Brief von Christine Heymann an einen unbekannten Empfänger (17.5.1977)

(Übersetzung aus dem Französischen.)

Christine Heymann
19 Church Lane
Middleton, St. George
Darlington DL2 IDF
Co. Durham, England
17. Mai 1977.

Lieber Genosse,

vor einige Tagen hat mir Marguerite deinen Brief zukommen lassen. Ja, ich erinnere mich an dich.

Um auf deine Fragen zu antworten: ich bin am 10. Juli 1921 geboren. Ich habe an der Sorbonne Philosophie studiert. Durch die Vermittlung einer Freundin, die das gleiche Studium machte, habe ich die Bekanntschaft von Mathias Corvin gemacht und bin durch ihn in die Organisation eingeführt worden. Für die Organisation habe ich als Sekretärin gearbeitet und habe mich auch um die Solidarität gekümmert.

Für diese Solidaritätsarbeit hatten wir nur sehr geringe materielle Mittel und man hatte mich gebeten, ein Lokal der Résistance zu besuchen, um sie um ihre Hilfe zu bitten. An dem Morgen, an dem ich mich zu diesem Lokal in der Rue des Saints Pères begeben habe, war es von der Milice besetzt und auf diese Weise bin ich verhaftet worden.

Ich hatte zwei Wohnorte, einen nahe des Foubourg Poissonnière, wo auch Marcoux und seine Lebensgefährtin wohnten. Sie wurden dort verhaftet. Ich erinnere mich, dass Marcoux an diesem Tag eigentlich nach Belgien abgereist sein sollte, aber im letzten Augenblick ist seine Abreise annulliert worden. Ich war daher fürchterlich erstaunt, als ich in dem Lokal von der Milice ihm gegenübergestellt wurde. (Ich erinnere mich nicht mehr an die Adresse, aber ich glaube, dass es an einem Platz im 16. Arrondissement war).

Mein zweiter Wohnort war ein kleines Zimmer in der obersten Etage eines Wohnhauses am Boulevard Saint Michel. Unglücklicherweise hatte ich gerade die Miete bezahlt und die Quittung bei mir.

Widelin war auch Mieter eines vergleichbaren kleinen Zimmers auf dem selben Korridor. Ich kannte Widelin kaum. Ich wußte nicht, was er machte oder die Nummer seines Zimmers. Als die Milice mein Zimmer durchsucht hat, in dem sich ein Koffer voller deutschsprachiger Flugblätter befand, hat er natürlich gedacht, dass man seinetwegen gekommen sei. Man hat mir gesagt, dass er versucht hat, über das Dach zu flüchten, aber gefasst wurde.

Während wir von der Milice festgehalten wurden, ist Marcoux geflüchtet, indem er aus dem Fenster sprang. Wir wussten, dass er versuchen würde zu fliehen. Wir Männer und Frauen wurden in unterschiedlichen Zimmern festgehalten. Ich war in Kontakt mit einem Sympathisanten, der in diesem Stadtteil wohnte. Während einer Gegenüberstellung mit Marcoux hatte ihm seine Lebensgefährtin auf Rumänisch die notwendigen Informationen geben können, um diese Wohnung zu erreichen, ohne sich an jemanden zu wenden. Er ist sehr schwer geschlagen worden.

Am Morgen nach der Flucht von Marcoux ist die Gestapo gekommen, um uns abzuholen und nach Fresnes zu bringen.

Am nächsten Morgen sind Widelin und ich gemeinsam in der Rue de Saussaies verhört worden. Dann hat man uns, die Lebensgefährtin von Marcoux, Widelin und mich, in ein Zimmer gesperrt. Wo es nichts anderes als einen Ofen gab, der voller Asche war. Widelin hatte eine Rasierklinge versteckt und wollte sich die Pulsadern aufschneiden. Die Lebensgefährtin von Marcoux hat ihn daran gehindert und die Rasierklinge in die Asche geworfen.

Widelin hat mir ein paar Worte gesagt. Er hat mir gesagt, dass er eine Freundin hätte, an die er sehr viel dächte. Er muss extrem menschliche und großzügige Eigenschaften gehabt haben, weil er unter diesen Umständen daran gedacht hat, mir zu sagen: „Mach dir niemals Vorwürfe wegen meiner Verhaftung, das hätte mir schon viele Male passieren können.“

Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Ich war auch in schlechter Verfassung und ich glaube, dass ich auf dem Parkett eingeschlafen bin, denn es war Abend, als ich aufwachte.

Ich bin noch ein weiteres Mal zu einem Verhör in der Rue de Saussaies gebracht worden, aber ich habe Widelin nicht wiedergesehen. Ich habe bei meiner Rückkehr erfahren, wie er gestorben ist und ich denke häufig an ihn.

Ich hoffe, dass diese Erinnerungen dir nützlich sein werden. Es ist sicher, dass jeder von den gleichen Ereignissen unterschiedliche Erinnerungen zurückbehält entsprechend seiner Persönlichkeit und seinen Gefühlen.

Ich habe nicht vor, momentan nach Frankreich zu fahren, seit meine Eltern tot sind, fahre ich nicht mehr so häufig hin.

Meine besten Wünsche für dein Unternehmen.
Christine

(Kommentar am Ende in anderer Handschrift: Verhaftet am 13. Juli.)

Quelle: Archiv von Rodolphe Prager, Ordner 301, im IISG in Amsterdam.