Argentinien: Herausforderungen einer revolutionären Partei im Klassenkampf
In Argentinien existiert eine anfänglich vorrevolutionäre Situation. Welche Aufgaben hat die revolutionäre Linke, um die Selbstorganisation gegen Kapital und Regierung voranzutreiben?
In Argentinien ist der Klassenkampf auf die nationale Bühne zurückgekehrt. Am Samstag trafen sich auf Initiative der unter Arbeiter:innnenselbstverwaltung stehenden Druckerei MadyGraf über 4.000 Arbeiter:innen, um über die Koordinierung der Kämpfe zu diskutieren. Diese potenziell explosive Situation gärt schon seit geraumer Zeit: Die Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS), unsere Schwesterorganisation in Argentinien, hat die Situation im südamerikanischen Land bei ihrer letzten Konferenz im Dezember 2020 als anfänglich vorrevolutionär definiert. Welche tieferen Prozesse stecken dahinter?
Der russische Revolutionär Leo Trotzki beleuchtete in seinen Analysen stets drei längerfristige Elemente: die ökonomische Situation, politische Krisen der herrschenden Klasse und die Aktivität der Arbeiter:innenklasse. Unsere Klassifizierung bezog sich vor etwa vier Monaten deshalb nicht auf die damalige Konjunktur, sondern war und ist struktureller Art – das heißt, dass sie vielmehr die Epoche beschreibt, in der wir leben.
Arbeitslosigkeit, Armut und kein Ausweg
Diese ist in Argentinien vor allem von der Wirtschaftskrise geprägt, die durch die Pandemie besonders verschärft wurde: 2020 fiel das Bruttoinlandsprodukt um ganze zehn Punkte, schlossen 22.000 Unternehmen und gingen 296.000 registrierte und ungefähr zwei bis zweieinhalb Millionen nicht-registrierte Arbeitsplätze verloren.
Nichtsdestotrotz sagen verschiedene Prognosen für 2021 eine Erholung der Wirtschaft zwischen fünfeinhalb und acht Prozent voraus. Sie alle gehen davon aus, dass das Coronavirus die Konjunktur nicht noch einmal negativ beeinflussen wird, was allgemein schon fragwürdig und angesichts der unzureichenden Maßnahmen zur Bekämpfung der aktuell rapide steigenden Fallzahlen umso fragwürdiger ist. Denn auch wenn durch den Anstieg der Preise der commodities – wie Soja, das Argentinien massiv exportiert – und durch den Verkauf von Schulden zu lächerlich geringen Preisen der Peso gegenüber dem Dollar aufgewertet werden konnte, ist diese Situation prekär: Die Zentralbank verliert einen Großteil der Devisen, was dazu führen könnte, dass abwertende Tendenzen sich (wieder) verstärken. Abgesehen davon ist die bisherige Erholung sehr ungleich: Im Bau beträgt sie 6,3 und in der Industrie 4,5 Prozent, während Hotels und Restaurants mit -47,1 und der Transport mit -19,2 Prozent weiterhin den Bach heruntergehen.
Regierung auf dünnem Eis
Gleichzeitig erkennt die Großbourgeoisie die Regierung unter Alberto Fernández nicht als ihre an, obwohl sie die Auslandsschulden an den Internationalen Währungsfonds (IWF)1 weiter bezahlt. Die Fernández-Regierung macht sich ebenfalls von diesem abhängig, der wie überall auf der Welt weitere Kürzungen im Gesundheits-, Bildungs- und eigentlich jedem sozialen Haushalt fordert. Dafür wird die linkspopulistische Regierung früher oder später von ihrer eigenen Wähler:innenschaft konfrontiert werden. Aus diesem Grund wird sie versuchen, die (Neu-)Verhandlungen mit dem IWF bis nach den Ende Oktober stattfindenden Parlamentswahlen zu ziehen.
Die Koalition bewegt sich dabei jedoch auf dünnem Eis. Bisher konnten die vom IWF eingeforderten Kürzungsmaßnahmen im Austausch für kleine Zugeständnisse an die Massen umgesetzt werden. Unter diese Zugeständnisse fallen zum Beispiel die geringe einmalige Steuer auf Großvermögen und die Legalisierung von Abtreibung. Letztere war ein Erfolg der kämpferischen Frauenbewegung, den Fernández und Co. sich durch die historisch bedingte Verbundenheit zu Gewerkschafts- und Bewegungsbürokratien haben aneignen können – ein Werkzeug, das dem rechten Expräsidenten Macri nicht zur Verfügung stand. Doch in vielen anderen Dingen wich der Präsident dem Druck der Großbourgeoisie, der sich aufgrund der weltweiten Tendenz zur Verschärfung der Polarisierung nicht selten in Mobilisierungen der Rechten ausdrückte. So hatte Fernández die Zentralisierung des Gesundheitssystems und Enteignungen angekündigt, all dies aber wieder zurückgezogen.
Auch wenn keiner dieser Kurswechsel der Regierung eine tiefe Krise bereitete, triefen Alberto Fernández‘ anderthalb Jahre im Amt durchaus von Fehltritten. So veröffentliche ein Journalist im Februar eine Liste von Unternehmer:innen und Funktionär:innen, die der damalige Gesundheitsminister des Landes in einem öffentlichen Krankenhaus hatte impfen lassen, obwohl es ihnen weder alters- oder krankheitsbedingt noch aufgrund ihrer Tätigkeit zustand. Auch wenn das Geschehene kein Einzel- oder Zufall war, wurde der Skandal zur ersten großen Regierungskrise.
Das Kapital versucht, solche Situationen für einen Bruch zu nutzen, der bei den nächsten Präsidentschaftswahlen eine für sie günstigere Koalition ermöglicht. An dieser Front spielen auch die Korruptionsvorwürfe gegen die Ex- und heute Vize-Präsidentin Cristina Kirchner eine wichtige Rolle, auch wenn die Justiz für diese bisher nicht ausreichend Beweise finden konnte.
Auf natürlich ganz andere Art und Weise und mit einem anderem Ziel arbeitet auch die PTS auf einen Bruch hin. Viele der fast 150.000 Menschen, die im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2019 ihre Stimme Alberto Fernández gaben, obwohl sie im ersten Wahlgang noch unseren Genossen Nico del Caño wählten, der für die Front der Linken und der Arbeiter:innen (FIT-U) antrat, sowie ein Teil des kirchneristischen Flügels spüren Fernández‘ Kürzungsmaßnahmen heute am eigenen Leib. Das Arbeitslosengeld reicht nicht mehr zum Überleben und seine Prioritäten rufen Empörung hervor. Dies hat sich unter anderem am Tag und im Nachgang der brutalen Räumung der Landbesetzung in Guernica, wo nun unter anderem Golf- und Tennisplätzen errichtet werden, ausgedrückt.
Eine revolutionäre Partei im Klassenkampf
Abgesehen davon entwickelten sich während der monatelangen Quarantäne im letzten Jahr die klassenkämpferischen Phänomene im Vergleich zu der ökonomischen und politischen Situation jedoch deutlich weniger. Lange passierte so gut wie nichts. Doch als sich 2020 seinem ersehnten Ende zuneigte, änderte sich die Situation. Nachdem betroffene Sektoren ein ganzes Jahr darauf gewartet hatten, dass die im Wahlkampf versprochene Erholung „von oben“ kommt, begannen sie, das Verlorene „von unten“ zurückzuerobern. Auch wenn offen ist, ob sich die vorrevolutionären Elemente der aktuellen Arbeitskämpfe vertiefen oder ob sie im Zaum gehalten werden können, ist nicht nur zu erwarten, sondern bereits sichtbar, dass es heute in Argentinien immer mehr Aktionen und Streiks sowie Blockaden und Besetzungen gibt.
In diesen Kämpfen bildet sich von selbst eine Avantgarde. Die PTS sieht ihre Hauptaufgabe momentan darin, die Koordinierung der verschiedenen Kämpfe, die Selbstorganisationsinstanzen und die Radikalisierung Beschäftigter, (neuer und alter) Arbeitsloser, der Jugend und der verschiedenen sozialen Bewegungen voranzutreiben. In die letzte Kategorie fallen die Umweltbewegung, die in letzter Zeit – angesichts eines Abkommens mit China, Massenschweinehaltung nach Argentinien auszulagern, massiven Waldbränden und eines Minenprojekts in den patagonischen Anden – die Straßen des Landes füllte, sowie die Frauenbewegung – die zwar unter staatlicher Kooptierung leidet, aber zu Teilen weiter für die vollständige Implementierung der Legalisierung von Abtreibung und gegen die hohe Zahl an Feminiziden kämpft –.
Es sind bereits erste Erfolge dabei zu verzeichnen, die bürokratischen Führungen der Bewegungen und der Gewerkschaften in eine Einheitsfront zu zwingen. Das ist nicht nebensächlich, da diese Apparate Massen organisieren. Dass Einheitsfronten zustande kommen, ist auch der Tatsache zu verdanken, dass vorherige Aktionseinheiten mit anderen trotzkistischen Parteien und/oder linkspopulistischen Gruppen den Druck auf die bürokratischen Apparate so weit erhöhten, dass sie nachgeben mussten. Um diese Beispiele in der Perspektive eines (lokalen, provinziellen oder nationalen) Generalstreiks zu verallgemeinern, müssen die Sektoren der Avantgarde mit den Teilen der Klasse in Aktionskomitees zusammengebracht werden, die bisher noch nicht so dynamisch sind und die untereinander durch die Bürokratie auf verschiedene Weise gespalten werden. Nur durch das Zusammenkommen und Sammeln gemeinsamer Kampferfahrungen von Männern und Frauen, Festangestellten und Outgesourcten sowie Akademiker:innen und Nicht-Akademiker:innen kann die Zersplitterung des Proletariats aktiv bekämpft werden.
Dabei ist es jedoch unerlässlich, den Strategien der zentristischen – das heißt, zwischen Reform und Revolution schwankenden – Organisationen im politischen Kampf eine klare revolutionäre Strategie entgegenzustellen. Die Partido Obrero (PO) und die Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST) mobilisierten bei der Demonstration zum 45. Jahrestag des argentinischen Militärputsches am 24. März deutlich größere Blöcke als die PTS. Doch nur deshalb, weil sie die Arbeitslosengeldkasse von tausenden Menschen verwalten, denen sie ihr Arbeitslosengeld im Gegenzug zur Teilnahme an ebensolchen Mobilisierungen auszahlen. Auch wenn wir mit diesen Organisationen und Izquierda Socialista (IS) zusammen zu Wahlen antreten und aufgrund der neuen Situation immer häufiger gemeinsame Aufrufe verfassen, kritisieren wir diese Parteien weiter: Einerseits dafür, dass sie sich mit dem durchaus politisch aktiven Sektor der Arbeitslosen auf so klientelistische Weise verbinden, und andererseits dafür, dass diese Arbeit komplett getrennt von ihrer Politik in von ihnen angeführten Gewerkschaftssektionen läuft. Doch deren Zusammenführung könnte eine wichtige Rolle in der Herstellung der Einheit zwischen Beschäftigten und Nicht-Beschäftigten spielen.
Linkspopulistische Organisationen sind ein anderes Kaliber. Denn sie alle verteidigen letzten Endes das Agieren der aktuellen Regierung. Doch ihre Basis setzt gerade entweder den Blinker oder wechselt sogar schon die Spur, um sie von links zu überholen. Deshalb versuchen wir, eine politische Agitation zu entwickeln, die das sowieso zu beobachtende Ziehen revolutionärer Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen mit dem Peronismus an der Macht beschleunigt.
Auch wenn der argentinische Zentrismus vereinzelt Gemeinsamkeiten mit ebendiesen Organisationen hat – wie zum Beispiel, sich erst einmal gegen viele Formen von Selbstorganisation zu wehren – lässt sich zu Ersterem natürlich eine ganz andere politische Nähe konstatieren. Es handelt sich um Verbündete, mit denen wir uns darüber einig sind, dass unsere einfache Kooperation nicht ausreichen wird. Vielmehr bedarf es den Aufbau einer revolutionären Partei, damit ein etwaiger Aufstand nicht niedergeschlagen wird, wie die Villazos in den 70ern oder 2001, wo öffentliche Versammlungen von hauptsächlich kleinbürgerlichen Stadtbewohner:innen, die Arbeitslosenbewegung und die besetzten Fabriken – ein Phänomen, das viel weiter reicht als Zanón – sich kaum vereint haben bzw. es nicht wurden.
Lenin war der Meinung, dass drei Umstände gegeben sein müssen, damit die Situation in einem Land revolutionär wird: 1. Die herrschende Klasse kann nicht mehr so weiterregieren, wie sie es zu tun pflegte; 2. die beherrschte Klasse hält die Bedingungen, unter denen sie bis zum gegebenen Zeitpunkt lebte, nicht mehr aus; und 3. Arbeiter:innen und Unterdrückte nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand.
Auch wenn sich in Argentinien momentan verschiedene Entwicklungen vollziehen, die zu einem solchen Szenario führen könnten, ist dieses so noch nicht vorhanden. Wir intervenieren in die aktuellen Klassenkampfprozesse mit dieser Perspektive. Denn die Kräfteverhältnisse fallen nicht vom Himmel, sondern hängen zu nicht geringen Teilen von unserer Politik heute und morgen ab, also inwiefern wir es schaffen, die von der Regierung unabhängige Selbstorganisation voranzutreiben und sie die Kosten für ihre Skandale zahlen zu lassen.
Fußnote
1. Der IWF ist ein 1944 gegründeter Organismus, der es sich zum Ziel setzte, Länder, deren Wirtschaft nicht von Prosperität gekennzeichnet war, präventiv Gelder zu verleihen, um eine weitere, unüberblickbar große Weltwirtschaftskrise wie die von 1929-33 zu verhindern – also zu verhindern, dass Finanzkrisen einzelner Länder multinationale Konzerne bedrohen. Durch ebendiese Entwicklungskredite besitzt der von den USA, Frankreich und Deutschland angeführte IWF heute de facto den Charakter einer Bank, die die Vergabe von Krediten stets an Auflagen knüpft. Im Fall des IWF nehmen diese allerdings eine andere Form als – wie gewöhnlich – Zinsen an. Stattdessen wird von hochverschuldeten Ländern das Ergreifen arbeiter:innenfeindlicher Maßnahmen erwartet, wie z. B. das Senken des Mindestlohns und/oder der Renten sowie die Erhöhung der Mehrwertsteuer und/oder Benzinpreise. Aus diesen Gründen stellt der IWF heute eines der zentralen Kontrollorgane der kapitalistischen Weltwirtschaft dar.