(Ohne Datum – vermutlich Mitte Mai 1939.)
Liebe Kinder, lieber Giss!
Ich will Euch nur in Kürze die Situation schildern. Die erste Aufregung ist vorüber, die Gefahr hinter mir, aber immer noch kann ich die Folgen und Erfolge des Ganzen nicht restlos überschauen. Bis Mittwoch aber werde ich eine Nachricht aus Paris haben, aus der sich schliessen läßt, ob auf jeden Fall das Studium gesichert ist oder nicht.
Teil eins: warum Belgien, wie Belgien? Ich hatte Euch ja von dem Permit nach England geschrieben. Das stimmte, ich sollte ein landwirtschaftliches P. dorthin erhalten. Die Chawerim des Bundes wollten es mir ohne Wissen des Hechaluz (M. Witlin = M. Monath = Monte, M. Withen also unbekannt) besorgen, obwohl sie wußten, daß ich nicht zur Alijah sondern nach Frankreich wollte. Es hätte für sie aber Schwierigkeiten geben können, wenn ich gleich von England verschwunden wäre, ich hätte jemandem Platz und Emigrationsmöglichkeit genommen, der Weg nach Belgien war damals leicht und sicher, was war natürlicher, als daß ich nach kurzem Überlegen auf das großmütige Angebot verzichtete. Denn für meine Zwecke reicht Belgien ebenso aus wie England, ja vielleicht hätte ich dort um des blossen legalen Aufenthaltes mitten aufs Land müssen, während hier die Legalisierung ohne jegliche Schwierigkeit möglich ist. Euch habe ich, um jede unnütze Diskussion und Aufregung zu sparen, nichts davon geschrieben. Seids mit nicht bös! (Es gibt hier viel Weaner. [Vermutlich Wiener Dialekt für Wiener.])
Inzwischen änderte sich allerdings die Situation. Der Übergang wurde schwieriger und die Permits waren verteilt. Da ich ausgewiesen war und mir nur kurze Frist blieb musste ich nun unabhängig von meinen Wünschen den Übergang wagen. Ich erledigte in größter Ruhe alles ‚Geschäftliche‘ und ging. Es ging auch, wie Ihr seht, es war gefahrvoll, romantisch für einen alten Fahrtenhelden ein Hochgenuß und vor Allem, es klappte. Niemand übrigens wußte davon, ich hatte immer [unlesbar] trotz der Änderung der Fahrtrichtung die Meinung bestehen lassen, ich ginge nach England. Von Berlin bin ich zunächst nach Hamburg geflogen (es musste sehr schnell gehen, ich hatte dort Wichtiges zu erledigen, aber der Flug selbst war einfach himmlisch schön). Von dort aus verwischen sich für meine Berliner Bekannten die Spuren. Sie werden Augen machen. Um jeden Konflikt zu vermeiden, werde ich erzählen, ich sei von England nach Belgien gegangen. Damit ist die Sache wieder in Butter (Frau Blumenfeld hatte übrigens Lunte gerochen), wie ich hierherkam ist jetzt auch einerlei und die Hauptsache, daß ich bald nach Paris komme. Um der Einheitlichkeit willen erzählt bitte in der Mischpoche ebenfalls, ich sei über England hierhergekommen oder am besten Ihr wisst nicht mehr, als meine bloße Existenz in diesem gottgesegneten Lande.
Warum nicht gleich Paris? Die Sache hatte ich ekelhaft verfahren. Der Professor sollte eine Garantie für meine Ehrenhaftigkeit geben. Ehrenhaft ist scheinbar nicht, wer Sozialist ist. Der Professor hatte wohl dummerweise davon gehört, daß ich in einer soz. Bewegung und sogar führend gearbeitet hatte. Er fürchtete für seine Stellung als Beamter und weigerte sich. Von Berlin aus konnte ich keinen Mucks dazu sagen. Ich werde ihm jetzt feierlichst versprechen, daß ich ein Jahr abstinent sein werde! Für ein halbes braucht er nur zu garantieren und für mehr als ein Jahr kann ich selbst nicht garantieren. Doch warte ich nun auf den Bescheid aus Paris, da ich den genauen Verlauf der Geschichte selbst noch nicht kenne. Ich denke, da Studium und Unterhalt für 2 Jahre gesichert sind, wird det Ding schon klappen. Ich bin kolossal auf dem Sprung.
Finanziell. Ich freue mich über Eure Hilfsbereitschaft und freue mich noch mehr, daß ich sie ablehnen kann. Ihr sicher auch. Ich habe in Berlin zuletzt noch einmal für ca 5000 M. Briefmarken besorgt, insgesamt für ca 90000. Das war keine Kleinigkeit, das Kaufen selbst schwerer und aufregender als ich geahnt hatte. Ich kaufte ja nur, was im Ausland hochstand, mindestens Parität und es durfte nicht auffallen. Z.B. habe ich für ca 600 M. allein beim Leiter der Fachgruppe Briefmarken und Texator der Devisenstelle gekauft, mich mit ihm kaltblütig über Judenfrage und Devisenbewirtschaftung unterhalten, ohne daß det Aas ahnen durfte, was ich bin und was ich will. Es war nicht ohne Spaß und Ihr dürft Gott danken, daß Euer Bruder den genügenden Grad von Kessheit besitzt. Im Moment habe ich für ca 2000 bei mir, für ca 5000 M. sind über den franz. Kulturattaché (hört, hört) nach Paris gegangen und ich warte auf Bestätigung des Empfanges. Für ca 2000 kamen im Laufe dieser Woche hierher. Sind die 5000 bestätigt, dann darf ich mein Studium als gesichert betrachten, da die Financiers nur ca 3000 zu beanspruchen haben. Die Form der Rückverwandlung in Geld wird etwas umständlich sein, ich werde sie einem Händler in Paris, auch einem Bekannten gegen Provision in Commission übergeben. Würde ich sie sofort verkaufen, dann würde der Verlust sehr groß sein. Die Leute, die auf diese Weise einen relativ guten Transfer hatten, werden sich also etwas gedulden müssen. Ich werde je/je nach der Dringlichkeit zurückzahlen. Da ich mir notgedrungen von der besonderen Idiotie, die sich Briefmarkenkunde nennt, einen Schuss Fachwissen angeeignet habe, werde ich beim Verkauf kaum zu übervorteilen sein. Das also ist resümiert, das Resultat meiner Bemühungen, ca 300-400-500 L, d.h. für mehrere Jahre Unterhalt und Studium. Vorausgesetzt allerdings, das alles geklappt hat. Das Resultat ist gut, doch hätte bei mehr Geschicklichkeit und Rührigkeit bedeutend mehr herauskommen können und heute würde ichs besser machen. Aber auch so genügt es und Ihr werdet gewiss mit mir als ‚Devisenschieber‘ zufrieden sein. Ich jedenfalls bin froh, daß ich gesehen habe, daß es vorbei ist und werde mich freuen, unbändig freuen, wenn Alles bis auf den letzen [unlesbar] geregelt ist und ich damit nichts mehr zu tun haben werde. Trotz mancher Möglichkeiten geht mir jede Lust am ‚Geschäfte’ machen ab und nur die Gefahr hat mich in diesem Fall entschädigt und die kleinliche Freude, dem deutschen Reiche und seinem Führer, d.h. dem großen Diebe seine Beute zu entwenden, bevor er seine Krallen hineingeschlagen hat. C’est ca, liebe Kinder, so schaut heute die finanzielle Seite aus. Für hier habe ich im Gegensatz zu 90% der Emigranten genug, habe einen Teil meiner Sachen hier (sehr anständig von Hut bis Schuhen, einmal gut bürgerlich, einmal sportlich), werde in ca 4 Wochen 2 Koffer mit dem Rest erwarten. Wie ich alles herübergebracht habe, überhaupt Details erspart mir. Vielleicht auch mündlich. Aber ich bin jetzt entsetzlich wenig dazu aufgelegt, meine ganze lösliche Tinte geht aus, aus beiden Füllern, [unlesbar] soll ich Dir Deinen schicken [unlesbar] Deinen Trieben freien Lauf zu lassen und jede Minute, wo ich mich nicht auf der Straße herumtreibe, Neues sehe in Läden oder sonstwo [unlesbar] französisch zu vervollkommnen kommt mir ein wenig gestohlen vor. Ihr versteht mich, Kinder, n’est ce pas? [unlesbar] werde, wenn ich wieder ruhig Blut habe und an alles Neue gewöhnt [unlesbar] mehr und ausführlicher berichten, so wie Carlo, immer 5zeilige Feuilletons schreiben.
Morgen siedle ich nach Brüssel über. Es ist französisch. Heute abend gehe ich zu [unlesbar], hoffentlich ein anständiger Film. In Deutschland habe ich noch einige nette Filme gesehen, auch gute [unlesbar] war am Abd. vor der Abfahrt in der Zauberflöte (herrlich!) habe im größten Gedränge Zeit gefunden 2 x 2 Stunden, und mir von einem feinen Musikstudenten, didaktisch gute Vorträge über vorklassische und klassische Musik mit praktischen Beispielen am Grammophon halten lassen, und Gott und die Welt verflucht, weil wir zur nachklassischen Musik nicht mehr gekommen sind. Ihr sehr [unlesbar] schreibt mir bitte poste restante. Seid herzlich gegrüßt, auch der liebe Giss, der Du so fabelhafte Lettern in der Unterschrift zu produzieren weißt.
Euer Monte/Martin
Quelle: Archiv von Rodolphe Prager, Ordner 301, Martin Monat,
im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG), Amsterdam