Brief 9 – Teil I

(Ohne Datum – vermutlich Ende Juli 1939.)

Chèrs enfants (Dear children)!

Ich muss ganz unbedingt zugeben, daß ich ein entsetzlich fauler Kerl bin, auf jeden Fall, was unsere Korrespondenz betrifft. Ausrede mit einem guten Grad Wahrheit ist aber (öh, ist das ein deutscher Satz!), daß ich garnicht viel zu schreiben wusste, was Euch interessiert hätte und daß ich sowieso schon die ganze Zeit nix als fluchen konnte über die bösen Zeiten, die einem alle alten Bekannten in die Winde streuen und auf diese Weise das federfaulste Vieh, wie z.B. meine Wenigkeit auch in die Tinte zwingen. Im Moment habe ich gerade alle [unlesbar] Korrespondenz (und glaubt mir, das ist mehr als genug) erledigt und ich fühle, daß es höchste Zeit ist, unsere Post vor dem Tod durch einen zu langen Schlaf zu bewahren. Jeder Brief heisst ja auch die vielleicht nur noch kurze Zeit bis zum Kriege ausnützen, in welcher unsere Post durchs Mittelmeer in Unterseebooten befördert und in Form von kleinen Torpedos dem Empfänger zugestellt wird.

Es sind auch heute keine revolutionären Neuerungen, ni dans l’histoire du monde ni dans la mesure [weder in der Weltgeschichte noch im Weltmaßstab], die ich zu berichten hätte. Zunächst, daß ich mit meinem Französisch-plappern schon echt zufrieden bin (Lesen geht natürlich, hemmungslos!). Es ist ein ganz angenehmes Gefühl, wenn man sich in einem fremdsprachigen Land ganz frei bewegen kann. Heute z.B. habe ich 2 echten Detektiven durchaus die Stange gehalten, als sie mich um mindestens 30 Mark betrügen wollten (30 M. nach alter [unlesbar]). Der eine hielt mir einen Vortrag ungefähr des Inhalts, daß von den 16 Detektiven Brüssels, Anwesende ausgeschlossen, höchstens 5 honette Leute seien, Anwesende wieder eingeschlossen. Und nannte, ohne vorher den Sauerstoff in seinen Lungen auszumachen, d.h. im gleichen Atemzuge einen unverschämten Preis für die Auffindung einer Adresse in Paris. Der andere wollte seinen Höchstpreis damit begründen, daß die Agentur in Paris nicht zuverlässig sei und z.B. ein Detektiv in Lille 50 fr.= ca 7 M für eine Auskunft verlangt habe, die er nachher nicht beschafft habe und daß der Kerl auf die Aufforderung, das Geld zurückzugeben mit keinem Mucks reagiert habe. Daß mich das nach der Feststellung, daß sich die Anzahl der ehrlichen Detektive zu der der unehrlichen nicht einmal wie eins zu drei verhält, nicht mehr sonderlich überrascht könnt Ihr Euch denken, habe ich ihm aber nicht gesagt. Nur als wir handelseinig waren und ich ihm zum Schluss die Bezahlung d.h. 100 fr. = ca. 14 M. aushändigte (gegen Quittung natürlich) meinte ich, ich hätte zu den Brüsseler Detektiven mehr Vertrauen als er zu den Lillern. Wahr war es nicht, aber der Esel mit einer Elefantenhaut um sein Kalbshirn fühlte sich statt beleidigt und geschmeichelt. Vor der Preisfixierung musste man ihm erst klarmachen, wie leicht die Geschichte für ihn wäre und, daß ich auf ihn scheissen (siehe Brockhaus unter Göring) könnte und mir die Adresse durch Bekannte in Paris besorgen lassen würde (was nicht wahr war, denn wegen des verrückten Meldesystems dort konnten sie es nicht). Diese Detektive haben sicher oft Kunden, die, ehe sie zu ihnen gehen, zehn Bände von Frank Allen [?] über Ralph Roberts [?] unter John Kling [Held von Detektivromanen, die 1924-39 erschienen sind] zu Harry Piel [deutscher Schauspieler] gelesen haben, anstatt sich besser zu erkundigen, was für Preise zu zahlen sind. Und die Meisterdetektive machen sich also geschäftstüchtig, wie auch sie nun mal sind, furchtbar wichtig. Der Eine, stellt Euch das vor, wollte wegen meiner Adresse schnurstracks nach Paris fahren. Natürlich hätte er die Sache durch Korrespondenz erledigt, den Zug nach Paris ohne ihn fahren und mich das Fahrgeld zahlen lassen. Übrigens sind es ehemalige Polizeikommissäre. Just Sie! Dein Hauspersonal ist nicht das zuverlässigste.

Wozu erzähle ich Euch eigentlich den Quatsch, von dem ich einen unerschöpflichen Vorrat in der Tüte habe? Wohl nur um die Zufriedenheit über meine französischen Kenntnisse auszudrücken, mir auf französisch den Bauch zu streicheln. Gelernt habe ich übrigens durch intime Bekanntschaft mit dem Volke, männlichen (weniger unten) und weiblichen Geschlechts, wobei ich mir die Bekanntschaft des Letzteren beim Tanze zugezogen habe. Das Mädel, mit dem ich in Deutschland zuletzt zusammen war, wieder mal eine ‚romantische‘ Geschichte, das Beste, was mir bisher unter die Augen gekommen war, ist leider und Gottseidank mehr als einen Monat vor mir mit den Eltern nach Schanghai gefahren. Gottseidank, weil sie schon in manche meiner ‚Illegalitäten ‚ verwickelt war und so wenigstens als der gefährlichste Teil an der Reihe war, sich ausser Reichweite der deutschen Polizei befand.

Nun, zum Tanzen, da muss ich Euch noch einen Schwank erzählen. Also ein bisschen habe ich in Deutschland gelernt, viel Gelegenheit gab’s ja nicht mehr. Hier tanzt man viel Rumba (Rumba schrecklicher Tanz), konnte ich nicht. Und der Walzer, der wird hier einfach gedreht und zwar in einem Tempo, daß man sich vorkommt wie das Schwungrad eines 12-Zylindermotors im Kleinflugzeug, und man hat das erste Mal wirklich den Eindruck, dass sich der ganze Saal in die Lüfte verbringt.

So konnte ich’s aber auch nicht. Was war zu tun? Lernen natürlich. Aber wo? Wo die Nötigen Versuchskarnickel beschaffen? Die Frage fand ihre Lösung. (Ausnahmsweise war diese nicht schon in der Frage selbst verborgen.) Ich liess mich von Edouard, dem Coiffeur (Friseur) aus unserem Hause mitschleppen und war auf so ein richtiges Dienstmädchen [unlesbar] im Norden der Stadt. Daselbst nun gab es viele Mädchen, hübsche und garnicht hübsche. Ich überlegte mir, daß ich’s mit jeder nach dem ersten Tanze verdorben haben würde und beschloss folglich, mich zunächst an die Hässlichen heranzumachen. Was Brille trug, leicht schielte, schlecht gebaut war, Doppelkinn besass, Elefantenbeine und dergleichen mehr all das war nicht sicher vor meinen Tanzanträgen. Und Ihr dürft mir glauben, daß ihnen das zuerst gar keinen Spass machte. Doch der Erfolg blieb nicht aus. Und als nach ca 2 Stunden die letzte aus der Kategorie der Hässlichen, die manche Liebhaber schon in die Kategorie der Schönheiten einreihen würde, ‚vertanzt‘ war, siehe da konnte man sich in Ruhe und Sicherheit an die Tanzschönheiten heranmachen. Also, sprach Zaratustra und dies nicht ganz zu Unrecht.

Zwei Tage später

Ich war beim Tanzen. Bei dieser Gelegenheit will ich nicht versäumen, es Dir, lieber Carlo zu empfehlen. Die Bundeshemmungen wirst Du noch leichter abwerfen können als ich und daß Du 2 cm kleiner bist als ich, wird Dich an zukünftigen Errungenschaften auf diesem Gebiet nicht hindern. Die Vorteile sind simpel gesprochen erstens, es löst (keine Phrase!) den Körper und damit unter Umständen die Seele, die bei bündischen Menschen und oft, wenn sie nicht mehr bündisch sind, zu verkrampft ist und zweitens bringt es Dich in Beziehung zum weiblichen Geschlecht, d.h. der Hälfte oder laut Bebel sogar mehr als der Hälfte der Menschheit, wie es heisst, der besseren. Ich würde mich da garnicht auf die Mädchenschule in Euerem Hause verlassen. Aber statt Kino ab und zu auch Tanzboden. (Denk an Deine Hymne, wozu sind die kleinen Mädchen da?) Lotte wird Dir bestimmt die Krawatte zünftig binden und Dir sicher auch sonst fachmännische Ratschläge geben, eher als ich [unlesbar] ist im Übrigen ebenso Sicherheitsgefühlssache wie Schwimmen. Ein Ohr, die Musik aufzunehmen und in den Körper fliessen zu lassen, hast du eher als mancher Andere, der heute sein Tanzbein schwingt wie einst Herkules die große Keule. Ich ahne schon, daß Du mir spröde den guten Rat zurückweisen wirst, befolge ihn aber trotzdem. Ich kriege bestimmt keine Provision vom ‚Tanzwirt‘. Gestern habe ich eine Eignungsprüfung für den nächsten Krieg gemacht und auch sehr gut bestanden. Es ist hier ‚foire‘, 6 Wochen lang ein Rummel, der sich einen riesigen Boulevard entlangzieht. Man sieht unter anderem draussen einen Frauenkopf auf einem Tablett, ohne den dazugehörigen Körper. Der Kopf lächelt, verdreht die Augen und soll wohl damit demonstrieren, daß die Frau selbst dann, wenn sie ihres ganzen Körpers beraubt ist, ein kokettes Wesen bleibt. Meine skeptizistische Weltauffassung, meine physikalischen Kenntnisse sowie ein Apparat an der Decke, der Spiegel und Linsen enthielt, hinderten mich am Eintritt an der Ausgabe von 1 fr, was bei vielen Anwesenden der Fall war, bei denen der lächelnde Frauenkopf auch ohne Körper (diesmal gerade ohne ihn) seine volle Wirkung tat. Ich wende mich den realen Seiten des Rummels zu. Ein Haufe Menschen stand vor einem Stand, wo ein Gesicht in Torpedoform auf einer Schiene schräg aufwärts zu rollen war. Wer bis oben hin kam, hatte den Genuss, einen vorn am Torpedo angebrachten Knallkorken explodieren zu sehen und konnte so seine Tüchtigkeit und Kraft geradezu in die Welt hinausknallen. Drei belgische Soldaten bemühten sich nun um die schwierige Aufgabe mit hochroten Köpfen. Der erste, ein baumlanger kam jedes Mal um einen Millimeter ans Ziel, gab Frank um Frank aus, [unlesbar] Kopf und blieb immer 1 Millimeter vor dem Ziel, das Plenum schrie jedesmal im Chorus, oh!, aber geknallt hat’s nicht. Der zweite kam nicht in Frage, dem dritten gelang es, jedoch nach ziemlicher Anstrengung. Ich, jawohl ich, fühlte mich wegen meines Nebenan verpflichtet mitzuspielen, fühlte mich aber garnicht wohl dabei, zahlte meine Franks für die 3 Schübe, holte tief Atem, eins, zwei , drei und – wäre um ein Haar in den Dreck geflogen. So leicht nämlich war die Sache. Die nächsten beiden Male gings gemütlich ab und stolz flog man auf und davon. Mein Respekt vor der Uniform war jedenfalls dahin. Doch wir sind noch nicht am Ende. Eine Schiessbude bot sich an, 4 Schüsse für 1 fr., wer 21 Punkte oder darüber hat, bekommt eine Flasche Wein. Ich hätte sicher geglaubt, daß man nach den vielen Strapazen in Deutschland schon eine sehr unsichere Hand haben würde. Doch waren die ersten 4 Schüsse ganz gut, ermutigten und die 2ten 4 gingen allesamt ins Zentrum. Eine Flasche Wein. Die nächsten 4 überzeugten mich, daß es kein Zufall war. Eine zweite Flasche. Anbei eine Schießscheibe als corpus delicti. Den Wein hätte ich Euch bedeutend lieber geschickt, nicht nur, weil er mir zu sauer war. Die Soldaten am gleichen Stand hatten bedeutend schlechter geschossen und ich habe keinen gewinnen sehen. Bekannte wollten jetzt für mich das Schiessen bezahlen, wenn ich ihnen den Wein lasse. Ich bin einverstanden. Wenn ich das nächste Mal hingehe, wird feste geschossen. Man muss es können, kann es mal gut gebrauchen. Der deutschen Zwietracht mitten ins Herz!

Ein Tag später

Was habe ich bis jetzt geschrieben. Einen Brief, wie er zumindest heute in jüd. Kreisen sonst nicht geschrieben wird (oder nicht geschrieben werden sollte!?) Ich sah [unlesbar] beim nochmaligen Überlesen im Geiste Euch diesen Brief studieren [unlesbar] mit Zensorphysiognomie dasitzend und stöhnend: Oh, Montebruder, was ist aus Dir geworden, was soll aus Dir werden? So herzlich wenig seriös bist du etc. pp. Ja, liebe Kinder, wenn Ihr nach allem Vorangehenden annehmen solltet, die Basis meines heutigen Seins seien Tanzboden und Rummelplatz, so wäre das nicht nur ein bloßer Irrtum, sondern schon ein ganz gewaltiger. Zeitlich: Ich war bisher 4mal Tanzen, 2mal vor dem [unlesbar] 2mal nachher, ca 3 Mal Foire und auch das nur en passant. Doch beabsichtige ich ernsthaft, mir einen Abend mindestens in der Woche für Tanzen freizuhalten, während ich auch sonst die Abende nicht gerade allein verbringe. Etwas, was mich in den Stunden größter Besonnenheit auch nicht mit einem Funken Besorgnis erfüllt. Ich weiß sehr gut, daß ich das brauche, und daß ich bei einem von Morgens früh bis Abends spät nur mit ernsten Dingen ausgefüllten Leben nach einem halben Jahr eingehen würde wie ein Primelchen im Nachttopf, was auch den ‚ernsten‘ Dingen wenig zu Gute käme. Der Tag sonst ist eingeteilt und wird so bis auf unvermeidliche Störungen durchgeführt. Natürlich nicht nur [unlesbar] 1-2 Stunden täglich gute Musik, erstens weil ichs will und zweitens weil ich Musikerziehung durchaus für wichtig halte und nur bedaure, bisher so wenig davon gehabt zu haben. Mein Apperat ist ein Wunder. Er hat zunächst ganze 100 fr. gekostet, d.h. ca 14 Mark und hatte dafür 2 Fehler: Er sah schäbig alt aus und spielte trotz seiner 6 Röhren/Lampen entsetzlich schlecht. Beide Fehler sind ausgebessert, der erste durch Überlackieren, der zweite durch kleine Ausbesserungen. Jetzt ist der Apperat, da die Röhren kaum angegriffen waren, wie neu, in jeder Hinsicht, der Klang gut bringt am Tag ca 9 Stationen, Belgische, 2 französ.(Lille, Paris) Köln, Hilversum (Holland), London, Luxemburg, diese 9 sehr deutlich und bei schlechtem Wetter sogar einige mehr. Abends dagegen voll und ganz alle deutschen englischen franz. ital. poln. gar. [?] etc. Stationen, zwar den kurzwelligen. Ich benutze ihn auch, um Sprache zu lernen und höre jeden Tag ca 1 Stunde französisch, denn das Französisch, das ich in der Stadt lerne, ist nicht das beste.

Neulich habe ich einen Walzer aus ‚Margerete‘ von Gounod gehört, der mir sehr sehr bekannt vorkam und wie ein Märchen aus uralten Zeiten klang. Ich glaube, Lotte, Du hast ihn auf dem Klavier gespielt. Kann’s stimmen?

Gestern Abend gab es aus Paris einen Cortot-abend. Cortot werdet Ihr sicher noch kennen, der beste franz. Pianist. Ich habe ihn auch in Berlin noch gehört. Er hat wieder von Beethoven die Sonate cis-moll (au clair de la lune, Mondscheinsonate) gespielt. Die Eigenart des Spiels geht allerdings im T.F.S. fast völlig verloren. Die Sonate kannte ich gut, weil ich sie in Berlin vor dem Konzert, mit einem Mädel, das es auf dem Klavier gespielt hat, durchstudiert habe. Die Sonate op 110 war mir neu, weshalb [unlesbar] natürlich wenig davon gehabt habe. Hier in Brussels soll es gute Konzerte geben. Doch [unlesbar] ja jetzt gerade Ferien. In Berlin habe ich mich besonders zuletzt noch sehr für Musik interessiert. Ich kannte einen Musikstudenten [unlesbar], der fabelhafte Platten und Kenntnisse besaß und mir regelrecht eine Vorlesung gehalten hat. Noch einen Tag vor der Abfahrt, als ich wusste, daß ich nach Hbg., Köln, Frkft., evtl. auch [unlesbar] fahren und schwierige Stunden vor mir hatte, habe ich es mir nicht nehmen lassen, noch vor dem Packen für 2 Stunden hinüberzugehen und den versprochenen Vortrag über die erste nachklassische Musik anzuhören. Übrigens ein Exempel dafür, in welcher Seelenruhe ich damals alle die Schwierigkeiten erledigt habe. Fast wie Nebensachen. Doch glaube ich, Euch davon schon erzählt zu haben.

Nun weiß ich nicht ganz, ob die Zensorenfalte schon aus Euren Gesichtern geschwunden sind und Ihr einseht, daß ich kein ‚Herumtreiber‘ bin. Es gäbe auch dafür einen geradezu schlagenden Unschuld-Beweis, nämlich eine Wiegekarte. Ich habe nämlich gute 10 Pfd. zugenommen, wiege 66-67 chb. (ohne allerdings irgendwie fett, (Gott behüte!) geworden zu sein). Das kann man nur, wenn man ‚behäbig‘ und ruhig, zu ruhig, lebt, mit einem Wort, zuviel sitzt. Und liest! Gewiß ist auch der Fuß zum großen Teil Schuld daran. Und das Essen. Auch eine heitere Angelegenheit. Ich habe anfangs im Restaurant gegessen, und jetzt zu Hause halb so teuer und doppelt so gut. Zu Hause heisst bei mir im Zimmer, wo ich mein [unlesbar] Da wird dann das Gemüse besorgt und Fleisch, das ganze Theater dauert vielleicht 2 Stunden und dazu habe ich für 4 fr., ca 60 Pf. ein Essen gemacht, das fast für 2 Tage mehr als ausreicht und mit Mehl, Fett und Eiern die Deutsche Kategorie der Kraft (es ist die, die er als alter Philosoph in dem Kapitel über Kategorien ausgelassen hat) darstellt. Überhaupt lebe ich sehr billig hier und habe in den nahezu 3 Wochen an 700 fr. ausgegeben, d.h. etwa 100 M, wobei ich allerdings noch 50 -170 fr. vom Comité her beziehe. Sonnabend, Sonntag esse ich nicht allein, was die Sache nur noch rentabler macht.

Nun mein Zimmer. Es ist nachmittag, nach einem Gewitterregen und die Sonne scheint ins Zimmer. Es ist etwas kleiner als das hintere Zimmer bei Blumenfelds, also durchaus nicht groß, hat aber helle Wände und ist wundervoll luftig. Gas und fließendes Wasser ist drin, allerdings kein Warmwasser. (Dafür ist das Haus zu alt). Die Tapeten sind hellgeblümt, nicht mein Geschmack. Aber an der einen Wand hängen 3 herrliche Van Goghs, aus Karton ausgeschnitten. Die Bilder will ich Euch nicht schildern (es sind 3 Landschaften), da müsst Ihr schon selbst kommen und ansehen. Ein Schrank für Kleider, ein Küchenschrank mit Gasherd darauf, ein Nachttisch und in einer Nische, nur für es gebaut, das Bett, breit und bequem. (auch für zwei). Und das Schönste, wie fast in allen Zimmern hier eigener Eingang, d.h. Wohnung für sich. Es kann kommen und gehen, wer will. Niemand kümmert sich darum und wenn, nur im unschädlichen Klatsche. Vor mir hat hier ein Ehepaar gewohnt, Leute, die ich aus Berlin kannte und zufällig traf. Sie waren nicht verheiratet. Das geht hier ohne weiteres und wird durch keine Kuppelgesetze versalzen. (Über das Liebesleben der Belgier könnte ich schon einiges schreiben. Doch wartet auf die Franzosen! Die sollen noch interessanter sein. Im Übrigen halte ich die Deutschen für nicht besser oder richtiger nicht schlechter, nur habe wir den [unlesbar] nicht gesehen). Zurück ins Zimmer! Das allerschönste ist das Fenster oder richtiger der Blick hindurch. Zu unserem Haus hin ein kleiner Garten, eine kleine Mauer und dahinter ein großer Garten mit Rasen, Bank, Laube etc. Er gehört zu den beiden Villenartigen Häusern die den Hof zur Rechten begrenzen. Gegenüber [unlesbar] etwas mystisches Haus, fast ohne Fenster und Efeu behangen. Und links zieht sich eine freie Stelle fast 200 m lang hin. Und da die einrahmenden Häuser noch ausserdem niedrig sind (es gibt auch Wolkenkratzer an 15m und mehr hoch hier doch hat unsere Gegend, wie die meisten hier, höchstens dreistöckige Häuser, unseres hat 2 Etagen, und ich wohne in der zweiten) ist das ganz wundervoll licht. Nun habe ich noch etwas im Zimmer vergessen, und es ging mir wie dem Professor, der die Brille auf seiner Nase nicht finden konnte. Es ist nämlich noch ein Tisch hier mit einer Marmorplatte. Ich schreibe gerade auf ihm. Man kann auch auf ihm essen. Er ist geradezu universell. Ce lapin. So’n Kerl!

Nun habe ih Euch genug von hier erzählt. Obwohl noch viel zu erzählen wäre. Jetzt aber fällt mir ein, daß Ihr Geburtstag habt. Nun Gott sei Dank seid Ihr so geschickt gewesen, Eure Geburtstage nicht weit auseinander zu legen. Da kann man Euch schon ‚pauschal‘ abfertigen. Nun, also, ich gratuliere Euch herzlichst und wünsche Euch alles, alles Gute.(Was das konkret heisst, werdet Ihr mir überlassen und mir die Aufzählung damit ersparen). Und seid weiter recht brav, liebe Kinder. Eigentlich würde ich sehr gerne jetzt auf den alten Markt gehen und für Euch auch so einen T.S.F. erstehen wie den meinen. Doch weiss ich erstens nicht, was für [unlesbar] Ihr habt [unlesbar] braucht Ihr zweitens in der heiligen Stadt sicher Kurzwellenempfänger, wird drittens der Transport mal so teuer sein wie der Apparat und meistens werden die Röhren unterwegs in Stücke gehen. Ich kratze mir eben den Kopf. Wollen sehen, was ausser der Laus dabei herauskommen wird. Vorläufig kriegt Ihr mal den Brief.

Ein Gebiet habe ich bis jetzt noch nicht berührt. Fast mit Absicht. Es ist die Zukunft. Es ist mir auch noch nicht klar, was werden wird. Studium klappt sicher. Doch ist Frankreich aus 1000 Gründen vorzuziehen. Und hier dürft Ihr mir mit Recht Vorwürfe machen, denn ich habe eine gewisse Zeit ungenützt verstreichen lassen. Und heute habe ich wahrlich nicht die Zeit, Zeit zu verlieren. Jetzt bin ich mitten am Werk. Auch die finanziellen Angelegenheiten haben sich bedeutend verzögert, allerdings ohne meine Schuld, da einfach einige Maßnahmen (wie die des Auffindens der pariser Adresse des Briefmarkenhändlers) nicht geklappt haben, da die ganze Geschichte ja einen Umweg gemacht hat und die Leute in Deutschland, die mir dabei halfen, sich nicht gerade allzu geschickt erwiesen. Ich habe immer noch nicht alles da. Ihr könnt Euch die Komplikationen gar nicht vorstellen, zumal ich Euch eine ausführliche Schilderung wegen Zwecklosigkeit erspart habe. So habe ich für Eure 1000 M [unlesbar] ein Werkzeug für Zahnärzte, zum [unlesbar] preis gekauft, davon sind etwa für 500 M. draussen, wirklich über den Kulturattaché herausgegangen, waren [unlesbar] dort aus Zollgründen nicht herangekommen. Jetzt habe ich sie hier und nehme gerade die Verbindung zu einem deutschen Zahnarzt und einem franz. Reisenden auf, um das [unlesbar] problem zu lösen. Meine Bücher habe ich noch nicht hier. Und – was mich sehr hemmt – meine Sachen. 2 Koffer sind jetzt glücklich in England. Aber schon seit 2 Wochen und bei dem [unlesbar], muss man sich auf noch länger gefasst machen. Sehr peinlich, denn ich habe ausser meiner Skihose und Skijacke nur den guten blauen Anzug hier mit dem ich immerhin nachts über die Grenze gekrochen bin und der mir – ohne Reinigung – nicht genügt, um für Konsulatsbesuche und ähnliche Visiten das nötige Prestige zu wahren. Was ich mit hier habe, ist gerade in den Handkoffer hineingegangen (Handtuch, Taschentücher, Unterhosen, paar Hemden). Ich werde mir hoffentlich bald gratulieren können. Betet an der Klagemauer für meine Sachen!

In die Frage nach der Zukunft muss heute unbedingt die Frage eines Krieges einbezogen werden. Es ist denkbar, daß der Krieg mir in meine Studienpläne hineinpfuschen kann. Es kann plötzlich eine Internierung aller Ausländer kommen, es kann auf alle réfugés ein mehr als moralischer Zwang ausgeübt werden, in die Armee einzutreten (was immer noch sympathischer wäre als etwa in die deutsche hineingezwungen zu werden), es kann, mit 2 Worten gesagt, allerhand passieren. Doch ist es müßig, sich damit herumzuplagen, alle Möglichkeiten herauszuknobeln. Ich will mit allen Mitteln versuchen, mein Programm durchzuführen, d.h. zu Ende zu studieren. Nachher von mir aus in die Armee, obwohl ich nicht mehr Sinn darin sehe in einer bürgerlichen Armee zu kämpfen; als sich für den Kampf gegen sie und in ihr vorzubereiten.

Quelle: Archiv von Rodolphe Prager, Ordner 301, Martin Monat, im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG), Amsterdam