(Ohne Datum – vermutlich Ende Juli 1939. Übersetzung aus dem Französischen.)
Im politischen Teil meines Briefes will ich auf Französisch fortfahren, ohne die persönliche Note zu verlieren. Zunächst zeigt uns die aktuelle Situation einige recht interessante Phänomene. Ohne Zweifel besteht die Möglichkeit eines Krieges, aber um die Wahrheit zu sagen, sehe ich – zumindest in diesen Monaten – aufgrund etlicher Umstände das nicht, trotz der Vorbereitungen, die in verschiedenen Ländern getroffen werden, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die fast alle Regierungen treffen. Woher meine Annahme? Betrachtet die Politik der englischen Regierung, wie immer der Pol der Weltpolitik! Es sind drei Fragen zu regeln: Erstens die polnische Frage, z.Zt. ein finanzielles Problem, d.h. die Frage eines Darlehens. Ihr wißt, dass es bis heute nicht gelungen ist, zu einer Vereinbarung mit der polnischen Regierung zu kommen Ich erwähne das, ich stelle das fest ohne die besonderen Punkte dieser unglücklichen Uneinigkeit anzusprechen. Zweitens musste die russische Frage geregelt werden, d.h. der Abschluss eines englisch-französisch-russischen Vertrages. Ihr wisst bestimmt, das vor allem die Engländer Schwierigkeiten machen während die Franzosen im Gegenteil diesen Vertrag begrüßen, auch in den Bedingungen von Seiten Moskaus. Drittens wollen die Japaner in Fernost mit Macht einen fundamentalen Wechsel ihrer Politik erzwingen, was bedeutet, daß man vorschlug, sie zu zwingen, mit der Unterstützungspolitik für die chinesische Nation aufzuhören. Und da hat man erstaunlicher Weise in recht kurzer Zeit eine Einigung gefunden.
Zufall? Nein, davon bin ich nicht überzeugt. Die Regierung hat im House of Commons versichert, dass sie nicht vorhat, die Linie ihrer Politik in Fernost zu verändern. Sie hat das dem englischen Publikum sagen müssen. Aber es gibt sicher große Widersprüche zwischen den Fakten und den Worten der Regierung. Tatsächlich hat diese Veränderung in der Fernostpolitik schon begonnen. Und der Beweis? Der letzte Absturz des chinesischen Dollars [unlesbar] spricht für sich während die britische Regierung schweigt.
Ihr habt auch in den Zeitungen von der Affaire Hudson-Wohltat gelesen. Ein Mitglied der britischen Regierung hat den Deutschen Kredite versprochen. Aber welcher Kenner der englischen Politik – was sage ich – der modernen Politik im Allgemeinen, weiß nicht, dass man so Versuchsballons steigen lässt, die ersten Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Und jetzt werden wir auch die Versicherungen der britischen Regierung in Zweifel ziehen, dass man im Osten Kompromisse geschlossen hat, um die Hände im Westen freizubekommen, d.h. gegenüber den totalitären europäischen Staaten. Diese Versicherung bedeutet in keinem Fall die Absicht, den Expansionen dieser Staaten ein Ende zu setzen. Diese Versicherungen sagen vielleicht, dass man versucht, einen besseren Kompromiss mit den Deutschen zu erzielen.
Noch einmal zurück zu den Polen. Man konnte keine Einigung erzielen. Das will uns sagen, daß wahrscheinlich der Unterschied nicht im Wunsch der Engländer besteht, die Verwendung ihrer verliehenen Gelder zu kontrollieren, sondern dass es um die Danzig-Frage geht. Die Engländer, die englische Regierung wünschen, nein fordern die Auslieferung von Danzig, natürlich nicht ohne Bedingungen. (Oh, natürlich gibt man nichts gratis heutzutage, auch die Deutschen nicht). Und von Warschau nach Moskau (und alle Kommunisten haben Amen gesungen): Seht, man kommt zu uns, man hat uns gefragt, gebeten, ist vor uns niedergekniet. Was sind wir wichtig geworden! Ja, meine Herren, man ist zu uns gekommen, man hat uns gefragt, hat sich niedergekniet. Aber wir haben das alles nur gemacht, um die englische Öffentlichkeit zu täuschen, die nach Hitlers Marsch auf Prag aufrichtig die Allianz mit Russland wünschte, man hat das alles gemacht, um sich über uns lustig zu machen, weise Politiker aus Moskau haben dies aufgedeckt, was sich von selbst versteht. Denn Englands Politik ist bis heute vorsichtig und voller List geblieben.
Man erfährt, dass es heute eine gewisse Gemeinsamkeit von englischen und deutschen Interessen gibt, eine Gemeinsamkeit, die vor allem von den unaufhörlichen Aggressionen der faschistischen Staaten geschaffen wird. Ich werde also antworten: Ja und nein. Ja, beide wollen Frieden, der eine um sein Empire, seine in Jahrhunderten erreichten Eroberungen zu bewahren, als England einen Vorsprung vor den anderen Mächten hatte, den Vorteil einer besonders günstigen geographischen Lage. Und der andere, Russland, will Frieden, um die Errungenschaften einer neuen sozialen Ordnung zu konsolidieren, um sie zu erhöhen und zu verstärken. Aber abgesehen von diesem gemeinsamen Willen gibt es zwischen den zwei ‚Freunden‘ Distanzen größer als die Entfernung zwischen London und Wladiwostok, groß wie die Distanz zwischen der kapitalistischen und sozialistischen Ordnung. Und als Folge dieser Unterschiede [existiert] auch der Wille zum Frieden in unterschiedlichen Formen, nein, außerdem auf unterschiedlichen Wegen. Die Russen sagen sich: wir wollen den Frieden mit den demokratischen Kräften und wir verbünden uns, die totalitären Staaten werden ihre Expansionspolitik nicht fortsetzen können, sie werden an ihren vorangegangenen Antagonismen ersticken, während wir, die Russen, der sogenannte sozialistische Staat, unser großes begonnenes Werk bestätigen werden, wir werden von der Zeit profitieren. Und wenn die faschistischen Staaten, um sich vor dem unvermeidlichen Ende zu retten, den Krieg erklären werden – um so besser, wir werden die faschistischen Regierungen zerstören und sie durch demokratische Regierungen ersetzen. Hauptsache ist, sagen sich die Russen, dass man den Deutschen nicht erlaubt, weiter zu expandieren, denn diese Expansion wie z.B. die Tschechoslowakei verschafft ihnen neue Reichtümer, weitere Bodenschätze, noch mehr ökonomische Ressourcen und abgesehen davon strategische Positionen, die vor allem nach Osten gerichtet sind, nach Russland. Das wird die russischen Vorteile, die sich aus ihrer sozialen Ordnung ergeben, in Frage stellen. Und außerdem weiß die russische Regierung sehr gut, daß auch die faschistische Ordnung große Vorteile hat, was die Kriegsvorbereitungen betrifft, obwohl die Kommunisten, geblendet von der Welt, das nicht wissen oder wissen wollen. Eh, das sagen sich die Regierenden in Moskau. Aber sie denken nicht an M. Chamberlain und seinen Regenschirm. Er will auch den Frieden, aber er macht sich keine Illusionen, daß man ihn ohne Konzessionen erreicht. Er berücksichtigt die ökonomischen Schwierigkeiten des „Reichs“ und er weiß, daß die Verzweiflung wird seinen Kanzler antreiben können, den Krieg zu beginnen. Er will nicht Hitlers Sturz, denn er kennt zu gut die Gefahr der Errichtung einer proletarischen Diktatur in Deutschland. Das ist die Gefahr, die er und die gesamte englische Bourgeoisie fürchten. Denn welches Kind zweifelt wirklich daran, dass ein sozialistisches Deutschland den Anfang vom Ende des europäischen Kapitalismus wäre. Man fürchtet diese Gefahr trotz aller aufrichtigen Versicherungen (davon bin ich überzeugt) der Kommunisten, dass sie bei der Errichtung einer neuen demokratischen Republik in Deutschland helfen wollen. Ich habe von bürgerlichen Journalisten geschriebene Artikel gelesen, in denen man mit Vergnügen das Nachlassen der kommunistischen Arbeit in den europäischen Kolonialländern festgestellt hat, wo der Kommunismus zuletzt in Frankreich geschlagen wurde. Aber trotz allem traut man den pazifistischen Ehrenerklärungen der kommunistischen Partei nicht, und selbst die deutschen Sozialdemokraten zweifeln daran und weisen die Angebote einer Einheitsfront zurück. Und die ‚Lösungen von Bern‘ von diesem Jahr, die eine demokratische Republik als Ziel der kommunistischen Politik festhalten. Die Konsequenzen einer solchen [unlesbar] im Programm der Partei sind noch nicht zu übersehen, [unlesbar] eine solche Politik wird sich rächen, wenn diese so benebelten Köpfe die fortschrittlichen Kräfte in den Kampf gegen die Faschisten werden führen müssen. Und man macht diese Opfer umsonst, umsonst gibt man sich fast auf, denn England ist noch nicht am Rande seiner Geduld angekommen (oder richtiger: Hitler ist noch nicht an der englischen Grenze angekommen). England will lieber einen Kompromiss mit Deutschland als einen gemeinsamen Krieg mit Russland, der den Sturz von Herrn Hitler verursachen kann.
Diese Politik des Kompromisses, diesen Verzicht auf diese Ideen führt man auf der ganzen Linie durch, in allen Ländern. Die Formel dieser Politik ist, dass in dieser Epoche das Proletariat der Länder nicht die Aufgabe hat, die soziale Ordnung zu verändern, sondern eine bewaffnete Aggression gegen die Sowjetunion zu verhindern, ihre Bourgeoisie zu zwingen, sich heute mit Russland gegen die faschistische Gefahr zu verbünden. Das ist das unausgesprochene Programm (um die wirklich revolutionären Partisanen nicht zurückzuweisen, das schon lange von der Dritten durchgeführt wird. Aber in unserer Zeit gibt es einen kleinen Fehler, einen kleinen Irrtum in dieser Politik, und der besteht darin, dass die ökonomische Entwicklung eine Zuspitzung des Klassenkampfes produziert, der die Alternative der bürgerlichen Diktatur (manchmal faschistisch) zur proletarischen ausmacht. Nur die Gegenüberstellung des faschistischen Imperialismus mit dem demokratischen Imperialismus zwingt die Bourgeoisie dazu, die alten Traditionen, die demokratische Fahne hochzuhalten, zu wahren. Aber manchmal hebt man diese Fahne schon so hoch, dass wir Sterbliche auf der Erde die demokratische Freiheit nicht mehr sehen können. Guckt Euch Frankreich an und lernt! Wer wollte uns garantieren, dass in der nächsten eventuell friedlichen Epoche der Faschismus nicht auch den Westen Europas erobert? Und schon der halbe Faschismus von heute reicht aus, um dazu zu führen, das das Proletariat der Länder aufhört, das Bollwerk der Sowjetunion zu sein, sie vor den Aggressionen von Seiten des Kapitalismus zu schützen. Und auch im Fall eines Krieges gegen den Faschismus besteht die Gefahr eines Angriffs der demokratischen Staaten gegen die Sowjetunion. In Belgien gibt es z.B. viele Sozialdemokraten, die heute sagen, dass die heutige russische Diktatur nicht besser ist als die deutsche, sondern eher schlimmer (die Prozesse usw.). Werden diese Arbeiter bereit sein, die Sowjetunion im Notfall zu beschützen? Warum sage ich das alles? Du, Carlo, hast beim Bericht über den Besuch bei Paul [Ehrlich] bemerkt, dass die Opposition die Unterschiede zwischen den demokratischen Ländern, die der Sowjetunion verbunden sind, und den faschistischen Ländern nicht beachtet. Sehr richtig, machte man keine Unterschiede, wäre das ein schwerer Fehler. Aber keine Unterschiede zu machen wie die Dritte, ihr Programm nicht preiszugeben und das Proletariat und seine schon schwächelnden Kräfte nicht aufzugeben – umsonst!
Quelle: Archiv von Rodolphe Prager, Ordner 301, Martin Monat,
im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG), Amsterdam