Faxe (Dänemark), August 1934.
Achim des Haschomer Hazair, chasak!
Unsere Hände sind rauher und härter geworden: Arbeiterhände. Sie erinnern uns, daß wir ein gutes Stück weitergekommen sind auf dem Wege vom Intellektuellen zum Arbeiter. Der beste Beweis ist allerdings nicht die Rauheit der Hände, sondern die Arbeitsleistung. Und hier kann ich Euch durchaus Erfreuliches mitteilen. Ein großer Teil von uns leistet in allen Arbeiten – außer den qualifizierten, die man wirklich länger gelernt haben muß – genau soviel wie die dänischen Knechte. Diese Tatsache spiegelt sich ganz deutlich in der Auffassung, die unsere Umgebung hier vom Juden hat. Die einfacheren Bauern wußten kaum, was ein Jude ist und für sie waren wir die ersten Geschöpfe dieser Art, die ihnen zu Gesicht gekommen sind. Sie haben sich also an uns erst den Begriff „Jude“ gebildet. Ich kann Euch versichern, sie denken im Punkte Arbeit nicht anders über uns als über sich. Gewiß, wenn wir aufs Land kommen, können wir noch nicht arbeiten, aber wir lernen es. Unsere Stellen sind auch meistens sehr gute Lehrstellen. Wir lernen alles mögliche: Melken, Mähen, Pflügen, Maschinen bedienen usw.
Die Schwierigkeit unseres Einlebens in die Arbeit liegt nicht an der körperlichen Anstrengung. Wir sagen oft: Lieber Zwei[-]zentnersäcke tragen als Rüben hacken. Beim erstenmal heißt es ja die Zähne zusammenbeißen. Aber hat man solche Arbeit mal gemacht, so hat man sich schon an sie gewöhnt. Ueberhaupt können wir in der Arbeit sehr gut den Zusammenhang zwischen körperlicher Leistung und seelischer Energie beobachten. Die Befriedigung im persönlichen und gesellschaftlichen Leben wirkt sich auch deutlich in der Arbeitsleistung aus, wie umgekehrt die Stellung zur Arbeit die Haltung des Menschen auf allen anderen Gebieten beeinflußt. Ich sagte Euch, daß uns gerade die leichtesten, aber geisttötenden Tätigkeiten wie Rübenhacken schwerfallen, bei denen man etwa tagelang nur ein und dieselbe Bewegung zu machen hat. Nach solchen Beschäftigungen kann man abends nicht mehr viel geistige Arbeit leisten. Das ist schon ein schwerer Verlust, besonders für Menschen, die als Intellektuelle zur Arbeit übergegangen sind und für die auch das Arbeiter[-]werden keine geistige Kaltstellung bedeuten kann. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß persönliche Krisen gerade in Zeiten derartig stumpfsinniger Arbeiten auftraten. Solche Krisen vermindern in starkem Maße die Fähigkeit der Menschen zur Mitarbeit am Kibbuz. Und so ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Kibbuz, seinen Menschen aus ihren Schwierigkeiten herauszuhelfen.
Ich bin nun beim Thema „unser Kibbuz“ angelangt, das Euch ja alle besonders interessiert. Ihr erwartet vielleicht einen Bericht über die wichtigsten Ereignisse im Leben des Kibbuz, aber ich will Euch gleich vorher sagen, daß ich Euch enttäuschen werde. Ich will keine Kibbuz-Chronik schreiben, sondern mich nur auf das beschränken, was für Euch wichtig sein kann, auf die Dinge, in denen sich unsere Wirklichkeit widerspiegelt, und aus denen Ihr auch etwas für den Tag lernen könnt, an dem Ihr selbst unseren Weg gehen werdet. Im Leben des Kibbuz ist die Fülle von kleinen Ereignissen viel wichtiger als die großen Erlebnisse und die entscheidenden Wendepunkte. In diesen kleinen Dingen erscheint auch der einzelne im Kibbuz viel eher in seiner wahren Gestalt. Denn in einzelnen — und gerade in den großen — Momenten können Menschen ganz anders erscheinen, als sie sind. Es gibt keine bessere Demonstration für diese Wahrheit als das erste Zusammensein im Kibbuz mit Menschen, die man vorher nur aus dem Bundesleben kannte. Wieviel neue Seiten entdeckt man im täglichen Leben an Menschen, die man bisher immer nur für flüchtige Minuten gesehen hatte. Und das liegt gewiß nicht daran, daß sich die Menschen plötzlich auf Hachschara grundsätzlich geändert haben.
Ueberhaupt sieht im kibbuzischen Leben vieles sehr viel anders aus, als wir es uns vorgestellt hatten. Wir haben uns als Synthese von objektiver Notwendigkeit und persönlichen Wünschen das Ideal einer Form gesellschaftlichen Zusammenlebens geschaffen. Auch Generationen vor uns haben an das Ideal eines vollkommenen Gemeinschaftslebens gedacht. Was uns von ihnen unterscheidet, ist, daß wir — nicht zuletzt unter dem Druck der Geschichte — dieses Ideal verwirklichen. Und da erleben wir, daß der Weg zur Verwirklichung eines großen Ideals über eine lange Reihe sehr kleiner Schwierigkeiten führt, die alle auf einer Linie liegen. Sie alle sind zu erklären aus dem Widerspruch, daß Menschen mit einer individualistischen Erziehung ein kibbuzisches Leben führen wollen. Diese Schwierigkeiten können, aber auch nur zum Teil, durch eine intensive Bundeserziehung überwunden werden. Ihr wißt, daß wir diesmal, im zweiten Jahr unseres Hachschara-Kibbuz in Dänemark, beschlossen haben, auch Chawerim [Hebräisch: Freunde] aufzunehmen, die nicht aus der Erziehungsbewegung des Haschomer Hazair zu uns kamen. Wir konnten diese Aufgebe der intensiveren Erfassung von Menschen, die erst im letzten Jahre sich zur Verwirklichung entschlossen, erfüllen. Unsere in sich geschlossene, unabhängige und autonome Hachscharaform vermag auch Menschen von außen einzuordnen, sowie sie von innen her herangereift ist. Wir spürten in uns die Kraft, unseren Weg mit Chawerim zusammen zu gehen, die sich ernsthaft mit ihm auseinandersetzen. Gerade hier konnten wir erleben, wie wichtig die Bundeserziehung ist, wie aber auch Menschen ohne eine solche Erziehung in den Kibbuz hineinwachsen können. Denn die Form eines autonomen Hachscharazentrums, dessen Tarbutarbeit [Tarbut = Hebräisch: Kultur] und dessen gesellschaftliches Leben von innen heraus, von seinen Chawerim gestaltet wird, gibt uns diese Möglichkeit, und gerade hier zeigt sich die Bedeutung der Erziehung.
Wir lernen hier, wie die Ueberwindung des Widerspruchs zwischen kibbuzischem Leben und individualistischer Erziehung durch eine möglichst früh einsetzende Gemeinschaftserziehung erleichtert wird. Gerade darum, weil eine Anzahl von uns nicht selbst den Weg der Bundeserziehung gegangen ist, erkennen wir, wie die Hachschara ihren vollen Sinn als entscheidender Schritt zur Umgestaltung des persönlichen Lebens nur dann ganz ausschöpfen kann, wenn sie Glied in der Kette ist, die vom Leben im Bunde zum Aufbau des eigenen Kibbuz führt. Die klare Erkenntnis und das ständige Bewußtsein dieser großen Linie sind uni so wichtiger, weil die Schwierigkeiten, die ich erwähnt habe, sich oft so häufen, daß sie jede Aussicht auf das Ziel zu versperren drohen. Und doch ist es wichtig, auch bei jeder kleinsten Kleinigkeit vor Augen zu haben, daß wir eine neue Lebensform verwirklichen wollen. Gerade für die Lösung der kleinsten Probleme ist diese Zielvorstellung wichtig, wenn auch wiederum die kleinen Dinge uns die Richtigkeit unserer Vorstellungen beweisen. Ich will Euch ein kleines Beispiel geben, das Ihr vielleicht eine Bagatelle nennen werdet. Aber Ihr müßt wissen, daß aus der Fülle solcher Bagatellen das Leben auch im Kibbuz besteht. Es geht um das Verhältnis‘ des einzelnen zur Gemeinschaft, und die Art, wie ein Kibbuz diese Frage löst ist der beste Prüfstein für seine Reife.
Auf einer Sicha [Hebräisch: Zusammenkunft] sagte uns R., daß er sich bestimmte Noten kaufen möchte, um auf dem Klavier, das uns bei einem Bauern zur Verfügung steht, ein Stück einzuüben. Die Kasse erklärte daß das Geld nur noch reiche, um ein Buch zu kaufen, daß wir in der Chewra herumgehen lassen wollten. Wir wissen auch, daß für R. die Beschäftigung mit der Musik fast ein Lebensbedürfnis ist. Da wir das Buch nicht unbedingt sofort haben mußten, kauften wir die Noten. Wenn die Auffassung richtig wäre, daß der einzelne im Kibbuz nichts weiter als ein Bruch mit dem Nenner Kibbuz ist, hätten wir gesagt: „Einer will Noten, fünfzehn wollen ein Buch. Es ist klar, daß der Wille der fünfzehn dem Willen des einzelnen vorgeht.“
Wir sehen keinen Widerspruch zwischen den objektiven Aufgaben des Kibbuz und den Bedürfnissen des einzelnen Trägers, denn die Erfüllung dieser Aufgaben, das objektive Gelingen des Kibbuz hängt im wesentlichen von seinen Menschen ab. Die Menschen sind nicht nur Glieder des Ganzen, sondern jeder ist eine Einheit für sich, mit persönlichen Bedürfnissen, die erfüllt werden müssen, wenn anders sie fähig sein sollen, die großen, objektiven Aufgaben des Kibbuz zu erfüllen. Es geht nicht an, auf die Dauer nur zu fordern, ohne zu geben, und über[unlesbar]liche Forderungen zu stellen. Und was ich von R. erzählte, ist nur ein Fall unter vielen. Hüten wir uns aber, in den umgekehrten Fehler zu verfallen und prinzipiell für den einzelnen zu entschieden. Es gilt, die Synthese zwischen dem Bedürfnis der einzelnen und dem der Gemeinschaft immer wieder zu suchen und zu finden. …
Chasak weemaz! [Hebräisch, Seid stark und mutig]
Monte, Hachschara-Zentrum des deutschen Haschomer Hazair in Dänemark.
Quelle: Unbekannt, vermutlich ein Verbandsjahrbuch von Hashomer Hatzair. Aus dem Archiv von Rodolphe Prager, Ordner 301, im IISG in Amsterdam.