Argentinien kurz vor der Legalisierung der Abtreibung: Ein Interview mit der sozialistischen Feministin Andrea D’Atri

29.12.2020, Lesezeit 10 Min.
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PHOTO: Agustin Marcarian/Reuters

Heute wird der argentinische Senat über einen Gesetzesentwurf zur Legalisierung von Abtreibungen abstimmen. Was das Gesetz bedeutet, wie sich die Bewegung entwickelt hat und welche Aufgaben nun anstehen – darüber hat Left Voice mit Andrea D’Atri, Anführerin der Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS) und Gründerin der sozialistisch-feministischen Gruppe „Pan y Rosas“, gesprochen.

Am heutigen Dienstag wird der argentinische Senat wahrscheinlich ein Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung verabschieden. Anfang des Monats hatte das Repräsentantenhaus die Maßnahme gebilligt, die auch von der Regierung des Präsidenten Alberto Fernandez unterstützt wird. Dies ist ein Sieg für die feministische Bewegung und die Linke in Argentinien und gleichzeitig ein Beispiel für feministische Bewegungen auf der ganzen Welt. Wenn das Gesetz verabschiedet wird, wird das Recht auf Abtreibung kein Geschenk der Mitte-Links-Regierung sein – es wird eine Errungenschaft der hartnäckigen Mobilisierung der feministischen Bewegung und der revolutionären Linken sein, die diesen Kampf seit Jahrzehnten führen.

Das Gesetz hat jedoch Grenzen und wir müssen uns weiterhin organisieren, um für unsere Rechte zu kämpfen. Left Voice hat darüber mit Andrea D’Atri, Mitglied der PTS und Gründerin der sozialistisch-feministischen Organisation „Pan y Rosas“ geredet. In diesem Interview erklärt Andrea, wie dieses Recht erkämpft wurde, was die Grenzen des Gesetzes sind und was die Aufgaben für einen revolutionär-sozialistischen Feminismus in Argentinien sind.

LV: Es sieht so aus, als würden Abtreibungen in Argentinien heute legalisiert. Was heißt das für die Menschen in Argentinien? Und was bedeutet es für die feministische Bewegung weltweit?

AD: Am Dienstag, den 29. Dezember, wird der Senat über ein Abtreibungsgesetz abstimmen, das bereits das Unterhaus des Kongresses passiert hat. Es ist noch nicht klar, ob dieser Gesetzentwurf auch Gesetz werden wird. Und im Gegensatz zu früheren Gesetzesentwürfen, die direkt aus der Bewegung kamen, wurde dieses Gesetz von der Exekutive geschrieben und dem Kongress vorgelegt.

Der Kampf für das Recht auf Abtreibung hat in Argentinien eine lange Geschichte und Tradition. Er begann in den 1970er Jahren und wurde dann durch die von den USA unterstützte Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 an der Macht war, unterbrochen. In den 1980er Jahren wurde dieser Kampf dann wieder aufgenommen und wurde massiv. Im Jahr 2018 war die Macri-Regierung gezwungen, ein Abtreibungsgesetz im Kongress zu debattieren. Es passierte das Repräsentantenhaus, wie auch das neue Gesetz, wurde dann aber im Senat abgelehnt. Wir hoffen, dass das dieses Mal nicht wieder passiert.

Es gibt weitere Unterschiede zwischen damals und heute. Im Jahr 2018 wurde der Gesetzentwurf, der abgestimmt wurde, von der Frauenbewegung verfasst, die sich in der sogenannten „Campaña Nacional Por El Derecho Al Aborto“ – der nationalen Kampagne für Abtreibung – organisiert. Das ist ein Bündnis von Organisationen und Aktivist:innen für das Recht auf Abtreibung. Der aktuelle Gesetzesentwurf stammt hingegen von der Regierungskoalition in Argentinien.

Es gibt Schätzungen, nach denen Argentinien Spitzenreiter der Liste der Länder mit den höchsten Zahlen an heimlichen und unsicheren Abtreibungen steht. Es wird geschätzt, dass es 750.000 Geburten pro Jahr und 500.000 Abtreibungen gibt. Als Folge dieser 500.000 Abtreibungen sterben jedes Jahr 300 bis 500 Menschen. Viele dieser Todesfälle resultieren aus den unhygienischen Bedingungen illegaler Abtreibungen, die nicht von medizinischem Personal durchgeführt werden. Deshalb ist es wichtig, den Tod von Frauen und anderen schwangeren Menschen, die oft jung und arm sind, aufzuhalten. Darum brauchen wir legale Abtreibungen, die in allen öffentlichen Krankenhäusern kostenlos sein müssen.

Das Recht auf Abtreibung zu erkämpfen, ist in Argentinien besonders schwierig wegen des starken Einflusses der katholischen Kirche. Der Staat unterhält hier die katholische Kirche im Auftrag der nationalen Verfassung. Mit anderen Worten: Die Kirche erhält einen wirtschaftlichen Zuschuss vom Staat und ist seit Jahrhunderten Nutznießerin staatlicher Zuwendungen in Form von Immobilien und Land. Außerdem ist sie von Steuerzahlungen befreit. Während der Militärdiktatur wurden sogar einige Dekrete umgesetzt, nach denen die katholische Kirche für jeden Bischof Gelder in Höhe der Bezahlung eines Richters sowie zusätzliche Gelder für Priester erhielt. Außerdem erhält sie Zuschüsse für Reisen in den Vatikan und zur Subventionierung des privaten Religionsunterrichts.

Wenn wir also für das Recht auf Abtreibung kämpfen wollen, müssen wir gegen diese sehr mächtige katholische Kirche kämpfen.

Warum wird jetzt über dieses Gesetz abgestimmt und was sind seine Grenzen?

In diesem Fall legte die Regierung von Alberto Fernandez ihr eigenes Abtreibungsgesetz vor und nicht das, das Befürworter:innen reproduktiver Gerechtigkeit seit Jahren fordern. Der Vorschlag der Regierung enthält im Gegensatz zu demjenigen der nationalen Kampagne für Abtreibung eine moralische Widerspruchsklausel als Garantie für Ärzt:innen, die keine Abtreibungen durchführen wollen. Wir sind der Ansicht, dass dies unsere Rechte einschränkt, weil die Art, wie der moralische Widerspruch formuliert ist, impliziert, dass eine ganze Institution, ein ganzes Krankenhaus, eine ganze Stadt oder sogar ein ganzer Bundesstaat einen solchen moralischen Widerspruch erheben könnte. Sollte das der Fall sein, wäre das Recht auf Abtreibung für viele Menschen drastisch eingeschränkt.

In Uruguay zum Beispiel, wo eine solche moralische Widerspruchsklausel ebenfalls besteht, gibt es Provinzen, wo es überhaupt keinen Zugang zu Abtreibungen gibt, obwohl Abtreibungen auf dem Papier legal sind. Wir sind der Meinung, dass dies als eine Einschränkung unserer Grundrechte angeprangert werden sollte. Und diese Einschränkung ist nicht einfach vom Himmel gefallen – sie hat mit dem Druck vonseiten der katholischen und evangelikalen Kirchen zu tun als auch mit den Verhandlungen, die die peronistische Regierung geführt hat, um Stimmen für dieses Gesetz von einigen ihrer eigenen Abgeordneten zu bekommen, die dagegen waren. Der Peronismus ist schließlich eine breite Bewegung, die verschiedene Sektoren umfasst, sich aber darin einig ist, die kleinsten Reformen in dem Versuch zu unterstützen, die Arbeiter:innen und die Massen zu bestechen.

In allen politischen Parteien gibt es solche Kongressabgeordnete, die für und solche, die gegen Abtreibungen sind, mit Ausnahme der Front der Linken und der Arbeiter:innen (FIT), die geschlossen für Abtreibungen sind. Die Regierung legte den Gesetzesentwurf also zur Abstimmung vor, während sie gleichzeitig sehr bedeutende Gegner:innen in ihren eigenen Reihen hatte. Sie muss es nun so einfädeln, dass das Gesetz verabschiedet wird, ohne den Konsens zwischen den Pro- und Anti-Abtreibungs-Abgeordneten in der Regierungsfront zu zerstören.

Das primäre Werkzeug dafür ist die Widerspruchsklausel. Weitere Änderungen können im Senat auftreten, oder es kann Änderungen geben, wenn die Exekutive entscheidet, wie das Gesetz ausgeführt wird. Wir sind der Ansicht, dass wir alle Änderungen anprangern müssen, die das Recht aller auf Zugang zu einem sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch in einem Krankenhaus ihrer Wahl beschränken.

Während das Gesetz im Senat diskutiert wird, wird im Repräsentantenhaus eine Abstimmung über die Renten- und Sozialreform stattfinden. Der Gesetzesentwurf sieht weitere Sparmaßnahmen vor, die Renten sowie das Kindergeld für verarmte Mütter sollen verringert werden. 60 Prozent der Rentner:innen sind Frauen, und sie machen den ärmsten Teil der Rentner:innen aus, sodass sie von diesem Sparplan doppelt betroffen sein werden.

Während also der Senat die Abtreibung legalisiert, werden im Repräsentantenhaus Kürzungen beschlossen, die Frauen treffen werden, und zwar vor allem ältere Frauen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, sowie Mütter, insbesondere alleinerziehende Mütter.

Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Wie hat sich die feministische Bewegung in Argentinien entwickelt?

Seit 35 Jahren gibt es eine Nationale Frauenkonferenz, die jedes Jahr Tausende von Frauen aus dem ganzen Land an einem anderen Ort zusammenbringt. Aus der Arbeiter:innenklasse kommen Leute von überall her – Menschen jeden Alters sowie Studentinnen.

Auf der Konferenz 2003 begann die Kampagne für das Recht auf Abtreibung. 2015 entstand aufgrund der vielen Femizide die Kampagne „Ni Una Menos“ [Nicht eine weniger, A.d.Ü.]. Massive Mobilisierungen, beginnend am 3. Juni 2015, brachen aus und brachten landesweit eine Million Menschen auf die Straße. Es war auch ein Beispiel auf internationaler Ebene, das in Ländern in ganz Lateinamerika, aber auch in einigen europäischen Ländern wie Italien und Spanien, nachgeahmt wurde. Die „Ni Una Menos“-Bewegung hatte mehrere Durchläufe und es gab massive Demonstrationen in Reaktion auf einige besonders brutale Femizide, die das Land erschüttert haben.

„Ni Una Menos“ ist auch ein Vorläufer dessen, was 2018 zur „grünen Welle“ für das Recht auf Abtreibung wurde. [Grüne Halstücher sind das Symbol der Kampagne, A.d.Ü.] Viele junge Menschen, die sich nie an der feministischen Bewegung beteiligt hatten, kamen durch „Ni Una Menos“ in die Bewegung – manchmal schon mit 13, 14 oder 15 Jahren. Dann, im Jahr 2018, waren sie die unbestreitbaren Protagonist:innen des Kampfes für das Recht auf Abtreibung – obwohl der Kampf insgesamt massenhaft war. Wenn wir das Recht auf Abtreibung erringen, wird es nicht sein, weil die „Dinosaurier“ im Kongress – wie sie im Volksmund genannt werden – einen Sinneswandel hatten. Es wird wegen der argentinischen feministischen Bewegung sein und wegen dieser jungen Leute, die für unsere Rechte auf die Straße gegangen sind.

Du führst die Gruppe Pan y Rosas (Brot und Rosen) an. Was ist Pan y Rosas und wie siehst Du den Kampf für das Recht auf Abtreibung?

Pan y Rosas ist eine sozialistisch-feministische Gruppe, die Teil der breiteren argentinischen Frauenbewegung ist, einer Bewegung, die eine lange Tradition der Organisation und des Kampfes hat, die einzigartig auf der Welt ist. Pan y Rosas beteiligt sich an der Bewegung und ist Teil der Front der Linken und Arbeiter:innen, dem einzigen Wahlblock, der nicht nur auf der Straße für das Recht auf Abtreibung kämpft, sondern auch im Kongress. Jedes Mitglied hat für das Recht auf Abtreibung gestimmt.

Pan y Rosas begann als eine Gruppe von etwa 30 Frauen, die an der Universität studierten. Und jetzt ist es eine Bewegung von weit über 3.000 Menschen – die meisten von ihnen gehören der Arbeiterklasse an, obwohl immer noch einige Studentinnen mitmachen. Es gibt Hausangestellte, Arbeiterinnen in Fabriken, aber auch Lehrer:innen, medizinische Angestellte und junge prekäre Arbeiter:innen, die für die „Apps“ (wie Uber) und in Callcentern arbeiten. Wir haben Arbeiter:innen aus allen Bereichen in unseren Reihen – junge und nicht mehr ganz so junge Leute. Darüber hinaus organisiert Pan y Rosas Frauenkommissionen an der Universität sowie in den Gewerkschaften und Betrieben – und muss sich dabei oft mit der Gewerkschaftsbürokratie auseinandersetzen. Wir organisieren Frauenkommissionen auch in Fabriken, in denen die Mehrheit der Arbeiter:innen Männer sind, weil wir die Ehefrauen und Partnerinnen der Arbeiter, ihre Töchter oder Mütter in den Arbeitskämpfen organisieren wollen. Diese Frauenkommissionen spielen eine Rolle bei der Unterstützung der Kämpfe ihrer Partner, haben aber auch Frauen organisiert, damit sie nicht vom Kampf isoliert werden.

Für Pan y Rosas ist das Recht, über den eigenen Körper zu entscheiden, ein Grundrecht; ein Recht, das im 21. Jahrhundert in den degradierten kapitalistischen Demokratien Argentiniens und anderer Länder nicht gewährleistet ist. Es ist ein Problem der öffentlichen Gesundheit, das ein klares Klassenelement hat: Durch unsichere und heimliche Abtreibungen sterben die Ärmsten, die Töchter der Arbeiter:innenklasse in Argentinien, die Kinder der prekären und arbeitslosen Arbeiter:innenklasse.

Wir kämpfen gegen den Kapitalismus für eine Gesellschaft, die frei von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung ist, aber wir müssen auch jeden Kampf führen, der uns erlaubt, dem kapitalistischen Staat einige Rechte zu entreißen. Wir tun das, damit wir unter besseren Bedingungen und in größerer Gleichheit leben können, während wir weiter für diese bessere Gesellschaft kämpfen, in der die wahre Gleichheit erreicht ist.

Dieses Interview erschien am 28. Dezember 2020 auf Englisch bei Left Voice.

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