Argentinien: „Superminister” der Superreichen kommt undemokratisch an die Macht
Angesichts der tiefen Krise in Argentinien wurde Sergio Massa zum "Superminister" ernannt – ein wahrhaftiger Regierungswechsel ohne Wahl. Dagegen braucht es einen unabhängigen Ausweg der Arbeiter:innenklasse und eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung.
Vor wenigen Tagen wurde Sergio Massa, bisheriger Vorsitzender des argentinischen Abgeordnetenhauses, zum „Superminister“ für Wirtschaft ernannt. Unter seiner Kontrolle werden die Bereiche Produktion, Landwirtschaft und die Beziehungen zu internationalen Kreditgebern wie dem IWF stehen. Ohne dass ihn jemand gewählt hätte, wurde er zur Schlüsselfigur in der nationalen Exekutive. Demgegenüber bleibt der Präsident Alberto Fernández, der völlig diskreditiert ist, fast nur noch eine Symbolfigur.
Mit dieser enormen Machtfülle wird Massa in der Lage sein, über eine breite Palette von Themen zu entscheiden, die das Leben der großen Mehrheit betreffen: Gebühren der öffentlichen Dienstleistungen, Gehälter, Preise, Inflation, Renten, Sozialhilfe, Exporte und Importe. Gleichzeitig wird er in Anbetracht der Beziehungen zu den internationalen Kreditgebern versuchen, die Umsetzung der Kürzungspläne voranzutreiben und die nationale Unterwerfung unter das internationale Kapital zu vertiefen, wie es diese fordern.
Aus all diesen Gründen ist seine Ernennung nicht nur ein Kabinettswechsel, sondern direkt ein Regierungswechsel. Es ist eine Entscheidung, die ohne die Zustimmung oder Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung getroffen wurde. Es war das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Alberto Fernández, Cristina Kirchner und Massa selbst. Damit gaben sie dem Druck der großen kapitalistischen Spekulant:innen des Agrarsektors, im Finanzwesen, im Handel und in der Industrie nach, die auf eine Entwertung der Währung drängten. Sie überließen die gesamte Macht einem politischen Funktionär, der enge Beziehungen zum Großkapital und zur US-Botschaft unterhält. Die Wirtschaftsmächte Treffen jeden Tag Entscheidungen gegen die Mehrheit der Bevölkerung, durch Marktputsche, Devisenabflüsse oder Preiserhöhungen. Und jetzt legen sie auch noch fest, wer innerhalb der Regierung die wichtigsten Hebel der Wirtschaft zu kontrollieren hat.
Was immer er auch sagen mag, Massa unterstützt die Anpassungspolitik im Dienste der Mächtigen. Ein Blick in seine Vergangenheit dient dazu, zu verstehen, wie seine Regierung aussehen wird: Er begann in der liberalen Rechten von Álvaro Alsogaray, war ein Anhänger des neoliberalen Peronisten Menem, dann von Eduardo Duhalde (der Anfang 2002 in der argentinischen Wirtschaftskrise die Entwertung des Peso anordnete, A.d.Ü.), dann von Néstor und Cristina Kirchner und gründete schließlich die „Frente Renovador“ (dt. „Front der Erneuerung“). Einer seiner Verbündeten in den Provinzen ist zum Beispiel Mariano Arcioni, Gouverneur von Chubut, der den umweltschädlichen Megabergbau vorantreibt und ebenfalls verantwortlich für zahlreiche Repressionen ist.
Während der rechten Regierung von Mauricio Macri waren Massa und die „Frente Renovador“ aktive Garanten für die Regierungsfähigkeit Macris. Die Umsetzung der Kürzungspläne und die Verschuldung wären ohne ihre Unterstützung im Nationalkongress nicht möglich gewesen.
Als die peronistische „Frente de Todos“ (dt. „Front aller“, Regierungsbündnis von Alberto Fernández) bereits an der Macht war, stimmte Massa als Präsident der Abgeordnetenkammer für alle Anpassungsgesetze, die den Weg für das neue Abkommen mit dem IWF ebneten. Eine Vereinbarung, die Macris illegalen Schuldenbetrug legitimierte und die katastrophale Krise, die wir derzeit erleben, nur noch vertieft hat.
Die Ernennung von Massa zum Superminister hat nur ein Ziel: Es handelt sich um den Versuch, die Leerung der Reserven der Zentralbank und einen Sprung in der Wirtschaftskrise zu vermeiden, die – gespeist von politischer Schwäche und sozialer Krise – die Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte in den Abgrund zu reißen droht. Sie versuchen, die politische Stärke zu erlangen, um die mit dem IWF vereinbarte Anpassung weiter durchzusetzen. Eine Anpassung, die der ehemalige Wirtschaftsminister Martín Guzmán aufgrund seiner politischen Schwäche nicht weiter vorantreiben konnte und die die nach ihm folgende Wirtschaftsministerin Silvina Batakis nicht durchführen konnte, weil sie nicht über einen klaren und ausreichenden Rückhalt verfügte. Diese Anpassung wird auch von den Großunternehmer:innen gefordert und geht im Wesentlichen in die gleiche Richtung wie das, was die rechte Opposition von „Juntos por el Cambio“ (dt. „Gemeinsam für den Wandel“, Wahlbündnis von Mauricio Macri) und die Ultraliberalen um Milei und Espert fördern. Die Partei von Macri, Larreta und Bullrich will zurück an die Regierung, nachdem der Peronismus ihr den Weg geebnet hat, indem er die Drecksarbeit der Anpassung erledigt hat.
Massa wird zum Superminister, um Ordnung zu schaffen, wie er selbst sagte. Er wollen das so genannte „fiskalische Gleichgewicht“ durchsetzen, d. h. er will die Ausgaben für Gesundheit, Bildung, Gehälter oder Renten kürzen, um die Vereinbarung mit dem IWF zu garantieren. Diese Vereinbarung wurde im Kongress von einem großen Teil der „Frente de Todos“ und der rechten Opposition von „Juntos por el Cambio“ angenommen. Er wird auch für die Entwertung der Währung zuständig sein, auf die der IWF und die Großkapitalist:innen des Agrarsektors drängen. Dies wird den Inflationsdruck erhöhen (da der Anstieg der Kosten für importierte Vorleistungen auf die Preise übertragen wird) und die Gehälter, Renten und Sozialpläne weiter drücken. Gleichzeitig wird er weiterhin Zugeständnisse an das Großkapital machen, wie z. B. Zinserhöhungen, die das Spekulationsgeschäft der Banken garantieren, um den Preis, dass sie rezessive Tendenzen in der Wirtschaft hervorrufen. Ebenso wird er Vergünstigungen wie Steuererleichterungen für Teile des Kapitals umsetzen, oder das Zugeständnis eines Differenzialdollars, wie es für die Kapitalist:innen des Agrarsektors bereits angekündigt wurde.
Aus all diesen Gründen ist es kein Zufall, dass die „Märkte“ die Ankunft von Massa mit Begeisterung aufgenommen haben, auch wenn abzuwarten bleibt, wie sich die Situation im Laufe der Zeit entwickelt. Die strukturellen Probleme der argentinischen Wirtschaft sind sehr tiefgreifend und werden sich noch weiter verschärfen, wenn der IWF seinen Kurs fortsetzt. Die internationale und nationale Krise könnte Massas Versuch zum Scheitern bringen. Gleichzeitig wird diese Situation die soziale Unzufriedenheit verstärken und neue Episoden des Klassenkampfes hervorrufen sowie die Möglichkeit bieten, ihre Anpassungs- und Kapitulationspläne zu vernichten.
Der abhängige argentinische Kapitalismus und die Vereinbarung mit dem IWF sind es, die das Land weiterhin untergehen lassen. Dieser bringt immer mehr wirtschaftliches Chaos mit sich: durch Inflation, Preissteigerungen und sinkende Kaufkraft; durch den Aufstieg des Parallel-Dollar und wirtschaftlichem Chaos; durch mehr Armut für arbeitende Familien, während die Großkapitalist:innen Gewinne machen. In einem internationalen Szenario, das zunächst von der Pandemie und dann von den Folgen des Krieges in der Ukraine geprägt ist, hat sich dieses Muster noch verschlimmert.
Deshalb können die Arbeiter:innenklasse, die Armen und die Jugend keinen Augenblick darauf vertrauen, dass Sergio Massa eine Lösung bringen wird. Er war einer der größten Befürworter:innen dieses Abkommens mit dem IWF. Seine allgemeine Politik wird darin bestehen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Peronismus und Kirchnerismus im Angesicht der Krise
Die Anführer:innen der Gewerkschaftszentrale CGT (Privatsektor) und fast die gesamte Gewerkschaftszentrale CTA (öffentlicher Dienst) begrüßten die Ernennung von Massa. Dieselben Gewerkschaftsführer:innen sind diejenigen, die seit mehr als vier Jahren einen Waffenstillstand geschlossen haben, zuerst mit Macri und dann mit Alberto Fernández. Das heißt, sie erlauben es, dass die Regierung die Anpassung vorantreibt, ohne zu Kampfmaßnahmen aufzurufen. Dieselben Anführer:innen sind es, die in den allermeisten Fällen die kämpferische Opposition innerhalb der Arbeiter:innenorganisationen verfolgen und eine demokratische Organisation der Arbeiter:innen zur Verteidigung ihrer Rechte und zum Kampf für ihre Forderungen verhindern.
Auch die peronistischen Gouverneure haben Massa unterstützt. Sie sind es, die eine Politik der Rohstoffausbeutung verteidigen, die die Umwelt zerstört, um die Schulden beim IWF zu bezahlen.
Der Kirchnerismus hat Massas Aufstieg gefördert. Cristina Kirchner hat vorerst aufgehört, sich öffentlich zu äußern, nahm aber an allen Verhandlungen teil, die es ermöglicht haben, Sergio Massa „alle Macht“ zu übertragen. Nach Guzmáns Rücktritt wurde deutlich, dass in der Regierung nichts ohne ihre Zustimmung vorankommt. Das Schweigen der Vizepräsidentin ist eine Art, alles zu billigen, was getan wird, und gleichzeitig zu versuchen, so viel wie möglich von ihrem politischen Kapital zu schützen, angesichts der Anwendung einer Politik der Anpassung und der Kapitulation.
Für einen Ausweg der Arbeiter:innenklasse und eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung
Die Macht in der Regierung wurde Sergio Massa übertragen, ohne dass das Volk ihn gewählt oder irgendetwas entschieden hätte. Er wurde auf dem Gipfel der „Frente de Todos“ wegen seiner Verbindungen zu den Mächtigen in der Wirtschaft gewählt. Die so genannten „Märkte“ haben ihn schließlich durchgesetzt.
Dies ist ein neuer Angriff auf den Willen des Volkes, der seit langem mit Füßen getreten wird. Macris Regierung versprach null Armut und hinterließ ein Land mit Rekordinflation, noch mehr Armut und den betrügerischen Schulden beim IWF, die ebenfalls von niemand anderem als Macri beschlossen wurden. Eine Vereinbarung, die, obwohl sie im Kongress nicht gebilligt wurde, die Anpassungsrichtlinien für den Haushalt 2019 vorgab und für die ein großer Teil des Peronismus, angefangen bei Massa und Co. selbst, gestimmt hat. Zu dieser Liste der Täuschungen des Willens der Bevölkerung muss man die „Frente de Todos“ hinzufügen, die mit dem Versprechen antrat, Macris Erbe rückgängig zu machen, den Kühlschrank zu füllen und sich gegen die Schulden des IWF auszusprechen, aber letztendlich das Gegenteil tat.
Dies zeigt den absolut begrenzten Charakter dieser kapitalistischen Demokratie. In diesem politischen System können die Arbeiter:innen einmal alle zwei oder vier Jahre wählen. Aber die wirtschaftliche Macht entscheidet jeden Tag.
Die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, die das Leben von Millionen von Familien bestimmen, können nicht in den Händen eines Superministers liegen, der gewählt wurde, um das Anpassungsabkommen mit dem IWF zu garantieren. Es kann auch nicht in den Händen des Kongresses bleiben, wo die „Frente de Todos“ und „Juntos por el Cambio“ ihre Abkommen zur Abstimmung von Gesetzen gegen die Massen durchsetzen. Sie können auch nicht mit der ständigen Erpressung durch die großen Wirtschaftsmächte verbunden werden, die sich auf Kosten des Leidens der Mehrheit bereichern. Noch weniger können sie sich Richter:innen und Staatsanwält:innen anvertrauen, die Teil einer mit Privilegien ausgestatteten Justiz sind, die durch tausend Verbindungen zum Großkapital gebunden ist. Es sollte die Bevölkerung selbst sein, die diskutieren und entscheiden, wohin sich das Land entwickelt.
Angesichts dieses Szenarios ist es notwendig, dass die Arbeiter:innenklasse zusammen mit der kämpferischen Jugend und der Frauenbewegung in die Krise eingreift. Unsere allgemeine Perspektive ist, dass die Arbeiter:innenklasse mit ihrem eigenen Programm in die nationale Krise eingreifen sollte, indem sie als führende Klasse der Gesamtheit, der von der Krise ruinierten Armen und Mittelschichten, agiert.
Von der Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS) in der Front der Linken – Einheit (FIT-U) aus haben wir den Waffenstillstand der CGT- und CTA-Bürokratie (Bürokratien argentinischer Gewerkschaften, A.d.Ü.) angeprangert. Angesichts dessen schlagen wir Versammlungen in allen Betrieben vor, um einen nationalen Streik und Kampfplan in der Perspektive des Generalstreiks zu organisieren und den Bürokrat:innen aufzuzwingen, für unsere unmittelbaren Forderungen bezüglich der Krise und um den Sparplan zurückzuschlagen. Wir schlagen die Koordinierung aller kämpferischen Sektoren vor, um diesen Kampf zu führen.
Parallel dazu haben wir an den Arbeitsplätzen, Studienorten und in den Stadtvierteln eine massive Agitationskampagne für sechs dringende Maßnahmen angesichts der Krise durchgeführt: für eine Notfallerhöhung der Löhne, der Renten und der Sozialprogramme, mit automatischer Aktualisierung: d.h. wenn die Preise steigen, steigen die Einkommen; für die Verstaatlichung des Außenhandels und der großen Agrarunternehmen unter Arbeiter:innenverwaltung, um der Spekulation der Großkonzerne ein Ende zu setzen, die die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt und Millionen Menschen hungern lässt; für echte Arbeit für alle: Verkürzung des Arbeitstages: 6 Stunden pro Tag, 5 Tage die Woche, ohne dass die Löhne darunter leiden. Ein nationaler Plan für öffentliche Arbeiten, der den Bedürfnissen der Massen dient; gegen die Erhöhung der Gebühren und für die Verstaatlichung der öffentlichen Dienstleistungen unter der Kontrolle der Arbeiter:innen, denn nur so können wir erschwingliche Preise für die Werktätigen garantieren und den Service verbessern, während wir den Schutz der Umwelt gewährleisten; raus mit dem IWF, für die souveräne Nichtbeachtung der Schulden; und für die Verstaatlichung des Bankensystems unter der Kontrolle der Arbeiter:innen, wobei ein einziges staatliches Bankensystem geschaffen wird, das billige Kredite für den Wohnungsbau, Kleinstunternehmen und kleine Händler:innen garantiert (eine solche Verstaatlichung würde die Einlagen der kleinen und mittleren Sparer:innen schützen).
Unser gesamter Vorschlag bedeutet letztlich, neben den dringenden und unmittelbaren Kämpfen und Forderungen bezüglich der Angriffe, einen anderen Ausweg aus der Krise ins Gespräch zu bringen, welche wir durch die Verantwortung der aufeinander folgenden kapitalistischen Regierungen erreicht haben.
Wir revolutionären Sozialist:innen der PTS kämpfen für eine Regierung der Arbeiter:innen und Armen, die sich auf Räte gewählter Delegierter an den Arbeitsplätzen und in den Stadtteilen stützt. Dort, wo die Arbeiter:innen im breitesten Sinne des Wortes regieren und den politischen Tagesablauf der Gesellschaft bestimmen. Eine Regierung, die die Produktions- und Zahlungsmittel vergesellschaftet und das Eigentum der Kapitalist:innen angreift, ist die einzige Möglichkeit, die Wirtschaft demokratisch und rational nach den sozialen Bedürfnissen zu planen. Dies bedeutet, den Übergang zum Sozialismus, einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, einzuleiten, der nur auf internationaler Ebene vollständig verwirklicht werden kann.
Wir wissen jedoch, dass diese Sichtweise heute nicht von der Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und der Bevölkerung geteilt wird, die in den Mechanismen der repräsentativen Demokratie – wenn auch mit zunehmender Enttäuschung – die Möglichkeit sieht, ihren Willen in die Geschicke des Landes einzubringen. Aus diesem Grund und angesichts der Krise schlagen wir vor, für eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung zu kämpfen – die demokratischste Institution, die es in Regimen mit allgemeinem Wahlrecht geben kann, in der wir unser Programm für einen Ausweg aus der Krise vorlegen würden, um es demokratisch zu diskutieren. Eine Versammlung, die die Gesetze und Institutionen in Frage stellen würde, die heute die kapitalistische Herrschaft über die Gesellschaft und die Anpassungspolitik garantieren. Sie sollte aber auch über die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der arbeitenden Mehrheit sowie über die Maßnahmen sprechen, die das Land angesichts der Krise ergreifen muss. Oder in wessen Händen die strategischen Sektoren der Wirtschaft wie Energie, Banken, Häfen, Verkehr und Lebensmittel liegen sollten. In der Versammlung sollte diskutiert werden, wohin die Mittel fließen sollen: in den IWF oder in die Schaffung von Arbeitsplätzen, Wohnraum, Gesundheit, Gehältern, Renten. Oder was mit den Privilegien der politischen und richterlichen Klasse geschehen soll. Sie soll vorschlagen, allen Abhängigkeitsverhältnissen, die uns von den imperialistischen Mächten abhängig machen, ein Ende zu setzen.
Diese verfassungsgebende Versammlung muss wirklich frei und souverän sein: Es darf keine Grenzen für das geben, was diskutiert und beschlossen wird. Wir haben erst kürzlich gesehen, welche Grenzen einer solchen Instanz gesetzt werden können. Die verfassungsgebende Versammlung Chiles wurde nach dem großen Volksaufstand vom Oktober 2019 einberufen. Eine Rebellion, die viele der Pfeiler der alten und neoliberalen Verfassung des Unterdrückers Pinochet in Frage stellte. Dieser Prozess wurde jedoch umgelenkt. Aufgrund von Absprachen zwischen den verschiedenen politischen Parteien, die das kapitalistische Regime verteidigten, war der verfassungsgebende Konvent sowohl in Bezug auf die Themen, die er behandeln konnte, als auch auf die Art und Weise, wie er arbeiten und die Debatten lösen sollte, begrenzt. Obwohl der rechte Flügel vorschlägt, die neue Verfassung, die aus diesem Konvent hervorgegangen ist, in der Volksabstimmung im September abzulehnen, lässt die neue Verfassung viele Probleme ungelöst. Der von uns unterbreitete Vorschlag zielt darauf ab, eine Wiederholung dieser Erfahrung zu vermeiden: Der Wille der Menschen, über die Ziele des Landes zu entscheiden, darf durch nichts eingeschränkt werden.
Wir schlagen eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung vor, die in der Lage ist, den Willen der Massen wirklich zum Ausdruck zu bringen. Sie sollte sich aus einer:m Abgeordneten pro 20.000 Einwohner:innen zusammensetzen; ihre Mitglieder sollten keine privilegierte Klasse bilden, wie diejenigen, aus denen der derzeitigen Kongress zusammen gesetzt ist, sondern widerrufbar sein und genauso bezahlt werden wie ein:e Lehrer:in oder ein:e Arbeiter:in. Eine verfassungsgebende Versammlung, die uneingeschränkt befugt ist, sich mit allen wichtigen nationalen Problemen zu befassen, die nicht durch ein vermeintliches „Gegengewicht“ eingeschränkt ist und bei der keine der Institutionen des derzeitigen Regimes das Recht hat, die von ihr beschlossenen Maßnahmen auszusetzen oder ein Veto einzulegen.
Wir wissen, dass der Kampf für eine verfassungsgebende Versammlung mit diesen Merkmalen auf den Widerstand der Großkapitalist:innen und der Vertreter:innen der traditionellen Politik stoßen wird, die weiterhin hinter dem Rücken der Mehrheiten entscheiden wollen, um eine Rechte Lösung für die aktuelle Krise durchzusetzen. Deshalb ist dieser Kampf mit der Perspektive der Entwicklung einer möglichst breiten Mobilisierung und Koordinierung der Arbeiter:innen und der Massen verbunden, die auf die Entwicklung der Selbstorganisation in jedem Unternehmen, in jedem Viertel oder an jedem Studienort setzt. Dies ist die einzige Garantie, um die Manöver zu verhindern und den Unterdrückungsversuchen entgegenzutreten, die von der herrschenden Klasse, die für die Krise und den Verfall des Landes verantwortlich ist, gefördert werden.
Ursprünglich veröffentlicht am 30. Juli in La Izquierda Diario.
Übersetzt von Miri P.