Argentinien: Massenhafter Widerstand gegen Rentenreform, Regierung in der Krise

21.12.2017, Lesezeit 8 Min.
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Am Dienstagmorgen konnte die argentinische Regierung von Mauricio Macri die verhasste Rentenreform im Kongress beschließen. Damit erringt sie einen zweifelhaften Erfolg inmitten einer politischen Krise, die es Millionen erlaubte, eine Erfahrung mit der Regierung zu machen.

Auf dem Kontinent des „magischen Realismus“ versuchte die neoliberale Cambiemos-Regierung in Argentinien ihr eigenes Wunder zu vollbringen. Ihre Rentenreform soll fast 17 Millionen Menschen die Bezüge und Sozialleistungen kürzen. Fünf Milliarden Euro will sie damit pro Jahr einsparen. Ein solcher brutaler Angriff will gut verkauft sein. Doch die Lüge, dass die Renten nicht sinken würden, glaubte niemand. Sieben von zehn Argentinier*innen lehnen laut Umfragen die nun beschlossene Reform ab.

Diese breite Ablehnung hatte sich schon vergangene Woche gezeigt, als die Regierung am Donnerstag erstmals versucht hatte, das Gesetz zu beschließen. Zehntausende demonstrierten in Buenos Aires vor dem Parlament und in vielen Städten gegen das Regierungsprojekt. Der Protest wurde mit einer brutalen Repression beantwortet und es gab mehr als 40 Festnahmen. Daraufhin musste die Regierung die Parlamentssitzung abbrechen und die Kürzungspläne vertagen.

Die Bilder einer empörten Masse vor dem durch ein großes Polizeiaufgebot abgeschirmten Kongresswiederholten sich auch in dieser Woche. Auch diesmal wurden die Proteste von Arbeiter*innen, Studierenden, Rentner*innen und linken Organisationen sogar teilweise mit Bleigeschossen angegriffen. Das Ergebnis dieser Repression waren fast 50 Festnahmen, Hausdurchsuchungen, dutzende Verletzte und vier Menschen, die ein Auge verloren.

Nur mithilfe der Opposition

Doch die Regierung gab den Forderungen zahlreicher Abgeordneter, die Sitzung erneut abzubrechen, nicht nach und setzte die Abstimmung bis in den Morgen des kommenden Tages fort. Denn es handelt sich um viel Geld, das die Regierung durch die Rentenreform einsparen und in ihre Regierungsfähigkeit investieren will. Denn ein Großteil der 100 Milliarden Pesos wird nicht zur Tilgung des Haushaltsdefizits benutzt, sondern wird mittels eines Fiskalpaktes mit den Provinzen (Bundesländer) auf die Kassen der Gouverneure aufgeteilt.

Der größte Pott geht dabei an María Eugenia Vidal von Cambiemos, die in der größten und bevölkerungsreichsten Provinz von Buenos Aires regiert und sich damit die Kampagne für die Wiederwahl finanzieren will. Für die anderen Gouverneure, zahlreiche von ihnen auch von der peronistischen Opposition, sind diese Millionen ein Ausgleich dafür, dass sie die bisherige Politik von Macri mitgetragen und durchgesetzt haben und dies auch weiterhin tun werden.

Diese indirekte Unterstützung durch die Opposition ist zentral für die Regierungsfähigkeit von Macri. Das zeigte sich erneut bei der Abstimmung über die Rentenreform: Nur 127 Abgeordnete stimmten dafür, 117 dagegen und zwei enthielten sich. Entscheidend dabei war die Abwesenheit der zehn Abgeordneten des Kirchnerismus der vorherigen Regierung. Noch vor wenigen Wochen gaben sie sich im Wahlkampf als kämpferische Opposition. Jetzt ermöglichten sie der Regierung durch ihre Abwesenheit, diesen brutalen Angriff durchs Parlament zu bekommen.

Angriff folgt auf Angriff

Ein wichtiges Argument der Regierung für die nötigen Einschnitte ist die immer größer werdende Staatsverschuldung. Macri braucht das Geld, um die Lücken im Haushalt zu füllen, die durch die Abschaffung der Exportsteuern für Großunternehmen entstanden und mildert damit gleichzeitig die Folgen seiner Politik des Sozialkahlschlags ab. Doch von rechts wird die zunehmende Verschuldung als Argument für noch größere Kürzungen benutzt. Die Rentenreform ist ein Teil dieses Kriegsplans des Großkapitals gegen die Arbeiter*innenklasse, doch wird nicht die letzte Reform bleiben.

Denn gleich am Tag nach der umkämpften Abstimmung wurde im Kongress über die Steuerreform der Regierung diskutiert, die Steuererleichterungen für Unternehmen von umgerechnet 7,1 Milliarde Euro vorsieht. Für diese Politik hat Macri in Argentinien schon den Spitznamen „Hood Robin“ bekommen – denn er nimmt den Armen, um es den Reichen zu geben. Der Erzählung der Regierung zufolge sollen durch diese Politik – die auch die Streichung von Subventionen und eine allgemeine Liberalisierung beinhaltet – die Arbeitskosten gesenkt und damit das Investitionsklima verbessert werden. Doch in einer Welt, die von der Stärkung des Nationalstaats (Trump) und der Abkehr von multilateralen Bündnissen (Brexit) geprägt ist, geht diese Politik nicht auf. Deshalb steigt der Druck auf Macri, seine neoliberale Reformpolitik zu beschleunigen.

Bisher hatte er seine Kürzungspolitik nach einer massiven Entlassungswelle in dem ersten Regierungsjahr etwas verlangsamt. Das war ein Zugeständnis an das Kräfteverhältnis in Argentinien: Nach den revolutionären Tagen 2001 und einer Massenarbeitslosigkeit von 25 Prozent zu Beginn des Jahrtausends hatte sich die Arbeiter*innenklasse erholt und an Kraft gewonnen. Um die Parlamentswahlen in der Mitte der Mandatszeit zu überstehen, musste er auf die Bremse treten. Dies zahlte sich bei den Wahlen am 22. Oktober tatsächlich aus. Er gewann mit einer souveränen Mehrheit. Doch war dieses Ergebnis nicht Ausdruck einer Zustimmung für seine Politik, sondern viel mehr der verallgemeinerten Ablehnung der korrupten Vorgängerregierung von Cristina Fernández de Kirchner geschuldet. Zudem war keine der jetzt beschlossenen Reformen Teil der Wahlkampagne und noch im August sagte Regierungssprecher Marco Peña, es würde keine Rentenreform geben.

Macris Annahme, der Wahlerfolg würde es ihm ermöglichen, den Sozialkahlschlag voranzutreiben, ging nicht auf. Mit der Rentenreform machte er nicht nur seinen Gegner*innen erneut klar, dass es sich bei der aktuellen Koalition um eine Regierung von den Bossen für die Bosse handelt. Auch die eigene Basis, die vor allem aus älteren Menschen besteht, wurde direkt angegriffen und mit ihr ein gesellschaftlicher Sektor, die Rentner*innen, der die gesamte Gesellschaft direkt oder indirekt betrifft. Der Angriff auf die Rentner*innen und die brutale Repression, mit der er verteidigt wurde, machten breiten Teilen der Gesellschaft deutlich, was sie von der Demagogie Macris während des Wahlkampfes halten sollten. Ab jetzt wird er es noch schwieriger haben, wenn er Kürzungen gegen den Willen der Bevölkerung durchführen will.

Massenhafter Widerstand und Regierungskrise

Nach langem Zögern, großem Druck von der Basis und der Linken und ohne Vorbereitung kündigte sogar der Gewerkschaftsdachverband CGT am Montag einen 24-stündigen Streik an. Doch obwohl die Bürokrat*innen, die gleichzeitig hinter dem Rücken ihrer Mitglieder mit der Regierung über die geplante Arbeitsmarktreform verhandeln, nichts für den Erfolg der Maßnahme taten, nahmen Arbeiter*innen an vielen Orten den Streik in die eigenen Hände. Das für seine kämpferische Tradition bekannte Schiffswerk Rio Santiago de Ensenada organisierte 17 Busse und schickte 700 Arbeiter*innen ins Stadtzentrum von Buenos Aires, ähnliches geschah in den Lebensmittelfabriken im Norden von Buenos Aires und an vielen anderen Orten des Landes.

Eine entscheidende Rolle bei diesen spontanen Massenprotesten der letzten Tage spielte die revolutionäre Linke, die sich in den Jahren nach 2001 mit der Arbeiter*innenklasse verband und sich mittlerweile zu einer bedeutenden Fraktion derselben entwickelt hat. Dazu kamen in den vergangenen Jahren beachtenswerte Wahlerfolge des trotzkistischen Bündnisses Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT), die mit drei Abgeordneten im Kongress und mit über 40 Vertreter*innen in den regionalen und lokalen Parlamenten sitzt. Die FIT und besonders ihre größte Organisation, die Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS), haben aktiv dazu beigetragen, die Mobilisierungen größer zu machen und aufrecht zu erhalten.

Im Parlament haben ihre Abgeordneten wie Nicolás del Caño von der PTS die Regierung zusammen mit der komplizenhaften Opposition bloßgestellt. Er zeigte auch mit seiner Forderung nach einer Rente, die 82 Prozent des Einkommens entspricht und sich automatisch an die Inflation angleicht, eine darüber hinausgehende Perspektive auf. Dazu forderte er die Verringerung der Arbeitszeit auf sechs Stunden, fünf Tage die Woche, um allen Arbeitslosen Arbeit zu geben. „Dafür muss man die Gewinne der Kapitalist*innen angreifen. […] Das lässt sich jedoch nur mit einer Arbeiter*innenregierung durchführen, für die wir kämpfen“, sagte Del Caño am Dienstag im Parlament.

Mit den Protesten gelang es nur, die Rentenreform wenige Tage zu verschieben, nicht jedoch sie komplett zu verhindern. Die Regierung konnte ihr Projekt zwar durchbringen, es bleibt jedoch ein Pyrrhussieg. Die politische Krise ist noch nicht vorbei und es beginnt ein neues Kapitel der Regierung, das von größeren Widersprüchen und Instabilität geprägt sein wird. Der Linken kommt in dieser Zeit die Aufgabe zu, die Schlussfolgerungen, die Millionen aus den vergangenen Tagen über die Regierung gezogen haben, zu radikalisieren und in revolutionäre Organisierung an den Arbeitsplätzen, Universitäten, Schulen und Vierteln zu verwandeln. Denn nur so können die arbeiter*innenfeindlichen Pläne der Regierung wirklich gestoppt und für eine sozialistische Perspektive gekämpft werden.

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