzung von Guernica zusammengearbeitet hatten, war die Herausforderung diesmal größer. An der „vordersten Front“ zu sein, wie schon in der Pandemie, aber diesmal im Widerstand. Am Wochenende regneten Nachrichten von Ärzt:innen, Pfleger:innen und Studierenden auf sie ein, die sich beteiligen wollen. 

Kommt dazu, das hier fängt gerade erst an. 

6. Der „Status“ in den Fabriken und die CGT

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Die Parole lautet: Generalstreik. Bild: Enfoque Rojo

Damián kommt zu seinem Arbeitsplatz im wichtigsten Elektrobetrieb des Landes und wird überrascht. Seine Kolleg:innen warten schon auf ihn. Sie waren nicht auf dem Platz vor dem Kongress, aber sie wissen, dass er dort war. „Sie hatten eine Menge N95-Masken gesammelt und einen Beutel für uns gefüllt. Sie haben mir gesagt, dass ich nach Hause gehen soll, um zu schlafen, damit ich mich ausruhen kann, um zurück auf den Platz zu gehen. Sie hatten die Videos der Abgeordneten der Linken in der Sitzung gesehen.“

Man muss es sagen: Diejenigen, die in diesen drei Tagen auf der Straße waren, sind Mitglieder linker Organisationen, Teil von klassenkämpferischen Gruppierungen oder überzeugt, dass man nicht mehr abwarten kann. Aber sie drücken den Unmut von Millionen aus, die die Konsequenzen von Mileis „Motorsägen“-Plan zu spüren beginnen. Die Mehrheit zögert noch. Das stimmt. Andere warten darauf, dass ihre Gewerkschaften auf die Straße gehen. Aber der Respekt und die Anerkennung gegenüber denen, die auf dem Kongressplatz waren, kann man auf viele Weisen spüren. 

Mirna erreichen unzählige Nachrichten von ihren Kolleg:innen aus der Schule: „Es muss mehr engagierte und furchtlose Menschen wie dich geben“. Am Fließband des Lebensmittelkonzerns Mondelez fühlt sich ein Arbeiter „wie ein Feigling, weil ich nicht dabei war, aber ich will dir was sagen: ich ziehe den Hut vor der Linken und der PTS, die dort für unsere Rechte kämpfen.“ Die Aktivist:innen der klassenkämpferischen Liste Bordó im Lebensmittelsektor waren an der vordersten Front, gemeinsam mit der klassenkämpferischen granatfarbenen Liste der Reifengewerkschaft und den Arbeiter:innen von GPS, der outgesourcten Tochtergesellschaft des Luftfahrtkonzerns Aerolíneas Argentinas. Am Donnerstag waren sie Teil derjenigen, die gegen den Versuch der Gendarmerie Widerstand leisteten, einen der Blöcke zu zerschlagen, um die Demonstrant:innen danach in die Zange zu nehmen. „Unseren Block, den wir gemeinsam mit Studierenden der Sozialwissenschaft, der Philosophie und Sprachwissenschaft, und mit den Arbeiter:innen von MadyGraf [der Druckerei unter Arbeiter:innenkontrolle, Anm. d. Ü.] organisiert hatten, konnten sie nie zerschlagen“, erzählt Martín Brat, Basisdelegierter bei GPS. „Und als wir am nächsten Tag zur Arbeit gingen, kamen viele Kolleg:innen auf uns zu und beglückwünschten uns, weil sie uns dort an der vordersten Front gesehen hatten, stolz darauf, unser Banner dort zu sehen.“ Bei ihnen sind auch die „Kofferträger“ von Aerolíneas, die sich darüber aufregen, dass die traurigen Delegationen des Peronismus sich vom Platz zurückzogen und noch nicht einmal „das Vaterland steht nicht zum Verkauf“ gesungen hatten.

Niemand kann davon überrascht sein, das Transparent von MadyGraf auf einer Demo gegen Kürzungen zu sehen. Egal welche Regierung. Vanina erzählt: „Das Gute ist, dass trotz der Repression am ersten Tag die Delegation am zweiten Tag doppelt so groß war und viele Frauen mitgekommen sind. Elf Kolleginnen in der ersten Reihe.“ Außerdem haben sie angefangen, sich mit den Nachbarschaftsversammlungen und den Kultursektoren der Nördlichen Zone von Buenos Aires zu treffen. „Dieses Bündnis ist mächtig, wenn es sich entwickelt.“

An anderen Orten wie den großen Automobilfabriken drückte sich die Wut gegen die Repression und gegen die Rechten in den „Status“-Anzeigen bei WhatsApp aus. Dutzende Memes gegen die Polizei und die Regierung.

Angesichts dieser Moral haben die klassenkämpferischen Gruppierungen eine neue Herausforderung: diesen „Status“ der Solidarität in Mobilisierung umzuwandeln. Die Wut in die Aufforderung an die Gewerkschaften umzuwandeln, auf die Straße zu gehen.

7. Die Enkel von Onganía und die Kinder des Cordobazo

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Pfefferspray gegen die revolutionäre Linke: Die PTS steht in der ersten Reihe des Kampfes. Bild: Enfoque Rojo

Am dritten Tag, dem Freitag, wiederholte die Ministerin ihre Show und die Gewalt, um „ihre Ordnung“ durchzusetzen. Inmitten des Festivals „Vereint für die Kultur“ provozierten die Sicherheitskräfte Rentner:innen, die auf dem Gehweg protestierten, und spielten ihre Repressionsshow, die mit brennenden Mülltonnen und dutzenden Verletzten endete.

Wie die Lehrerin zu ihrer Kollegin sagte, fängt es gerade erst an. Am heutigen Dienstag geht die Diskussion im Abgeordnetenhaus weiter. Danach im Senat. Das Gefeilsche wird weitergehen. Aber die Straße wird erneut umkämpft sein. Der landesweite Streik am 24. Januar zeigte trotz der „Behutsamkeit“ der Gewerkschaftsführungen, dass die Kraft vorhanden ist. Die Linke zeigte in diesen Tagen, dass sie nicht spekuliert. Sie will keine Gesetze verhandeln und noch weniger auf 2027 im Kalender warten. 

Wir wollen aber auch nicht nur einige Tausend sein, die auf dem Platz Widerstand leisten, auch wenn wir stolz darauf sind. Wir wollen, dass die gesamte Unzufriedenheit sich Bahn bricht. Wir wollen dabei helfen, dass die Arbeiter:innenklasse aufsteht. Wir wollen, dass die Versammlungen sich selbst organisieren und sich denjenigen anschließen, die das Land zum Laufen bringen. Wir wollen, dass die kämpferischen Sektoren sich koordinieren und Millionen mit der Idee anstecken, dass man den Plan von Milei und dem IWF stürzen muss.

Dafür kämpfen wir auf der Straße, aber auch auf jeder Tribüne, die uns dabei hilft, unsere Stimme zu vervielfältigen. Was wir wollen, sagte niemand besser als Christian Castillo im Kongress:

„Die Macht ruft Widerstand hervor. Die zaristische Autokratie brachte die Oktoberrevolution hervor. Die Diktatur von General Onganía brachte den Aufstand hervor, der als Cordobazo bekannt wurde. Der Neoliberalismus der 90er brachte die Volksrebellion von 2001 hervor. Und die Politik des Hungers und des Elends der jetzigen Regierung bringt ebenfalls in jeder Fabrik, in jedem Betrieb, in jeder Fakultät Widerstand hervor. An jedem Ort in Argentinien, vom Norden zum Süden, vom Osten zum Westen, wird der Widerstand aufgebaut, um diese Anpassungspolitik im Dienste des IWF zu beenden. Und wir hoffen, dass aus diesem Widerstand ein grundsätzlicher Ausweg entsteht. Ein Ausweg, der schließlich den IWF rauswirft, die Löhne wiederherstellt, die Verkürzung des Arbeitstags auf 6 Stunden durchsetzt. Ein Ausweg, um ein für alle Mal die Arbeitslosigkeit zu beenden und mit dem Aufbau einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu beginnen – einer sozialistischen Gesellschaft.“

Für diesen Ausweg setzen wir unsere Körper ein.

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"Madygraf unter Arbeiter:innenverwaltung", "Kampfplan jetzt! Nieder mit Notstandsdekret, Omnibusgesetz und Anti-Protest-Protokoll", "Versammlung der Zone West", "Kampfplan bis Milei besiegt ist". Bild: Enfoque Rojo

Dieser Artikel erschien erstmals am 4. Februar bei La Izquierda Diario.

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