Arbeiter*innenkontrolle: Von den Erfahrungen französischer Bergleute zur Covid-19-Krise
Im Frankreich des 19. Jahrhundert bildeten Bergleute Komitees, um Arbeitsbedingungen zu überwachen und für Sicherheitsvorschriften zu kämpfen. Da heute viele Arbeiter*innen auf der ganzen Welt inmitten einer Pandemie weiter arbeiten und viele von ihnen Gefahr laufen, sich unter unsicheren und unhygienischen Bedingungen zu infizieren, ist das Beispiel dieser „Bergarbeiterdelegierten“ eine unschätzbare Illustration der Macht der Arbeiter*innenkontrolle im Kampf um bessere Bedingungen.
Die Coronavirus-Pandemie schreitet weiter voran, und inzwischen stehen weltweit 3 Milliarden Menschen unter Quarantäne. In Frankreich ist die Schwelle von 2.000 Todesfällen gerade erst überschritten worden, und die „Welle“ hat gerade erst begonnen. Viele nicht-lebensnotwendige Unternehmen sind jedoch nach wie vor tätig, und sowohl aus den lebensnotwendigen als auch aus den nicht-lebensnotwendigen Sektoren berichten viele Beschäftigte, dass sie gezwungen sind, ohne Schutz oder zufriedenstellende Hygienemaßnahmen zu arbeiten. Unter diesen Bedingungen nimmt der Klassenkampf die Form eines direkten Kampfes um das Leben an. Aus diesem Grund ist die Arbeiter*innenkontrolle über die Produktion, die Arbeitsbedingungen und die Sicherheitsmaßnahmen die einzige Lösung.
In „normalen“ Zeiten des Kapitalismus ist die gesamte Produktion so gestaltet, dass die Arbeiter*innen nichts darüber zu sagen haben, was und wie produziert wird. Der Kapitalist hat das totale Kommando, unterstützt von Ingenieur*innen, Manager*innen und Vorarbeiter*innen. Er übt durch das Planungsbüro die Kontrolle über die Arbeitsprozesse aus. Die Arbeit wird analysiert und in eine Vielzahl von Aufgaben zerlegt, von denen einige einfacher sind als andere. Man nennt dies die wissenschaftliche Organisation der Arbeit, oder besser gesagt, die wissenschaftliche Organisation der Arbeit anderer. Je „rationaler“ eine Arbeitsorganisation ist, desto mehr ist die Arbeit erschöpfend, fragmentiert und vereinfacht, und desto weniger Kontrolle haben die Beschäftigten über die Produktion. Unabhängig von den Posten der Beschäftigten, ob im Büro oder am Fließband, das Management diktiert ihnen, wie sie ihre Arbeit ausführen sollen.
Die Frage der Kontrolle über die Produktion im Unternehmen ist zu einem der wichtigsten Themen im Klassenkampf geworden. Die Forderung nach Arbeiter*innenkontrolle kann viele verschiedene Formen annehmen, von der Offenlegung der Bücher1 bis zur Kontrolle der Arbeitsgeschwindigkeit, aber im Grunde genommen bedeutet sie eine Infragestellung des „üblichen“ Ablaufs und der Legitimität des Chefs, Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel standen sich am Ende des 19. Jahrhunderts und während des 20. Jahrhunderts in einigen Sektoren Arbeiter*innen und Bosse in Kämpfen um die Kontrolle der Produktion gegenüber, als die Qualifikationen der Arbeiter*innen missachtet wurden. Die Ausbildung der Arbeiter*innen, die oft am Arbeitsplatz erworben wurde, wurde zu einem Hindernis für die Kapitalakkumulation. Während Wirtschaftskrisen konnte in Unternehmen, die in Konkurs gingen, die Kontrolle die Form von Arbeiter*innenselbstverwaltung annehmen – ein Fall, in dem die Kontrolle eine Frage des wirtschaftlichen Überlebens der Arbeiter*innen ist. Dieselbe Forderung entsteht, wenn die Arbeitsorganisation eine Gefahr für die Gesundheit der Arbeitnehmer darstellt.
In Frankreich wurden Arbeitsunfälle erst 1898 und arbeitsbedingte Erkrankungen sogar erst 1919 gesetzlich anerkannt. Seitdem haben Arbeitgeber*innen alles getan, um die Anerkennung von Unfällen oder arbeitsbedingten Erkrankungen zu vermeiden, weil dadurch ihre Beiträge zur Krankenversicherung steigen. Die Dokumentation eines arbeitsbedingten Unfalls oder einer arbeitsbedingten Erkrankung ist ein echter Kampf, wie der Fall der Erkrankungen durch Asbest gezeigt hat – die Arbeitgeber*innen versuchen, alles zu verfälschen, während sie darauf warten, dass die Geschädigten sterben. Auch heute noch leben Zehntausende französische Arbeiter*innen mit arbeitsbedingten Erkrankungen (nach einigen Schätzungen mehr als 70.000, davon etwa 85 Prozent mit Beschwerden des Bewegungsapparats), und Schätzungen zufolge werden jährlich 1.700 arbeitsbedingte Krebserkrankungen diagnostiziert. Schließlich spielt die Arbeitsmedizin, die die Anerkennung von arbeitsbedingten Erkrankungen und Arbeitsunfällen fördern soll, seit langem eine unklare Rolle, wenn es um die Gesundheit der Arbeiter*innen geht. Entweder stecken die Ärzt*innen mit den Chefs unter einer Decke, oder die Verfahren zur Diagnose einer Krankheit dauern zu lange, sind zu komplex und zu bürokratisch, als dass sie den Arbeiter*innen von Nutzen wären. Es liegt auf der Hand, dass die Gesundheit zu wichtig ist, um sie in den Händen der Chefs zu belassen.
Das historische Beispiel der Bergarbeiterdelegierten
In Frankreich entstand die Forderung nach der Arbeiter*innenkontrolle über die Arbeitssicherheit im Zusammenhang mit der Sicherheit in den Bergwerken im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Erfahrungen der damals so genannten „Bergarbeiterdelegierten“ sind bis heute wenig bekannt. Es gibt nur wenige Quellen und es wurden nur wenige Studien durchgeführt, doch dieses Beispiel verspricht besonders im Kampf um die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter*innen im Kampf gegen das Coronavirus Inspiration zu liefern.
Die Arbeit in den Bergwerken war als besonders gefährlich bekannt und hatte zu vielen tödlichen Unfällen geführt, während es keine gesetzlichen Schutzmaßnahmen gab. Unter diesen Bedingungen richteten die Bergleute „Bergarbeiterdelegierte“ ein, deren Aufgabe darin bestand, die Sicherheit präventiv zu überwachen, um Unfälle zu begrenzen, aber auch die Ursachen und die Verantwortung nach Unfällen zu ermitteln. Diese Delegierten wurden direkt von den Arbeiter*innen aus ihren eigenen Reihen gewählt und fungierten in den Bergwerken als eine echte Gegenmacht, da sie die Autorität des Chefs über die Organisation und die Sicherheit am Arbeitsplatz in Frage stellten. Nach und nach breitete sich diese Funktion auf den Rest des Unternehmens aus.
Bald wurde die Anerkennung dieser Bergarbeiterdelegierten zum Problem. Auf einem sozialistischen Arbeiter*innenkongress in Ostfrankreich am 6. Juni 1881 forderte der ehemalige Bergarbeiteraktivist Michel Rondet die rechtliche Anerkennung der Arbeiter*innendelegierten für die Sicherheit in den Bergwerken. Die Bergarbeiterdelegierten forderten das Recht, Grubenwachen zu Unfallstellen zu begleiten und gemeinsame Berichte zu verfassen. Bis dahin waren diese Berichte immer weitgehend zu Gunsten der Unternehmen verzerrt, entweder weil die Unternehmensleitung Wege fand, die Bergwerksinspektoren zu korrumpieren, oder weil es diesen einfach an praktischen Kenntnissen fehlte. 1882 unterstützte der Gewerkschaftsverband der Bergleute von Saint-Étienne diese Idee, die in Gesetzesform der Nationalversammlung vorgelegt wurde, unterstützt von Jean Jaurès.2 Der nationale Verband der Bergleute griff sie dann 1883 auf.
Ein Gesetz vom 8. Juli 1890, das mit Unterstützung der Sozialisten verabschiedet wurde, erkannte schließlich die Rolle der Bergarbeiterdelegierten an. Ihre offizielle Funktion bestand darin, Berichte über ihre Besuche unter Tage zu verfassen, entweder nach Unfällen oder in Begleitung von Grubeninspektoren. Ihre Arbeit war jedoch mit Pannen und Hindernissen behaftet. Die Chefs taten alles, um die Stundenzahl der Delegierten und die Häufigkeit ihrer Besuche unter Tage zu reduzieren und sie daran zu hindern, sich mit anderen Themen als der Sicherheit zu befassen. Darüber hinaus ließ die Institutionalisierung der Tätigkeit den Delegierten weniger Handlungsspielraum. Das Gesetz sah vor, dass sie nur für die Prüfung der Sicherheitsbedingungen und, im Falle eines Unfalls, der Bedingungen, unter denen sich der Unfall ereignet hätte, zuständig waren. Artikel 11 des Gesetzes sah sogar die Annullierung jeder Wahl eines Bergarbeiterdelegierten vor, bei der ein Kandidat Interesse an einer anderen Angelegenheit als der Sicherheit bekundete. Schließlich gab es noch die Frage, wer als Delegierter gewählt werden konnte. Das Gesetz sah vor, dass man die französische Staatsangehörigkeit besitzen, über 25 Jahre alt sein und lesen und schreiben können musste, was etwa zwei Drittel aller Bergleute ausschloss. Es sah jedoch auch vor, dass kein Mitglied der Geschäftsleitung als Delegierter gewählt werden durfte und dass die Bergleute jemanden wählen konnten, der weniger als drei Jahre lang nicht in den Bergwerken gearbeitet hatte. Dadurch war es möglich, Bergleute zu wählen, die wegen Gewerkschaftsarbeit entlassen worden waren, und beispielsweise Personen zu wählen, die sich der Autorität des Arbeitgebers nicht unterordnen würden.
In einem Brief von Leo Trotzki aus dem Jahr 1931 zum Thema der Arbeiter*innenkontrolle erinnert er uns daran, dass die Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter*innen zu einer Art „Doppelherrschaft“ im Unternehmen und damit zu einer widersprüchlichen und konfrontativen Situation führt. Dies hat nichts mit der Klassenzusammenarbeit in Form von „Partizipation“ oder „Mitbestimmung“, um zeitgemäßere Begriffe zu verwenden, zu tun. Im Falle der Bergarbeiterdelegierten hatte ihr Kampf zu ihrer fortschreitenden Institutionalisierung geführt. Im Laufe der Jahre wurden sie zu dem, was wir heute „Arbeitnehmerdelegierte“ nennen.3 Ihr subversives Potenzial, die Sicherheit zu kontrollieren und die Vorrechte der Arbeitgeber in Frage zu stellen, wurde ihnen zugunsten der täglichen Verwaltung der Arbeitsbedingungen genommen.
Covid-19 und der Kampf für die Kontrolle der Gesundheitsmaßnahmen
Das Beispiel der Bergarbeiterdelegierten zeigt trotz seiner Beschränkungen, dass es möglich ist, Kontrolle über Arbeitsbedingungen auszuüben, um die Sicherheit der Arbeiter*innen zu gewährleisten. Heute kann man sagen, dass der Kampf für die Schließung nicht lebenswichtiger Unternehmen und der Kampf um die Kontrolle und Gewährleistung zufriedenstellender Sicherheitsbedingungen für diejenigen Sektoren, die für die Bewältigung der Krise von wesentlicher Bedeutung sind, zwei Möglichkeiten darstellen, die Perspektive der Arbeiter*innenkontrolle aufzuzeigen.
Die Beispiele der Luftfahrt in der Region Toulouse und des öffentlichen Verkehrs in der Region Paris zeigen, dass es möglich ist, konkret für diese Perspektive zu kämpfen. Bei Ateliers de la Haute-Garonne, einem Airbus-Zulieferer, fordert die Gewerkschaft CGT im Falle einer Rückkehr an den Arbeitsplatz die Einrichtung eines von der Unternehmensleitung völlig unabhängigen Ausschusses zur Kontrolle der Gesundheitsmaßnahmen. Dieser Ausschuss muss in der Lage sein, von der Belegschaft Gewählte und alle Beschäftigten, die sich freiwillig melden, zu versammeln. Was den öffentlichen Nahverkehr im Großraum Paris anbelangt, so könnten diesem Ausschuss auch Kund*innen angehören, die ebenfalls den mangelnden Hygienemaßnahmen in den Bussen und Zügen der RATP oder der SNCF ausgesetzt sind. Wie im Bergbau des 19. Jahrhunderts ist auch hier nicht darauf zu vertrauen, dass die Arbeitgeber*innen Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen in den Unternehmen umsetzen.
Bisher haben es die Gewerkschaftsführungen versäumt, eine solche Orientierung zu übernehmen. Die Verräterischsten fordern offen eine heilige Allianz mit MEDEF4 und der Regierung – dieselbe, die gerade Verordnungen verabschiedet hat, die es ermöglichen, die Arbeitszeit auf 60 Stunden pro Woche zu erhöhen und die Menschen zur Rückkehr an den Arbeitsplatz zu zwingen, um die Wirtschaft zu stützen. Und obwohl er sich eher links positioniert hat, hat der CGT-Generalsekretär Philippe Martinez die Regierung aufgefordert, eine Liste von Aktivitäten zu erstellen, die „für die Gesundheit und das Leben der Bürger unerlässlich“ sind.
Es ist jedoch unmöglich, der Regierung von Emmanuel Macron zu trauen, eine solche Liste zu erstellen, wie die Gewerkschafter*innen und kämpferischen Aktivist*innen, die sich gegen die Rückkehr an den Arbeitsplatz stellen, vor Ort demonstrieren. Deshalb sollte die CGT die Gespräche mit dieser Regierung, die bereits beschlossen hat, uns die Last der kommenden Wirtschaftskrise aufzubürden und gleichzeitig die Arbeitgeber*innen zu belohnen, ein für alle Mal abbrechen. Das Beispiel Italiens zeigt, dass man den Versprechungen der europäischen Regierungen, nicht-lebenswichtige Unternehmen zu schließen, nicht glauben kann. Während die Regierung von Giuseppe Conte versprach, nicht-essenzielle Aktivitäten einzustellen, drängte Cofindustria, die italienische MEDEF, darauf, Sektoren von „strategischer Bedeutung für die Wirtschaft“ zu verschonen. So setzten die Waffenfabriken, die Luftfahrt, die Textilindustrie usw. ihren Betrieb fort… bis am 25. März ein Streik mit breiter Beteiligung stattfand, der von Hunderten von Krankenschwestern und Beschäftigten im Gesundheitswesen unterstützt wurde, die erklärten: „Es ist Zeit, in den Streik zu treten. Gesundheit und Sicherheit gehen vor! Obwohl unsere [Teilnahme] an dem Streik nur symbolischen Charakter hat – einminütige Rotationen unter den Bereitschaftsdiensten zwischen 13.30 und 14.30 Uhr – rufen wir euch auf zu streiken. Streikt auch für uns!“
Statt eines Abkommens „italienischen Stils“, das nur eine Variante der von Macron geforderten heiligen Allianz ist, ist die Arbeiter*innenkontrolle über Sicherheit und Produktion unser einziger Ausweg aus der Gesundheitskrise.
Erstmals veröffentlicht am 28. März auf Französisch bei Révolution Permanente Dimanche. Die deutsche Version basiert weitgehend auf der englischen Übersetzung, die am 1. April bei Left Voice erschienen ist.
Fußnoten
1. Anmerkung des Übersetzers: Die Forderung nach der „Offenlegung der Bücher“ hat in der revolutionär-sozialistischen Bewegung eine lange Geschichte. Im Übergangsprogramm schreibt Leo Trotzki über die Notwendigkeit, die Geheimnisse der kapitalistischen Ausbeutung und des Profits als Teil der Arbeiter*innenkontrolle über die Industrie zu enthüllen. Er erklärt, dass die Arbeiter*innen ein Recht darauf haben, es zu erfahren: „Die Arbeiter sind nicht weniger berechtigt als die Kapitalisten, die „Geheimnisse“ des Betriebs, des Trusts, des Industriezweigs, der gesamten Volkswirtschaft zu kennen. Die Banken, die Schwerindustrie und das zentralisierte Transportwesen müssen als erstes unter die Lupe genommen werden.“ Er erklärt außerdem, dass die Arbeiter*innen die Notwendigkeit haben, davon zu erfahren: „Die Ausarbeitung eines Wirtschaftsplans, selbst des elementarsten, – vom Standpunkt der Arbeiterinteressen und nicht der Ausbeuter – ist undenkbar ohne Arbeiterkontrolle, ohne die Einsichtnahme der Arbeiter in alle offenen und geheimen Branchen der kapitalistischen Ökonomie.“
2. Anmerkung des Übersetzers: Jaurès war ein führender französischer Sozialdemokrat.
3. In Frankreich entsprechen die délégués du personnel in etwa den Betriebsräten in größeren Betrieben in Deutschland. Sie werden im Rahmen von Tarifverträgen gewählt und befassen sich mit Beschwerden der Beschäftigten, stellen die angemessene Anwendung des Arbeitsgesetzes sicher und können je nach Größe des Unternehmens Ausschüsse für Sicherheit, Arbeitsbedingungen, Hygiene usw. bilden.
4. Der Mouvement des Entreprises de France, MEDEF, ist der größte Arbeitgeberverband Frankreichs.