Ernest Mandel: Abraham Leon – Eine Skizze seines Lebens

Die Periode des relativen Friedens und Wohlstands in Westeuropa zwischen 1876 und 1914 war kaum dazu angetan, wirkliche Revolutionäre hervorzubringen. Um sich vollständig vom Einfluß der Ideologie der herrschenden Klasse zu befreien und den Willen auf ein einziges Ziel – die Machteroberung durch das Proletariat – zu konzentrieren, reicht es nicht aus, sich nur die marxistische Methode und das Erbe des Marxismus korrekt anzueignen. Das Leben selbst muß die Menschen aus der Routine „respektabler“ Existenz werfen und sie direkt mit der ganzen Gewalt und Grausamkeit, Entartung und Barbarei des kapitalistischen Systems konfrontieren. Die große revolutionäre Generation der Bolschewiki wurde in der Feuerprobe von Illegalität, Gefangenschaft, Emigration und gnadenlosem Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft in Rußland geformt. Damit eine neue revolutionäre Generation in den Ländern des Westens heranwuchs, mußte die Menschheit in das Feuer von Kriegen und Revolutionen eintauchen.

Krieg und Revolution standen an der Wiege von Abraham Leon, und Krieg und Revolution schlossen seine Augen. Am Tag seiner Geburt dröhnten die Tritte der Revolution durch die Straßen seiner Geburtsstadt Warschau. Zwei rivalisierende Räte kämpften um die Macht. Am Horizont nahm schon die Sowjetrepublik Gestalt an. Besiegte Armeen trugen ihre Lumpen, ihre Bitterkeit und ihren Durst nach Gerechtigkeit in die Volksversammlungen. Aus den dunkelsten Tiefen der Menschheit strömten sie Welle auf Welle in die politische Arena: Männer und Frauen, Jung und Alt, alle die Armen und Unterdrückten, all die Enterbten, die bisher mit verschlossenem Mund und gebeugtem Rücken gelebt hatten und jetzt plötzlich ihre Stimme entdeckten.

Doch während sie das rote Banner tiefer und tiefer in das gemarterte Land trugen, wehte über der Festung schon die rot-weiße Fahne mit dem polnischen Adler, gehißt von Legionären unter dem Befehl des „Sozialisten“ Pilsudski. Diese beiden Symbole, diese beiden Denkrichtungen – internationaler Sozialismus und kleinbürgerlicher Sozialpatriotismus – kämpften erbittert um die Herrschaft über die Massen. Leons kurzes, fruchtbares Leben sollte ganz unter dem Zeichen dieses Kampfes stehen.

Die Teilungen Polens an jedem historischen Wendepunkt mußten dazu führen, einen militanten Nationalismus, das schwere Erbe einer elenden Vergangenheit, auf den Rücken der Arbeiterbewegung zu laden. Die polnischen Juden, Opfer jeder politischen und sozialen Krise, Zeugen von Pogromen unter den Zaren, der Revolution und den Weißen, unter den Russen, den Polen, Ukrainern und Litauern, suchten eine verzweifelte Lösung durch die Formulierung ihres eigenen nationalistischen Mythos: des Zionismus. Obwohl Ausdruck der totalen Sackgasse, in die das Denken des jüdischen Kleinbürgertums geraten war, verlieh diese reaktionäre Utopie auch dem Willen der Jugend, vor allem der proletarischen, Ausdruck, ein sozialistisches Ideal zu verwirklichen und aktiv am Kampf des Weltproletariats teilzunehmen.

Der Widerspruch zwischen dem kleinbürgerlichen Charakter des Zionismus und den streng internationalistischen Folgerungen des Marxismus drängte die zionistischen Arbeiterführer zur Entwicklung einer neuen Theorie, die durch eine Kombination ihres Sozialismus – der wissenschaftlich sein sollte – mit ihren zionistischen Bestrebungen diese mit dem Schein marxistischer Begründung ausstatten sollte. So entstand die seltsame Theorie des „Borochowismus“, nach dem Namen ihres Begründers Ber Borochow, die für mehrere Jahrzehnte zur offiziellen Theorie der jüdischen Revolutionäre in aller Welt wurde.

Die Familie Leon war Anhänger des „offizielle“ kleinbürgerlichen Zionismus. Bei der ersten Berührung mit der Wirklichkeit übte die Anziehungskraft des zionistischen Mythos auf das Kind die Wirkung eines religiösen Rausches aus. Das Mythos mußte zum Leben erweckt werden: als Abraham alt genug war, das Gymnasium zu besuchen, wanderte die Familie nach Palästina aus. Die wunderbaren Eindrücke dieser Reise gruben sich wie ein Märchen in sein Gedächtnis ein Er erinnerte sich daran, wie die Sonne auf den Dächern Konstantinopels glitzerte, an das Geräusch des Meeres in der verzauberten Inselwelt der Ägäis, und daran, wie die zerklüftete Küste des verheißenen Landes zum ersten Mal vor ihm auftauchte. Doch das Märchen war nicht von Dauer: nach einem Jahr schon kehrten sie in ihr Geburtsland zurück.

Unter diesen wechselnden Bedingungen macht der Junge Beobachtungen, versucht zu verstehen und nimmt die Idee der ständigen Bewegung von Menschen und Dingen auf. Sein Geist geht auf Wanderschaft und kommt vorerst nicht zur Ruhe. Erst 1926, als die Familie sich für die Emigration nach Belgien entscheidet, beginnt Abraham, sich stark für seine Altersgenossen zu interessieren, und nimmt mit der zionistischen sozialistischen Jugendbewegung „Hashomer Hatzair“ Verbindung auf. Andere Kräfte beginnen auf ihn zu wirken. In der Schule spürt er die Schranken, die vor dem Juden und Ausländer aufgerichtet sind und ihn von seinen Klassenkameraden trennen. Wie könnte er nicht begreifen, daß er „anders“ ist und besondere Probleme vor ihm stehen, wenn er ständig beobachten muß, daß er anders behandelt wird, daß er nicht wie andere Jungen an ihren Spielen teilnehmen darf, sondern als Zielscheibe ihrer Sticheleien und ironischen Bemerkungen dient? Auf dem Heimweg durch die belebten Straßen der dichtbesiedelten alten Viertel von Brüssel wird er scharf auf die Widersprüche der modernen Gesellschaft gestoßen. Das Bild einer in Arme und Reiche geteilten Welt bewegt ihn tief. Wie kann er helfen, natürlicherweise auf Seiten der Unterdrückten, weil selbst von dem Gefühl ergriffen, Opfer einer doppelten Ungerechtigkeit zu sein?

So wird der junge Leon ein glühender Kämpfer in den Reihen der sozialistischen zionistischen Jugend. Sein Verstand beginnt, die Empörung und Rebellion zu klären, die sein Herz fühlt. Schrittweise wächst durch systematische marxistische Studien sein Verständnis von der Gesellschaft und der Lösung, auf die der Kampf der Arbeiter hinzielt. Durch die Mitarbeit in der Jugendbewegung – trotz ihrer konfusen politischen Vorstellungen eine vorbildliche Organisation, eine der besten Schulen für Moral und proletarisches Denken – beginnt sich alles aufzulösen, Familienbande, Traditionen, das Erbe generationenlangen kleinbürgerlichen Denkens und der unterwürfigen Furcht vor Autoritäten. Er wird frei in Charakter und Geist. Er lernt, sich selbst zu bestimmen und seine Person dem Streben nach dem Ziel unterzuordnen. Dadurch wird sein Wille gefestigt. Seine Persönlichkeit bildet sich in der Konzentration auf den Kampf für den Sozialismus heraus. Er findet die höchste Befriedigung in Gedanken und Aktionen, die im Dienst des Weltproletariats stehen.

Nicht lange, und der junge Leon hat seine Genossen in der Bewegung überflügelt Er ist nicht nur der Intelligenteste, Gefestigtste und Gebildetste, er strahlt zugleich eine Ruhe und eine begründete Zuversicht aus, die ihm ganz natürlich und rückhaltlos die Anerkennung der anderen sichern. Als geborener Führer hat er es nicht nötig, seine Stimme zu erheben, mit schönen Phrasen zu gewinnen oder durch außergewöhnliche Taten zu glänzen, um seine Autorität bei jedermann zu begründen. Er steigt rasch auf in den verschiedenen Rängen der gewählten Gremien der Hashomer und gelangt bald in die Brüsseler Leitung und auch in die nationale Führung.

Die Bedingungen, unter denen seine Familie lebt, nötigen ihn, seine Studien für einige Zeit aufzugeben. Ständig ist er auf Reisen durch ganz Belgien, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. So kann er seine Verbindungen mit den arbeitenden Massen erneuern, die wieder auf den Straßen ihre Stärke demonstrieren und ihr Recht fordern. Während der sonnigen Sommertage des Jahres 1936 verbreitet sich die Unruhe von den Kohlegruben von Charleroi bis zu den düsteren Dörfern der Bergleute in der Borinage. Während die Polizei die Straßenkreuzungen kontrolliert, versammeln sich die Arbeiter, um einen neuen Führer zu hören. Es ist Jahre her, seit sie zuletzt eine wirklich revolutionäre Stimme gehört haben.

Zu Tausenden kamen die Arbeiter nach Flénu, nach Jemappes, Quaregnon, nach Frameries und in das große Stadion von Bouverie, um die zündenden Reden von Walter Dauge zu hören, dem jungen Begründer der Revolutionär-Sozialistischen Partei. Leon nahm an den Versammlungen mit Dauge teil. Er lernt den Trotzkismus von Stalinismus unterscheiden. Es dauert nicht lange, bis er sich den Ideen anschließt, die ihm als Ergebnis des authentischen Marxismus erscheinen, durchdrungen von den wahrhaften Interessen des Weltproletariats anstatt von den schändlichen Fälschungen, die der Herr des Kremls fabriziert. Die Reihe der gespenstischen Moskauer Prozesse läßt ihn eine definitive Haltung einnehmen. Seit diesem Jahr ist er – gegen die gesamte Weltorganisation der Hashomer, die sich in gewisser Weise dem Stalinismus anpaßt – ein entschiedener „Trotzkist“, der seine Ideen vehement und nicht erfolglos vor nationalen und internationalen Kongressen und Versammlungen verteidigt.

Doch während seine Kenntnisse des Marxismus rasche Fortschritte machen und er intensiv seinem Studium der Politischen Ökonomie nachgeht, bleibt Leon im Grunde dem Zionismus verbunden, Während seiner einjährigen Tätigkeit als Vorsitzender der belgischen zionistischen Föderation stellt er seine ganze Energie, seinen ganzen revolutionären Elan in den Dienst der Sache. Als eine Gruppe junger Militanter nach Palästina aufbricht, wird ein enthusiastischer Aufruf zur Gründung einer „kommunistischen“ Kolonie dort verbreitet. Doch Leon beginnt zu zweifeln. Seite an Seite mit ihm stehen die Vertreter der kleinbürgerlichen und bürgerlichen zionistischen Organisationen. Ist er nicht gegenwärtig mit ihnen vereint, obwohl er einen gnadenlosen Kampf gegen sie erwartet, sobald die „Nationalität“ gewonnen ist und die „Möglichkeiten, einen Wirksamen Kampf zu, führen“, (1) in Palästina gegeben sind? Ist das nicht Sozialpatriotismus, wenn auch in ungewöhnlicher Form? Leon hat seinen Lenin gut gelernt. Er hat die ausführliche und klare Argumentation in Gegen den Strom im Kopf. Wie kann er diesen konsequenten Leninismus mit dem Zionismus vereinbaren? Wo ist die gemeinsame Basis für den jüdischen nationalen Kampf und den Kampf des internationalen Sozialismus?

Mit diesen Fragen nahm Leon, zwanzig Jahre nach Borothow, die Fährte des „Theoretikers“ von Hashomer wieder auf, um eine marxistische Rechtfertigung des Zionismus zu finden. Er stellte alles infrage; methodisch erforschte er die Zusammenhänge der zionistischen Ideologie, erkannte keinen ihrer Grundsätze an und bahnte sich seinen Weg durch die verworrenen Vorurteile von Juden und Nichtjuden über die jüdische Geschichte. Diese Geschichte, die so erstaunlich und außergewöhnlich erscheint, versucht sein streng wissenschaftlicher Geist mittels der marxistischen Methode zu erklären. Im Laufe seiner Untersuchungen schickte er einige Artikel an die belgische trotzkistische Wochenzeitung La Lutte Ouvrière. Die Herausgeber der Zeitung nahmen mit ihm Verbindung auf. Er war überrascht, bei diesen einfachen Arbeitern Schätze historischen, ökonornischee und politischen Wissens anzutreffen. Er spürte: hier war die Avantgarde. Ein letztes Mal kehrte er zu seiner Vergangenheit zurück, entschlossen, sich von ihr in voller Klarheit friedlich zu trennen, nachdem er für sich selbst und die Genossen die tiefgreifenden Ursachen für seinen Bruch geklärt und seinen Freunden die Wahrheit eröffnet hatte, die er soeben entdeckt hatte. Seine „Theorien über die jüdische Frage“ nahmen Gestalt an; sein Buch Judenfrage und Kapitalismus stellt eine erweiterte Ausarbeitung dieser Thesen dar.

Unterdessen hatte eine Welle der Unruhe die jüdischen Massen überall auf dem Kontinent erfaßt. Sie fühlten das Herannahen des Krieges; Vorahnungen der schrecklichen Katastrophe, die sie heimsuchen sollte, stürzten sie in eine Krise von Nervosität und Furcht. Der Hashomer-Weltkongreß trat zusammen. Schon fiel der drohende Schatten Hitlers über Brüssel. In hitzigen Debatten sprachen sich die Delegierten entweder für eine „bedingte“ Unterstützung des britischen Imperialismus aus oder für „Neutralität“ oder für eine „unabhängige Verteidigung“ Palästinas, sollte es von einer faschistischen Armee bedroht werden. Leon verteidigte sogar vor seiner endgültigen Abkehr vom Zionismus trotz ärgerlicher Zwischenrufe gegen den „Renegaten aus Israel“ mutig die Position des revolutionären Defaitismus. „Wehe denen, die mit ihrem Sozialpatriotismus den Chativinismus unter den Arbeitern der gegnerischen Länder säen. Diese Waffe wird jene treffen, die sie ergriffen haben. Wehe denen, die die falsche Hoffnung verbreiten, das elende Schicksal der Juden in Mitteleuropa werde sich nach dem Sieg des britischen Imperialismus gegen seinen deutschen Kontrahenten bessern. Sie selbst werden die Opfer sein, die er am härtesten trifft!“ In diesem Sinn muß Leon gesprochen haben. Und welche Bestürzung müssen seine Worte bei diesen schwankenden Zentristen hervorgerufen haben, die an jeder Wende nach billigen Lösungen und Kompromissen suchen und unfähig sind, der Härte der Geschichte mit einer gleich strengen Haltung zu begegnen.

Während die Wellen des imperialistischen Krieges näher und näher an Belgien heranschlugen, bevor sie es im Mai 1940 überfluteten, vollendete Leon seine „Thesen über die jüdische Frage“ und unterbreitete sie seiner Organisation zur Diskussion. Bei seinem Versuch, die Bedeutung der jüdischen Geschichte zu verstehen, geriet Leon mit Borochows „metaphysisch-materialistischer“ Theorie in Konflikt, und seine vordringliche Bemühung galt der Beseitigung dieses Hindernisses. Borochow meinte, daß die jüdische Frage darin wurzele, daß die Juden, und besonders die jüdischen Arbeiter, keine wichtige Rolle in den entscheidenden Sektoren der Wirtschaft spielten (Schwerindustrie, Metallurgie, Kohle usw.), sondern bedeutende Positionen nur in den Randzonen des ökonomischen Lebens innehätten. Die soziale Zusammensetzung anderer Völker ähnele einer Pyramide mit einer Basis aus Hunderttausenden von Bergleuten, Metallarbeitern, Eisenbahnarbeitem usw., darüber breite Schichten von Handwerkern und an der Spitze immer dünnere Schichten von Geschäftsleuten, Industriellen und Bankiers. Die soziale Zusammensetzung des jüdischen Volkes hingegen sehe einer „umgekehrten Pyramide“ gleich, in der breite Handwerkerschichten auf einer beschränkten Anzahl von Arbeitern – beschäftigt noch dazu in den nicht entscheidenden Industriezweigen – ruhten und das volle Gewicht einer gewaltigen Masse von Geschäftsleuten zu tragen hätten.

Borochow schloß seine Analyse an diesem Punkt kurz. Er akzeptierte diesen Tatbestand als historische Gegebenheit, ohne den Versuch einer Erklärung zu machen, und nahm ihn als Ausgangsbasis für seine „Lösung“ des Problems: Zuallererst sei es notwendig, die „umgekehrte Pyramide wieder umzukehren“, also eine „normale“ jüdische Gesellschaft, wie sie andere Völker hatten, zu errichten. Vorher könne das Proletariat nicht ernsthaft einen revolutionären Kampf führen, und eine solche Gesellschaft lasse sich nur in Palästina aufbauen.

Leon erfaßte rasch den nichtdialektischen Charakter dieser Theorie. Die gegebene soziale Lage der Juden konnte nicht als ein „Faktum“ betrachtet werden, sondern nur als das Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Wie war diese andere historische Entwicklung der Juden vor sich gegangen? Durch die Verbindung des Gedankengangs von Borochow mit einigen beiläufigen Äußerungen von Marx, dessen Genius das ganze „Geheimnis“ der jüdischen Geschichte aufgedeckt hatte, begann Leon die Vergangenheit der Juden zu rekonstruieren.

Die Erklärung der jüdischen Religion und der Grund ihrer Fortdauer mußte in der sozialen Funktion der Juden gesucht werden. Auf der Grundlage einer Fülle von Zeugnissen und Dokumenten, die er zusammentrug, entwickelte Leon die Theorie der „Volks-Klasse“, überraschend in ihrer Einfachheit und doch der unentbehrliche Schlüssel zur früheren und heutigen Rolle der Juden und für den Ausweg aus ihrem Elend.

Der Irrtum des Borochowismus lag jedoch nicht nur in seinem Ausgangspunkt sondern mehr noch in seinen Folgerungen. Er ging an die „Lösung“ der jüdischen Frage nicht nur außerhalb des historischen Prozesses, sondern auch außerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität heran. In der Epoche des Imperialismus, des Todeskampfes des Kapitalismus, mußte der „Wille“ von ein paar Millionen jüdischen Arbeitern, eine „Gesellschaft wie die anderen zu schafen“, als eine mitleiderregend schwache Kraft erscheinen, angesichts des Kampfes der imperialistischen Riesen um jedes noch nicht eroberte Fleckchen Erde und angesichts der weltweiten heftigen Zusammenstöße der Klassen. Borochow hatte keinen Begriff von dem Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung in der Epoche des Imperialismus, dessen Wirkung ausnahmslos alle Nationen daran hindert, irgendeines ihrer Probleme im Rahmen der Herrschaft des todkranken Kapitalismus zis lösen. Die tragischen Besonderheiten der jüdischen Gesellschaft konnten nicht durch ihre Isolierung von der niedergehenden Gesellschaft insgesamt überwunden werden. Die „umgekehrte Pyramide“ der Juden konnte nicht mehr auf die Füße gestellt werden, während die „normale“ Pyramide der anderen Völker schon selbst im Prozeß der Auflösung begriffen war. Die proletarische Weltrevolution allein kann die jüdische Geschichte normalisieren. Im Rahmen des niedergehenden Kapitalismus gibt es keine Lösung.

Mit diesen Überlegungen beglich Leon vollständig alle Rechnungen mit seiner eigenen Vergangenheit. Er wies nicht nur den kleinbürgerlich-utopischen Charakter des zionistischen Ideals nach, sondern zeigte auch, wie dieses Ideal, gleich allen anderen Überresten einer „eigenständigen“ kleinbürgerlichen Ideologie, im Zeitalter des Imperialismus zu einem Werkzeug in den Händen des Weltkapitals werden muß. Er denunzierte den Zionismus als Hemmschuh der revolutionären Aktivität der jüdischen Arbeiter in aller Welt, als Hindernis vor der Befreiung Palästinas aus dem Joch des britischen Imperialismus, als Erschwernis für die Einheit von jüdischen und arabischen Werktätigen in Palästina. Ohne Vorbehalte oder Ausflüchte verurteilte er offen seine gesamte vorherige Tätigkeit. Er sah klar, wodurch sie bedingt worden war und daß sie ein notwendiges Stadium in seiner Entwicklung dargestellt hatte. Sein zutiefst dialektischer Verstand begeisterte sich an der Darlegung jedes Elements von Wissen, jeder Phase des Bewußtseins als Ergebnis des Kampfes, die Gegenwahrheit und den Irrtum zu besiegen. „Um zu verstehen, muß man mit dem Nichtverstehen beginnen“, sagte er oft, „keine Überzeugung sitzt so tief wie jene, die man im Verlauf eines langen und aufrichtigen ideologischen Kampfes im Innern erworben hat.“ Die wenigen Jahre, die ihm das Leben noch vergönnte, zeigten, wie genau diese Beobachtungen auf ihn selbst zutrafen. Nach Überwindung seiner nationalistischen Phase vertrieb Leon auch die letzte Spur des Zionismus aus seinem Denken und sein Internationalismus gewann eine so reine Form, wie man sie selten antrifft.

Nicht länger unter dem Druck, zwei widersprüchlichen Wegen folgen zu müssen und sich in innerem Zwiespalt zu verschleißen, konnte er hinfort mit seiner ganzen Energie und Kraft auf einem einzigen Weg voranschreiten, dem der Vierten Internationale. Leon verließ die Hashomer zusammen mit einigen Genossen und organisierte einen Studienzirkel, um sie an den Trotzkismus heranzuführen. Höchst bezeichnend war der Zeitpunkt seiner „Konversion“. Als Leon zum internationalen Kommunismus stieß, schien die belgische Arbeiterbewegung tot. Henri de Man – der als glühender Antimilitarist begonnen hatte, um sich in schnellem Wechsel zum Sozialpatrioten, Theoretiker einer abgeschmackten „Revision“ des Marxismus, Minister Seiner Majestät und quacksalberndem Flickschuster des Kapitalismus zu wandeln – hatte gerade den Kreis seines „sozialistischen“ Lebens geschlossen, indem er die Partei, deren Vorsitzender er war, auflöste und seine Genossen aufrief, Hitler beim Aufbau einer neuen Ordnung in Europa zu unterstützen. Die Kommunistische Partei, isoliert von den Massen, die durch die Ereignisse von Mai/Juni 1940 wie betäubt waren, folgte den Weisungen Moskaus, zog sich vorsichtig zurück und ging sogar so weit, eine Wochenzeitung in flämischer Sprache herauszubringen, die Goebbels‘ endlose antibritische Tiraden wiederkäute und dazu rituelle Lobgesänge auf das „Land, wo das Leben so froh und glücklich war“, brachte. Walter Dauge, der ehemalige Führer der Trotzkisten, dessen intellektuelles Gepäck zu leicht war, um diese schwere Prüfung zu bestehen, verfiel in tiefe Demoralisierung und überließ seine Partei ihrem Schicksal. Die wenigen, über das Land versprengten trotzkistischen Kader hatten noch kaum wieder die Verbindung untereinander hergestellt. Die Situation schien nur Resignation und beobachtendes Abwarten zuzulassen. Jede andere Haltung erschien als Ausdruck einer verzweifelten und ohnmächtigen Revolte.

Was fehlte, war nicht so sehr der Mut zum Handeln, sondern der Mut zum Denken, zum richtigen Denken. Die marxistische Analyse ermöglichte es, die totalitäre Decke, die auf Europa lastete, zu durchdringen und die Kräfte heranreifen zu sehen, die sie letztlich abschütteln würden. Leon beobachtete richtig, was uns Anlaß zur Hoffnung bot; er erkannte, daß die Arbeiterbewegung Europas den tiefsten Punkt ihrer Ebbe schon erreicht hatte. Jetzt war mit einem neuen Aufschwung zu rechnen, den man nicht passiv abwarten durfte. Es galt, sich darauf einzustellen, die Kader und, soweit wie möglich, die Massen vorzubereiten. Selbst in den dunkelsten Augenblicken der Geschichte kann eine Partei, die später imstande ist, die Massen im Kampf zu führen, nur durch die beständige Verbindung mit dem täglichen Leben, den alltäglichen Schwierigkeiten und Bestrebungen des Volkes geschmiedet werden. Hinter jedem Grund zur Verzweiflung mußte ein Grund zur Hoffnung entdeckt werden.

Diese mitreißenden Gedanken Leons sind nicht nur ein Symbol, sie sind der Beginn des Handelns. Als wir am 20. August 1940 von der tragischen Nachricht der Ermordung Trotzkis überwältigt wurden, schrieb Leon unverzüglich das erste illegale Flugblatt der belgischen trotzkistischen Bewegung. Er stellte die Verbindung mit einigen ehemaligen regionalen Führern der Partei in Brüssel her.

Die erste Leitung begann Gestalt anzunehmen. Die illegale trotzkistische Organisation wurde am Tag nach der Ermordung ihres geistigen Vaters geboren. Die Lebenskraft der Ideen der Vierten Internationale, die nur der bewußte Ausdruck der historischen Wirklichkeit sind, bedürfen nur der Gelegenheit und der Menschen, um sich an jedem Wendepunkt von neuem zu bestätigen. Hier fanden sie beides.

Es folgte eine Periode pausenloser, beharrlicher und unbeugsamer Arbeit unter Schwierigkeiten, die immer neu entstanden und jedesmal unüberwindlich erschienen. Von nun an ist Leons Biographie mit der Geschichte der trotzkistischen Bewegung in Belgien verknüpft. Als Hauptantriebskraft der Partei fungiert er als ehr politischer Sekretär, seit das erste Exekutivkomitee sich gebildet hatte. Er war ein Journalist mit einem prägnanten, lebendigen und klaren Stil, und seine Leser spürten, daß er jedes Problem, über das er schrieb, gründlich verstanden hatte. Die Redaktion der illegalen Voie de Lénine arbeitete unter seiner Leitung; die ersten Ausgaben enthielten eine meisterhafte Studie aus seiner Feder über Struktur und Zukunft der imperialistischen Mächte. Darin zeichnete er die Hauptlinien der kommenden Ereignisse exakt so vor, wie sie sich später tatsächlich entwickelten. Beispielhafter Organisator und Erzieher, leitete er die Gliederungen der Partei, versuchte sie unter den Bedingungen der Illegalität aufzubauen und konzentrierte sich mit unendlicher Geduld darauf, in den Arbeiterbezirken Vertrauen zu gewinnen und eine anerkannte und verantwortliche nationale Leitung auf der Grundlage dieses Vertrauens zu bilden.

Ich traf ihn zum ersten Mal bei der ersten Sitzung des Zentralkomitees der Partei, das sich aufgrund seiner Anstrengungen im Juli 1941 rekonstituierte.

Obwohl ihn die enormen organisatorischen und politischen Aufgaben bis zum äußersten beanspruchten, gab Leon nicht einen Augenblick seine theoretische Arbeit auf – das wertvollste Erbe, das er uns hinterlassen hat. Zum einen führte er sein Buch über die jüdische Frage zuende, arbeitete unablässig an Einzelheiten, überprüfte wochenlang diesen oder jenen besonderen Aspekt, verschlang alle verfügbare Literatur, verteidigte aber seine Ansichten konsequent, sobald er einmal seine Position geklärt hatte. So entstand dieses Buch, beispielhaft nicht nur für die Anwendung der marxistischen Methode auf ein spezifisches historisches Problem. Es „beseitigt“ nicht nur die jüdische Frage vom historisch-materialistischen Standpunkt, es enthält auch einen reichen Schatz an Beobachtungen und Äußerungen über vielerlei Probleme der Politischen Ökonomie, der Geschichte und zeitgenössischer Politik.

Zum anderen widmete er sich der Ausarbeitung einer präzisen leninistischen Konzeption für jene Frage, die damals alle Revolutionäre in den besetzten Ländern beschäftigte, nämlich die nationale Frage und ihr Verhältnis zur Strategie der Vierten Internationale. Die allzu bereiten Kritiker der Politik der Trotzkisten gegenüber der nationalen Frage soilten die Dokumente lesen, die Leon in dieser Periode darüber schrieb. Sie sollten lesen, wie er – und die gesamte Führung unserer Partei – einerseits darauf bedacht waren, das leninistische Programm vor der Ansteckung des Chauvinismus zu bewahren, andererseits leninistische Taktiken gegen die Kurzsichtigkeit der Sektierer verteidigten, und sie werden sehen, wie töricht ihre Vorwürfe sind, wir hätten die nationale Frage „unterschätzt“.

Was er auf der Ebene der Theorie geklärt hatte, suchte er in die Praxis umzusetzen. Wenige Kader, die wir waren, konnten wir keine systematische Arbeit unter den Widerstandskämpfern aufnehmen. Doch bei jeder echten Bewegung, sei es, als die Universität von Brüssel geschlossen wurde, sei es bei den ersten großen Streiks in Lüttich oder den Deportationen der Juden, intervenierte unsere Partei jedesmal mit ihrer politischen Linie, „jede Massenbewegung zu unterstützen und voranzutreiben, die gegen die imperialistischen Besatzer gerichtet ist, mit dem Ziel, sie auf die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu orientieren.“ Mit begründetem Stolz konnte Leon auf der illegalen Konferenz vom Juli 1943 hervorheben, daß es kein einziges Ereignis seit 1941 in Belgien gegeben hatte, bei dem unsere Partei abseits gestanden hätte.

Sobald die Partei rekonstituiert war, begann Leon sich um die internationalen Beziehungen zu kümmern. Als zutiefst überzeugter Internationalist fand er es untragbar, daß die belgische Sektion isoliert von ihrer Bruderbewegung im übrigen Europa und auf der ganzen Welt lebte. Die Notwendigkeit der Verbindung zu den Sektionen der Vierten Internationale ergab sich nicht nur aus seinem Bedürfnis, die politische Linie der belgischen Partei mit der ihrer Bruderparteien abzustimmen; sie entsprach der sehr deutlichen Erkenntnis, daß die großen militärischen und revolutionären Erschütterungen künftig unvermeidlich einen kontinentalen Charakter annehmen mußten und daß keine politische Führung allein auf der nationalen Ebene würde wirksam arbeiten können. Ein Versuch, mit Holland Kontakt aufzunehmen, schlug fehl. Mehr Erfolg hatten wir in Frankreich. Dank seiner Verbindungen erreichten uns über Marseille Trotzkis letzte Schriften, darunter das Manifest der Notkonferenz; wir gaben es als Broschüre heraus. Später, im August 1942, fand das erste Treffen von Vertretern der belgischen und der französischen Leitung statt; Leon und Marcel Hic (2) waren die Hauptinitiatoren dieser Bewegung. Sie legten den Grundstein für das spätere Provisorische Europäische Sekretariat, das seinerseits die internationale Leitung unter den Bedingungen vollständiger Illegalität rekonstituieren sollte.

Diese Zeit der Aktivität im Untergrund unter äußerst gefährlichen Bedingungen, als das Herz unwillkürlich bis zum Hals schlug, wenn es klingelte oder ein Auto nahe dem Haus hielt, war eine Zeit extremer Nervenanspannung und ständigen Wartens auf eine Explosion, die endlich eine Bresche in die Mauern des riesigen Gefängnisses reißen würde, zu dem das alte Europa verwandelt worden war. Wir erwarteten diese Explosion aus den Tiefen des Gefängnisses. Unsere Gedanken kreisten um die Reserven an revolutionärer Energie, die sich während der langen Jahre des Leidens bei dem Proletariat des alten Kontinents aufgespeichert hatten. Als Leon persönlich die Leitung der Parteiarbeit unter den Arbeitersoldaten der deutschen Wehrmacht übernahm oder wenn er an den Zusammenkünften der Untergrund-Fabrikkomitees der Lütticher Metallfabriken teilnahm, immer erfüllte er diese verschiedenen Aufgaben mit einem Geist, der über das Gegenwärtige hinausging. Er wollte säen, so daß die Partei ernten könnte, wenn der entscheidende Augenblick da war. Oft stellte er die Frage, ob wir angesichts der zahlenmäßigen Schwäche unserer Kader in der Lage sein würden, die Früchte unserer Arbeit zu ernten. Er konnte nicht voraussehen, daß er selbst der Partei in den entscheidenden Tagen der „Befreiung“ verloren gehen sollte und daß das Fehlen seiner schlagkräftigen Führung die Partei daran hindern würde, die Vorteile aus jener außergewöhnlichen Stunde zu ziehen, die sonst möglich gewesen wären.

Dann kam der Sturz Mussolinis. Endlich spürten wir den aufkommenden Wind der Revolution, unsere Aktivitäten vervielfachten sich. Jeder von uns gab sich bis zur Erschöpfung aus, der Wendepunkt war nahe. Mehrere Reisen nach Frankreich wurden unternommen, wo Leon aktiv an der Arbeit der Europäischen Konferenz der Vierten Internationale im Februar 1944 teilnahm. Wir unterbrachen unsere eigene Vorbereitung; jetzt ging es darum, aktiv in die Arbeiterkämpfe einzugreifen, die überall ausbrachen. Im Gebiet von Charleroi ergriff die trotzkistische Organisation die Initiative zum Aufbau einer illegalen Delegiertenbewegung der Bergleute. Unter den Bedingungen vollständiger Illegalität begannen die Ideen der Partei unter den Massen Fuß zu fassen. Leon erkannte die ganze Tragweite dieser Bewegung und wollte ihr nahe sein. So entschied er, nach Charleroi umzuziehen, um täglich mit den revolutionären Arbeitern dieses Gebietes zusammenarbeiten zu können. Nachrichten von der Landung der Alliierten in Europa und Sorgen, daß die Verbindungen zwischen den Regionen abreissen könnten, beschleunigten die Vorbereitungen für den Umzug. Nach einem zweijährigen Leben im Untergrund ging er mit seiner Frau nach Charleroi. Am Abend seiner Ankunft durchsuchte Polizei das Haus, in dem sie wohnen wollten. Er wurde verhaftet und ins Gefängnis geworfen.

Lange Tage psychischer und körperlicher Folter folgten. Die Gestapo wandte alle Mittel an, ihn zum Reden zu bringen. Die Sorge um die Partei, die innerhalb von zwei Jahren fünf leitende Mitglieder verloren hatte, nagte an ihm. Es gelang Leon, das Vertrauen eines der Wachsoldaten zu gewinnen und einen Kontakt mit der Partei herzustellen. Seine Briefe sind das schlagendste Zeugnis dafür, daß auch in den schwierigsten Stunden des Lebens alle seine Gedanken auf die Organisation, ihre nächsten Projekte und ihre Zukunft ausgerichtet waren. Er wünschte so sehr, seine Arbeit Seite an Seite mit den Genossen weiterzuführen. Das Schicksal wollte es anders. Die Schnelligkeit, mit der er deportiert wurde. machte den Versuch der Partei, seinen Ausbruch zu organisieren, zunichte. Ei wurde an jenen Höllenort verschleppt, der fünf Millionen Menschen zum Verderben wurde – Auschwitz.

Leon war am allerwenigsten der Typus von Mensch, das Regime der Nazi-Konzentrationslager zu überstehen. Sein Sinn für menschliche Würde wurde mit der Entwürdigung und Grausamkeit nicht fertig, die in den Lagern zum gemeinsamen Nenner des Verhaltens wurde. Der Adel seines Charakters stieß mit der unerbittlichen Brutalität des verzweifelten Egoismus zusammen, während physische Anstrengungen. die er nicht gewohnt war. und bösartige Krankheit seinen Körper zerstörten. Nach einigen Wochen Arbeit in einer Straßenbaukolonne kam er in ein Quarantänelager. Dort mußte man einfallsreich sein im Ersinnen von Listen und Verstellungen, mußte vor den Aufsehern kriechen, handeln und stehlen, wollte man überleben. Er brachte es nicht über sich, sich auf diese Weise über seine Kameraden im Elend zu erheben. An sein miserables Lager gefesselt, verbrachte er die letzten Tage mit Lesen und Nachdenken. Er wußte, das Ende war nahe. Die letzte „medizinische Untersuchung“ kam. Die Kranken, die in die Gaskammern kommen sollten, wurden ausgesondert. Er war darunter.

Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, ein Urteil über einen revolutionären Führer abzugeben, der nur 26 Jahre alt wurde. Trotz seiner rastlosen Tätigkeit hat er uns nur wenige Arbeiten hinterlassen. Er schrieb nicht viel; bevor er seine Ansichten zu Papier brachte, durchdachte er sie lieber bis zu Ende. Dennoch reicht seine Hinterlassenschaft – sein Buch und einige Aufsätze und Artikel – aus, um in ihm einen Mann von außergewöhnlicher Begabung zu erkennen, der neben Marcel Hic die größte Hoffnung der Vierten Internationale in Europa verkörperte. Seine Charakterfestigkeit wie die Reife seines politischen Urteils, seine natürliche Autorität und seine Führungsqualitäten prädestinierten ihn dazu, unsere Bewegung durch unablässige Kämpfe bis zum Sieg zu fuhren. Die Lücke, die er hinterlassen hat, wird nicht so bald von einer Persönlichkeit gleichen Formats ausgefüllt werden.

Die ihn gekannt haben, werden Leon als Vorbild und Quell der Inspiration im Gedächtnis behalten. Die sein Buch lesen, werden die Klarheit und Kraft seiner Überlegungen bewundern und erstaunt sein über die Reife dieses 24jährigen Verstands. Manche werden fragen, wenn sie die Geschichte seines Lebens kennenlernen, warum ein Mann von so bemerkenswerten Fähigkeiten sein Schicksal mit einer kleinen revolutionären Organisation verband. Sie werden seine Aufrichtigkeit und seine grundlegende ideologische Ehrlichkeit loben, die ihn in vollständiger Eintracht mit seinen Ideen leben ließ. Sie werden sich fragen: Warum wählten die Marcel Hic, Martin Widelin (3) und Abraham Leon, die zu den begnadetsten Intellektuellen Europas gehörten, eine Bewegung, die ihnen weder Erfolg noch Ruhm und Ehre versprechen konnte, nicht einmal ein Mindestmaß materieller Annehmlichkeit; die ihnen im Gegenteil jedes Opfer abverlangte, einschließlich ihres Lebens, und lange, undankbare Arbeit forderte, oft getrennt von der Arbeiterklasse, der sie doch alles geben wollten. Und wenn sie in diesen jungen Revolutionären neben ihren intellektuellen Gaben auch höchste moralische Qualitäten erkennen, werden sie sich sagen: eine Bewegung, die solche Menschen allein durch die Kraft ihrer Idee und die Reinheit ihres Ideals anzuziehen und diese rationalistischen Dialektiker zu solchen Höhen der Selbstverleugnung und Hingabe zu führen vermag, kann nicht untergehen; denn in ihr lebt alles, was edel ist am Menschen.

Anmerkungen

(1) Hashomer Hatzair nimmt die Position ein, daß die jüdischen Arbeiter und revolutionären Sozialisten nur in Palästina „wirksam“ für die proletarische Revolution kämpfen könnten.

(2) Marcel Hic, Sekretär der französischen trotzkistischen Partei und führendes Mitglied des europäischen Exekutivkomitees der Vierten Internationale. Redakteur von La Verité, der ersten illegalen Zeitung im besetzten Teil Frankreichs. Verantwortlicher Redakteur von Arbeiter und Soldat, einer revolutionären Zeitung, die unter den deutschen Besatzungstruppen verteilt wurde. Ein Spitzel verriet ihn, er wurde von der Gestapo verhaftet. Gefoltert im KZ Buchenwald und dann im Lager Dora, wo er umkam.

(3) Martin Widelin, Führer von „Hashomer Hatzair“ in Berlin und enger Freund von Leon. Arbeitete als Trotzkist in der französischen und belgischen Sektion der Vierten Internationale. Organisator der Untergrundarbeit unter den deutschen Soldaten und einer der Redakteure von Arbeiter und Soldat, der an die Wehrmacht gerichteten trotzkistischen Propagandazeitung. Von der faschistischen „Brigade Speciale“ im Bois de Vincennes ergriffen, exekutiert und für tot liegengelassen. Ins Krankenhaus gebracht, der Gestapo verraten und sofort erschossen.

Quelle: ISP-Verlag [Hrsg.]: Zur jüdischen Frage. (= ISP-Theorie 5.) Frankfurt 1977. S. 5-16.