(Ohne Datum – vermutlich Juni 1939.)
Lieber Carlo!
Deinen Brief habe ich mit viel Vergnügen gelesen, ganz besonders die Schilderung des ‚Aufstandes‘, der ja auch nur ein Akt aus jener großen Judenfrage genannten Tragikkomödie ist, von der ich hier andere Seiten zu sehen bekomme. Ich weiß nicht recht, wie ich Dir Deinen Bericht – schon um dem berechtigten Vorwurf von der abnehmenden Korrepondenz zu begegnen – erwidern soll, denn Bruxelles ist interessant, aber klein und alles Interessante ist bald ausgeschöpft. Ansonsten war ich einige Tage in meiner Beweglichkeit behindert, denn mich hat der zionistische Gott gestraft, weil ich mit der ‚freien‘ denkenden Jugend Pfingsten auf Fahrt gegangen bin. Er liess mich in ein kleines Löchlein fallen, brach mir ein Knöchlein am [unleserlich] so daß ich humpelte und der Onkel Doktor in der Ambulanz, als er mir vorgestern die Röntgenaufnahme zeigte, wies mich auf eine Stelle hin, wo man den Sprung sehen konnte. Er belobigte mich im übrigen wegen Courage, weil ich trotzdem gelaufen bin und mir so das Liegen mit Gipsverband erspart habe, dennn es heilt bei diesem Bruch so besser und in 3 Wochen werde ich wieder laufen und springen können wie einst im Mai. Jedenfalls habe ich von den interessanten Dingen in Brüssel nicht allzuviel gesehen. Ich könnte Dir eine Speisekarte schicken, die im ‚Soir‘ einer der besten Zeitungen gestanden hat und aus der man sehen kann, was im königlichen Palaste anläßlich des Besuchs der Königin von Holland gegessen wurde. Einen feuilletonistischen Bericht über Land und Leute will ich mir noch mal auf Tage mit etwas mehr Schreiblust aufsparen. Ich habe deshalb – mangels Schreiblust – auch den franz. Brief abgebrochen und dies auch weil mir bald auffiel, daß es mehr eine franz. Übung für mich wurde als ein Brief an Euch. Ich könnte Dir ausserdem einen Bericht über a: die weltpolit. Lage und b. die Frage der Arbeiterschaft geben, wobei ich zu a wahrscheinlich ähnliche Quellen zur Verfügung habe wie Du zu b eine leichte (ungefährliche) informative Berührung mit Leuten der III. und Versorgung mit Material der IV., was ich am Abend nach Mathematik und Französisch mir zu Gemüte führe. Kann man darüber mit Dir in Ruhe korrespondieren? Ich werde sowieso derartige Korrespondenz haben, schon weil es wichtig ist, seine Gedankengänge auszudrücken und ich würde mich natürlich sehr freuen hier auch mit Dir Gedanken auszutauschen. Hast Du von Leo ‚Revolution trahie’* gelesen? Ich kann es Dir nur [Tintenklecks] empfehlen. Von Lion Feuchtwanger, dem Hofdichter des Kreml, habe ich ‚Moskau 1937‘ gelesen, ein geradezu grässliches Buch zu den Trotzkistenprozessen, bei denen, wie er auch zugibt, ihm selbst manches unverständlich blieb, schreibt er: was ich verstanden habe, war gut – und daraus schließe ich, daß, was ich nicht verstanden habe, auch gut war. Im Übrigen versucht er die unlogischen Stellen mit östlicher Mentalität erklärend zu verdecken, die man eben im Westen nicht begreifen könne – und nur der russische Schriftsteller sei noch nicht gefunden, der das ‚östliche‘ Verhalten der Angeklagten in die Sprache des Westens übertragen werde. Ja, mit einem Mal werden uns diese Menschen, deren Bücher, [Tintenklecks] und Taten uns im Westen immer völlig verständlich waren, unbegreiflich ‚östlich‘. Vielleicht genügt eine solche Erklärung dem guten Lion, weil er die früheren Taten und Reden derselben Menschen wohl nie begriffen hat, sodaß es eigentlich für ihn keinerlei Überraschung gibt. Vielleicht hat er die Neuen des [unleserlich] gehört, dann ist er ja [unleserlich] der Bewegung. Im Übrigen – ich gestehe es, ohne zu erörtern – habe ich das Buch nicht ganz gelesen, doch das, was ich gelesen habe, war schlecht und daraus schließe ich, daß, was ich nicht gelesen habe, auch schlecht war.
Nun will ich Dir noch einige Fragen beantworten: Juli bis September Studienbeginn: hier wie auch in Frankreich, allgemein in den Ländern der westlichen Demokratien kann man nur einmal im Jahr sich inskribieren, das ist im Oktober. Ich bekam von einem Chawer des Antwerpener Hashomer Hazair das Prospekt der Technikerschule in Charleroi (Belgien). Dort macht man Aufnahmeprüfungen im Juli und September. Wer im Juli durchfällt, kann es im September noch einmal versuchen. Nun habe ich inzwischen festgestellt, daß für mich Charleroi nicht in Frage kommen dürfte, sondern höchstwahrscheinlich Lièges (Lüttich), wo sich eine Technische Hochschule befindet. Es ist auch denkbar, daß ich dort keine Prüfung zu machen habe und mein bisheriges Studium und Abitur genügen. Natürlich ist das nicht der Grund für meine Wahl. Ich hoffe aber wie bisher auf Frankreich, d.h. Grenoble, wo die beste T.H. ist.
Ich habe inzwischen mit Inge N. gesprochen, die mich auf der Durchfahrt nach London hier besucht hat. Die Marken waren bereits in Paris und von dort dem Attaché zurückgesandt worden. Ich bemühe mich im Moment sie über den Bund mir zuzuleiten. Weiß nicht, ob inzwischen bei den seltsamen Wegen etwas verloren gegangen ist. Ich [unleserlich] in 2 Wochen alles hierzuhaben. Unangenehm ist, daß ich immer noch nicht von Hutti [?] meine Sachen hierhabe. Vor allem den grünen Anzug. Doch geht’s noch so. Mit Geld komme ich ohne luxuriös zu leben auch wohl noch eine gute Zeit aus und denke ja daß nachher die Markenquelle unversiegbar fliessen wird. Unangenehm, dass die Finanziers so lange warten müssen, aber nichts zu machen. Ich glaube Carlo, Euch alle Fragen gewissenhaft beantwortet zu haben. Ich freue mich vor Allem, mit der Nachricht der legalen Existenz den Herd Eurer Unruhe beseitigt zu haben, den ich lange Zeit vergeblich gesucht hatte.
Ich habe nach diesem Brief ein etwas böses Gewissen. Es steht nicht viel drin, er ist unpersönlich, wogegen Carlos netter Bericht selber eine persönliche Note trug. Doch müsst Ihr bedenken, daß mir eben nicht solche Weißbücher und Empörungen zur Verfügung stehen, daß ich im Moment von all den tagtäglichen [unleserlich] meines persönlichen Lebens, von denen sicher manches erzählenswert ist, ebenso wenig berichten will, wie ihr von dem [Euren], daß ich im Moment, wo ich eben wieder beinahe schon normal laufen kann und das Wetter schön ist überhaupt etwas schreibfaul bin und mir manches für später aufhebe. Ich hoffe, Ihr werdet nicht zürnen. Dieser Brief selbst ist ja nur unter dem Druck von Carlos bestehender Anklage wegen Unterproduktivität zustande gekommen. Doch fehlt ihm der innere Zwang! Ich hoffe, Ihr versteht mich und verzeiht. Seid herzlich gegrüßt, Carlotte, Hans, lasst bald wieder von Euch hören, schreibt netter und mehr als
Euer Monte
* Léon Trotsky: La Révolution trahie. Paris 1936. Auf Deutsch: Verratene Revolution.
** Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Amsterdam 1937.
Quelle: Entschädigungsbehörde Berlin, Reg. Nr. 700 532, Martin Ludwig Monath-Wittlin