Anasse Kazib: Ein Eisenbahner kandidiert zur französischen Präsidentschaftswahl
Der Arbeiter Anasse Kazib wird in Frankreich als Präsidentschaftskandidat antreten. Am Mittwoch organisierte unserer Schwesterseite Révolution Permanente zum Beginn seiner Kampagne eine Veranstaltung in Paris mit 450 Personen, an der auch wichtige Anführer:innen der Arbeiter:innenbewegung und der antirassistischen Bewegung teilnahmen.
Am Abend des 20. Oktober war der Saal im “Espace Mas” in Paris bereits vor 19.00 Uhr voll. Mehr als 450 Menschen nahmen an der Auftaktkundgebung teil und lauschten begeistert den Reden der zahlreichen Gäste. Révolution Permanente hat eine Kampagne gestartet, um 500 Unterschriften von Bürgermeister:innen zu sammeln – eine undemokratische Anforderung des französischen Wahlrechts–, damit der Eisenbahner Anasse Kazib bei den nächsten Wahlen für das Amt des Präsidenten kandidieren kann.
Von der Tribüne aus gab Elsa Marcel, Aktivistin von Révolution Permanente und Moderatorin des Abends, eine lange Liste der anwesenden Sektoren zur Einführung:
„Wir sind stolz darauf, Delegationen aus verschiedenen Sektoren der essentiellen Arbeiter:innen zu sehen, die während der Pandemie alles am Laufen gehalten haben. Die Arbeiter:innen von Neuhauser, die ihren Chef gezwungen haben, während der Pandemie Lebensmittel umzuverteilen, die Streikenden von Transdev, die Arbeiter:innen von Infrapôle, die seit sieben Wochen streiken, die Arbeiter:innen von SKF in Avallon, die gegen Entlassungen kämpfen, die Arbeiterinnen von Onet, die Aktivist:innen von CSP Montreuil, die kürzlich Repression erfuhren“, erklärte sie unter dem Beifall der Zuhörer:innen.
„Ebenfalls anwesend sind heute Dutzende von Beschäftigten der RATP (städtischer Nahverkehr), der SNCF (Eisenbahn), Ölarbeiter:innen, Lehrer:innen und Studierende der Universitäten Paris 1, Paris 5, Paris 8, Nanterre sowie Angehörige mehrere Opfer von Polizeigewalt. Wir wollen eine Kampagne, die das Bild dieser Halle widerspiegelt“, fügte er hinzu, und die Halle antwortete unisono, indem sie die Slogans der Einheit der Arbeiter:innen skandierte.
Im Publikum waren viele erstaunt und begeistert, Teil einer so vielfältigen Veranstaltung zu sein: „Normalerweise muss man sich bei revolutionären Kundgebungen anstrengen, um junge Leute zu finden, hier ist es umgekehrt, man muss sich anstrengen, um alte Leute zu finden“, scherzte ein kämpferischer Linker im Saal. Ein anderer sagte, er habe noch nie eine so „kosmopolitische“ Kundgebung gesehen.
Und es war Assa Traoré – eine wichtige Figur in der antirassistischen Bewegung in Frankreich, Schwester des von der Polizei getöteten jungen Mannes Adama Traoré –, die das „Geheimnis“ dieser Vielfalt in ihrer Rede wohl am besten erklärte: „Ich kenne Anasse seit fünf Jahren, und in dieser Zeit hat er sich an unserer Seite engagiert. Ich bin seit fünf Jahren aktiv, seit dem Tod meines kleinen Bruders, und es waren fünf Jahre, in denen ich die Kämpfe mit vielen der Gesichter, die ich heute hier sehe, geteilt habe“.
Verteidigung eines revolutionären Kandidaten den Rechtsruck
Im Laufe des Abends gab es eine Reihe von Beiträgen, die die Kandidatur von Anasse Kazib als Teil eines revolutionären, antirassistischen, ökologischen und feministischen Projekts angesichts der Polarisierung der politischen Szene nach rechts rechtfertigten. Zwischen den einzelnen Reden wurden im Saal Parolen skandiert, die an die jeweiligen Kämpfe der Teilnehmer erinnerten: „Zyed, Bouna, Théo und Adama, wir vergessen nicht, wir vergeben nicht“; „Die Stärke der Arbeiter:innen ist der Streik“; „Die ganze Welt hasst die Polizei“; „Der Kapitalismus wird den Planeten zerstören, lasst uns den Kapitalismus zerstören“, und viele andere. Es herrschte eine aufregende Atmosphäre, die Temperatur war hoch, Begeisterung und Eifer lagen in der Luft.
„Sie wollen uns weismachen, dass sich die jungen Leute nicht für Politik interessieren, weil es eine starke Wahlenthaltung unter den Jugendlichen gibt“, so Philomène Rozan, Studentin an der Universität Paris und Aktivistin von Révolution Permanente. Anschließend beschrieb sie einige der Kämpfe, an denen junge Menschen angesichts des Schocks der Pandemie und angesichts einer Linken, die sich der sicherheitsorientierten und islamfeindlichen Politik der Regierung angepasst hat, teilgenommen haben. Sie erklärte auch, wie wichtig es ist, für ein Programm zu kämpfen, das ein Studierendeneinkommen in Höhe des SMIC (Mindestlohnäquivalents) vorsieht, angesichts der Realität der Studierendenschaft in Frankreich, die für Lebensmittel Schlange stehen, weil sie keine Mittel zur Unterstützung haben.
Der junge Arbeiter Adrien Cornet, Anführer des Kampfes in der Raffinerie Grandpuits, beschrieb das katastrophale Szenario der ökologischen Krise. Konfrontiert mit dem Greenwashing des Total-Konzerns entlarvten die Arbeiter von Grandpuits die Lüge vom „grünen Kapitalismus“ der multinationalen Konzerne. Cornet verteidigte die Bedeutung des Kampfes für die Enteignung strategischer Wirtschaftssektoren, um den ökologischen Übergang zu planen.
Sasha Yaropolskaya, transfeministische Aktivistin und politische Geflüchtete aus Russland, erläuterte ihre Geschichte und die notwendige Verknüpfung des Kampfes gegen staatliche Transphobie mit dem Kampf gegen den Kapitalismus und alle Unterdrückungen. Mit Humor beschrieb sie die dramatische politische Lage in ihrem Land: „In Frankreich läuft es schlecht. Und wenn eine Russin euch sagt, dass die Dinge schlecht stehen, ist die Situation wirklich schrecklich. Die extreme Rechte mit ihrer neuen Figur Eric Zemmour hat den politischen Diskurs monopolisiert und verfügt über freien Raum in allen nationalen Medien, die sich im Besitz von Millionären befinden“. Angesichts dieser Situation sagte sie: „Ich bin stolz darauf, die Kandidatur von Anasse Kazib zu unterstützen, aber es ist auch eine Unterstützung für eine Partei der Arbeiter:innen, Studierenden und Aktivist:innen, die ich ständig vor Ort sehe, bei den Demonstrationen, bei den Streikposten“.
Assa Traoré erklärte die lange Geschichte der Kämpfe, die sie mit Anasse Kazib teilt: „Ich habe angefangen zu kämpfen, weil mein kleiner Bruder von der Polizei getötet wurde. Ich kämpfe seit fünf Jahren mit Anasse Kazib. Du warst immer an unserer Seite“, sagte die antirassistische Aktivistin. Dann bat sie um einen Applaus für die im Saal anwesenden Onet-Arbeiterinnen, deren Streik die Gelegenheit zu einem Wiedersehen mit Anasse Kazib bot.
„Adama wird nicht zurückkommen. Aber wir sind die lebendige Stimme derer, die durch die Hand der Polizei gestorben sind, derer, die im Gefängnis sitzen, derer, die prekär leben. Anasse ist Teil dieser Stimmen und wir werden ihn bis zum Ende unterstützen. Sie beendete ihre Rede mit großen Emotionen und forderte andere Kollektive von Angehörigen und Opfern von Polizeigewalt auf, die Bühne zu betreten.
Schließlich beendete Wynnessa Merabet, Streikende und Gewerkschafterin im Transdev-Depot in Vaux-le Penil, die Redner:innenrunde: „Wenn wir heute 40 Kilometer gefahren sind, um mit meinen Kolleg:innen zu dieser Veranstaltung zu kommen, obwohl wir erschöpft sind und seit sieben Wochen streiken, dann deshalb, weil Anasse ein Grundpfeiler unseres Kampfes bei Transdev ist. Er ruft mich jeden Tag an und gibt mir Ratschläge. Wir werden mit Anasse bis zum Ende gehen“, erklärte sie. Auch andere Streikende schlossen sich ihr auf der Bühne an, um Anasse Kazib zu unterstützen.
Anasse Kazib 2022: eine Kandidatur der Arbeiter:innen und Revolutionär:innen
Als der Eisenbahner sich dem Podium näherte, ertönte „Anasse president“. So begann er seine Rede: „Die Teilnahme an einem so undemokratischen Prozess wie den Präsidentschaftswahlen ist für eine so junge Organisation wie die unsere eine große Herausforderung. Und einen jungen, rassifizierten Mann aus der Arbeiter:innenklasse wie mich in eine Präsidentschaftswahl zu schicken, von der man erwartet, dass sie so sehr von rassistischen und fremdenfeindlichen Äußerungen geprägt sein wird, könnte subversiv erscheinen. Es muss eine andere Stimme geben, die sich gegen die hegemonialen reaktionären Diskurse und gegen die Ultra-Rechte von Zemmour wendet“.
Und gegenüber den nationalistischen Reden der extremen Rechten sagte er: „Unser Frankreich ist nicht das Frankreich der Könige und großen Männer, das von Zemmour idealisiert wird, sondern das Frankreich der Sans-Culottes, der Kommunard:innen, der aufständischen Sklav:innen von Saint-Domingue, der großen Streiks von 1936 oder des Generalstreiks von 1968, der Prozesse des Kampfes, die Sarkozy oder Zemmour aus der Geschichte zu löschen versuchen“.
Anschließend entwickelte er die Achsen der politischen Kampagne, die Révolution Permanente durchzuführen gedenkt: eine revolutionäre, proletarische, feministische, ökologische und antirassistische Kampagne.
„Während der Pandemie sahen wir unsere Verwandten auf der Intensivstation, manchmal sahen wir sie sterben, während einige von uns und unsere Kolleg:innen weiterarbeiten mussten, um die gesamte Gesellschaft am Laufen zu halten, aber sie versteckten sich und häuften Reichtümer an, ohne einen Finger krumm zu machen“. Er führte das Beispiel von Pierre Mestre, dem Chef von Orchestra, an, der sein verschuldetes Unternehmen während der Krise liquidierte, bevor er es zurückkaufte und dabei Hunderte von Beschäftigten entließ.
Angesichts der Klimakrise, der Gesundheitskrise, der ungeheuerlichen sozialen Ungleichheiten und der Minderheit, die diese ausnutzt, hob Anasse Kazib die Stärke der Arbeiter:innen, der ersten und zweiten Reihe, und aller Unterdrückten hervor, sowie ihre Fähigkeit, die Welt zu verändern.
Hongkong, Libanon, Algerien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Palästina, Sudan und in jüngster Zeit die Vereinigten Staaten mit einer Welle historischer Streiks: Kazib stellte eine Liste der Länder auf, die in den letzten Jahren im Rahmen eines neuen Klassenkampfzyklus große Kämpfe erlebt haben. Im Falle Frankreichs erinnerte er an den Kampf gegen das Arbeitsgesetz, die Bewegung gegen die Eisenbahnreform, die Gelbwesten und den Transportstreik gegen die Rentenreform. Auf diese Weise erntete er den Beifall des Publikums.
„Die Reaktionären wie Macron, Le Pen und Zemmour existieren, um die Kraft der Arbeiter:innenklasse zu spalten. Denn sie wissen, dass die Jugend und die Arbeiter:innenklasse derzeit aus weißen Arbeiter:innen, aber auch aus solchen mit Migrationshintergrund wie mir besteht. Und sie fühlen sich schlecht, dass ein Eisenbahner namens Anasse, der in der rosaroten Stadt Sarcelles aufgewachsen ist, der Enkel eines marokkanischen Soldaten, der Sohn eines eingewanderten SNCF-Arbeiters ist, alle Jugendlichen und Proletarier:innen in ganz Frankreich verteidigt, die von Enmanuel, Édouard, Marlène oder Jean-Baptiste ausgebeutet werden“, erklärte er, bevor er das Programm vorstellte, das er verteidigen wird.
Zu den wichtigsten Maßnahmen, für die er sich einsetzte, gehören: ein Mindestlohn von 1800 Euro netto, die Aufhebung aller sicherheitspolitischen und freiheitsfeindlichen Gesetze, ein echter Plan zur Bekämpfung der geschlechtsspezifischen Gewalt, die sofortige Freilassung von Georges Ibrahim Abdallah, die Auflösung aller Sonderpolizeikräfte, die Öffnung der Grenzen und die Aufenthaltsfreiheit für Migranten. Ein Programm, das der Rechten und der extremen Rechten Angst macht, aber auch der institutionellen „Linken“ zu radikal erscheint.
Schließlich erläuterte er, dass es ein großes Hindernis gibt, damit diese Stimme gehört wird, nämlich die 500 Unterschriften von gewählten Amtsträger:innen, die der französische Staat mit seinem antidemokratischen Gesetz verlangt. Auf der Bühne verkündete der Eisenbahner, dass die Kampagne bisher 100 Unterschriften gesammelt hat. Doch um die verbleibenden 400 Unterschriften zu erhalten, bedarf es trotz des großen Aufwands für die Unterschriftensammlung – jede Woche werden mehr als 60 Fahrten von Aktivist:innen und Sympathisant:innen organisiert – der Unterstützung von vielen weiteren Personen.
„Wir laden euch ein, diese Kampagne in die Tat umzusetzen, einen Kampagnenausschuss zu gründen, wo auch immer ihre euch befindet, öffentliche Versammlungen zu organisieren, sich an der Unterschriftensammlung zu beteiligen, zu spenden oder zu helfen, wo immer ihr glaubt, dass ihr helfen könnt. Niemand erwartet, dass wir es schaffen – überraschen wir sie!“
Die hohe Beteiligung an der Kundgebung und die Qualität der Teilnehmer:innen haben auf jeden Fall gezeigt, dass die Kandidatur von Anasse Kazib im Rahmen der Debatten über die Präsidentschaftswahlen 2022 einen starken Dialog mit den verschiedenen Teilen der Bevölkerung, der Arbeiter:innen und der armen Massen führen kann.
Ein Teilnehmer fasste es so zusammen: „In den Medien ist nur von Zemmour die Rede, aber Anasse ist eindeutig der Anti-Zemmour“. „Deshalb wollen sie nicht, dass er kandidiert, deshalb wollen sie nicht, dass man ihn sieht“. Und er hatte Recht, wie das Ausbleiben der Medienberichterstattung über dieses Ereignis zeigte. Doch auch wenn die Hindernisse auf dem Weg zu dieser Kandidatur zahlreich sind, eines ist sicher: An Entschlossenheit wird es nicht mangeln.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Révolution Permanente.