Frankreich: „Das Gerangel um die NFP-Ministerin ist Ausdruck einer tieferliegenden Krise“

18.07.2024, Lesezeit 9 Min.
Übersetzung:
1
Foto: Révolution Permanente

Die Kandidatur von Laurence Tubiana als Premierministerin bringt die Neue Volksfront (NFP) an den Rand eines Zusammenbruchs. Unser Genosse Anasse Kazib erklärt, was das über die strategische Sackgasse dieser Koalition offenbart.

Kaum war die Wahl vorbei, haben wir diese Woche eine regelrechte Schlacht zwischen den Mitgliedern der Neuen Volksfront (NFP) erlebt. Die Kakophonie offenbart in Wirklichkeit die sehr engen Grenzen dieses linken Bündnisses. Wenn allein die Ernennung einer Premierministerin oder eines Präsidenten der Nationalversammlung sich so ausweglos gestaltet, kann man sich vorstellen, wie es weitergehen wird, wenn eine ganze Regierung gebildet werden soll – geschweige denn, wenn „tatsächliche“ Politik gemacht werden soll.

Ein Kampf um eine:n Premierminister:in, die mit dem Macronismus vereinbar ist?

Wir erleben einen Kampf um die Hegemonie zwischen der Sozialistischen Partei (PS) und La France Insoumise (LFI), den erstere gerade gewinnt. Die Realität war von Anfang an, dass die PS während des Wahlkampfs nur vorgab, im Bündnis zu sein – vor allem, weil sie davon profitierte, mit rund 100 zusätzlichen Kandidaturen im Vergleich zu 2022 und einem Endergebnis, das sie in Bezug auf die Anzahl der Abgeordneten Kopf an Kopf mit LFI stellt. Der Block um die PS liegt sogar vorne, wenn man die Kräfte der Grünen und der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) zusammenfasst, die der PS näher stehen als der LFI (aufgrund ihrer Position im Senat, in den Regionen und Gemeinden, gemeinsamer Regierungsbeteiligungen und so weiter).

Die PS versucht somit, der LFI eine Kapitulation aufzuzwingen, die bereits darauf verzichtet hat, eigene Kandidat:innen für das Amt der Premierministerin oder des Präsidenten der Nationalversammlung aufzustellen. Angesichts der Schwierigkeit, eine linke Regierung aufrechtzuerhalten, und der Politik Macrons könnte das Linksbündnis letztlich als Sprungbrett für eine Koalition der Mitte dienen, um die Regimekrise abzuwenden. Es ist klar, wie das Profil einer Laurence Tubiana mit einem solchen Projekt vereinbar wäre.

Es geht also nicht nur um „Namen“, sondern um politische Orientierungen. Der Hashtag #Nie MehrPS ist wieder hoch im Kurs, genauso wie der Slogan „verratet uns nicht“, weil Viele sehen, was gerade passiert. Eine der Errungenschaften nach Hollandes Regierungszeit war der Bruch großer Teile der Linken mit der PS. Die PS war ausgespielt. Der Grund, warum wir uns heute in diesem Debakel wiederfinden, ist, dass sich Einige dafür entschieden haben, sie wieder aufleben zu lassen.

Wer hat die Sozialistische Partei wiederbelebt?

Die PS hat sich nicht verändert, sie ist seit 2016 nur diskreter geworden, nachdem sie eine beinahe tödliche Krise durchlebt hatte, nach zahlreichen Austritten zu „En Marche“, Wahlniederlagen, dem Verkauf der Rue de Solférino, und so weiter. Ich sage „beinahe“, weil LFI und Mélenchon die PS aus dem Boden gestampft haben, um sie 2022 nach Hidalgos katastrophalem Ergebnis in die Neue ökologische und soziale Volksunion (NUPES) zu integrieren. Erinnern wir uns an die Zeit, als Mathilde Panot zunächst angab, dass es kein Bündnis mit der PS geben würde, bevor sie von Melenchon untergraben wurde. Das hatte auch zu viel Kritik von Aktivist:innen an der Union Populaire geführt, die im Volksparlament vertreten waren und von denen einige wegen der Entscheidung, der PS trotz Hidalgos 1,5 % 75 Wahlkreise zu geben, fallengelassen wurden.

Schließlich kam dann die NFP und nochmal wurde die Anzahl der Wahlkreise für die PS beträchtlich erhöht. Trotz des Abkommens haben wir gesehen, wie die PS dennoch eine Reihe von abweichenden Kandidaturen unterstützt hat. Also ja, wenn es heute diese Nominierungskrise gibt und die PS sich das schönreden kann, dann ist das nicht „dank“, sondern in erster Linie wegen der Strategie der Führung der LFI.

Die PS wird nicht ohne Grund seit jeher als sozio-verräterisch oder sozio-liberal bezeichnet. Es liegt daran, dass ihre DNA bürgerlich und neoliberal ist. Abbau öffentlicher Dienstleistungen, Steuervorteile für das Großkapital, Angriffe auf soziale Errungenschaften, imperialistische Außenpolitik und so weiter – das ist die PS, die heute ihrer Geschichte treu bleibt.

Das Minimalprogramm der NFP schon wieder vergessen

Was kann man von all dem erwarten? In Wirklichkeit nicht viel. Ja, es kann einen „Konsens“ geben, um einen Vorschlag für einen ersten Minister zu finden. Aber wie ich bereits angedeutet habe, kann es dabei nur nach rechts gehen. Vielleicht wird es nicht Olivier Faure oder Laurence Tubiana sein, aber das ist zweitrangig. Das Wichtigste für die PS ist, jede Nominierung zu verhindern, die einer künftigen Koalition mit Mitte-Rechts im Wege stehen könnte.

Man führe sich vor Augen, dass selbst Huguette Bello, deren „Republikanismus“ und deren konsensorientierte Arbeit während 23 Jahren allgemein gepriesen wurde, die sogar von Attal gelobt wurde, für die PS nicht akzeptabel ist. Daran lässt sich ablesen, wo für die PS der Rahmen des Akzeptablen beginnt. Und selbst im Falle eines Konsenses, bei dem zwanzig Mal alles abgeschliffen wird, was anecken könnte, wird es immer noch zur Kollision mit dem Rest der Fraktionen und dem Präsidenten kommen. Die Realität ist, dass die Neue Volksfront zu nichts führen wird.

Der Bezug auf den Mythos der Volksfront und die Aufrufe zur Einheit gegen den Faschismus dienten hauptsächlich dazu, die tiefen Gräben dieses Bündnisses zu verschleiern. Dabei war das ultraweiche Programm bereits eine Warnung vor dem Druck, den die PS ausüben würde. Nichts über Entlassungen, die Rücknahme des El-Khomri-Gesetzes ist verschwunden, die Rente mit 60 ebenfalls, obwohl dies beispielsweise Teil des Programms der NUPES war. Nichts über Polizeigewalt, sogar die Forderung nach 10.000 bürger:innennahen Polizist:innen taucht wieder auf, entgegen der wichtigen Kämpfe, die die antirassistische Bewegung in den 2000er-Jahren geführt hat. Selbst Waffenlieferungen an die Ukraine werden ins Programm aufgenommen, ganz zu schweigen vom Fehlen tatsächlich progressiver Politik im Sinne von Verstaatlichungen, einer Rücknahme der Bahnreform und so weiter.

Dass Aktivist:innen die NFP während der Kampagne gegen die extreme Rechte unterstützt haben, ist eine Sache, und Sie kennen meine Position dazu. Aber dass heute einige von ihr als radikales Programm sprechen, obwohl die Aktivist:innen genau wissen, was das Bündnis mit der PS und den Grünen bewirken würde, ist mir unbegreiflich. Ich finde übrigens, dass das Programm der NFP immer weniger eingefordert wird, außer von der LFI, die weiterhin die Illusion erweckt, dass es möglich ist, es mit nur 180 gewählten Abgeordneten gegen den Rest des Parlaments durchzusetzen.

Kürzlich schrieb Marine Tondelier in Le Monde zu diesem Thema: „ Nicht jeder hält um jeden Preis an dem Programm fest.“ Und in Bezug auf die Einführung des Mindestlohns von 1600 € fügte sie hinzu: „ Das ist komplizierter, weil man ein Finanzberichtigungsgesetz braucht, um eine Hilfe für die kleinen und mittleren Unternehmen zu beschließen, um eine Katastrophe zu verhindern.“ Selbst diese absolut minimale Maßnahme ist bereits an Bedingungen geknüpft.

Angesichts der Sackgasse ist Organisierung von unten dringender denn je

Deshalb glaube ich, dass wir jetzt von unten, in der Arbeiter:innen-, antirassistischen, ökologischen und Jugendbewegung, darüber diskutieren müssen, wie wir den Gegenschlag gegen dieses System organisieren können. Nicht darüber, wie man wer weiß wen an die Schalthebel der Versammlung setzt. Das Wichtigste im Moment ist die Mobilisierung und Politisierung gegen die extreme Rechte. Die größte Errungenschaft der letzten drei Wochen ist die Tatsache, dass viele junge Menschen und Arbeiter:innen den Wunsch verspürt haben, etwas zu tun, um die extreme Rechte in die Schranken zu weisen und um ihre Lebensumstände zu verbessern.

Aber diese Sehnsucht wird sich nicht ohne eine Strategie und ein Programm verwirklichen lassen, die sich völlig von denen der institutionellen Linken unterscheiden. Wenn wir auf den berühmten Verrat der PS warten, der unweigerlich kommen wird, wie der Herbst und dann der Winter, werden wir erneut erleben, wie Fatalismus und Desillusionierung zunehmen und bis 2027 Le Pen zugute kommen. Deshalb ist der Kampf um die Einheit unseres sozialen Lagers mehr als dringlich. Diese Einheit kann nur im Klassenkampf, in Streiks, Versammlungen, Koordinationen und rund um ehrgeizige Forderungen, die über Brotkrümel hinausgehen, erreicht werden.

Das Datum des Schulanfangs darf kein Routinedatum sein, sondern muss ein echtes Sprungbrett für eine Massenmobilisierung sein, die man so aufbaut, wie man es am 5. Dezember 2019 oder am 19. Januar 2023 getan hat – also um daraus die Eröffnung eines direkten Kampfes gegen den Macronismus und die extreme Rechte zu machen. Es ist Zeit für einen Sieg im Klassenkampf, denn nur so können wir unserem Lager neue Hoffnung geben und den Einfluss der Ideen des RN bekämpfen, der sich von der Verzweiflung nährt.

Aber das muss im Vorfeld vorbereitet werden, indem man gegen jede Illusion in den Parlamentarismus kämpft. Angesichts einer Nationalversammlung mit drei Minderheitsblöcken, einem Erstarken der extremen Rechten und zunehmenden Tendenzen zu Krisen und Kriegen können wir uns nur auf unsere Kämpfe verlassen. Aber um erfolgreich zu sein, müssen sie die Frage nach dem Sturz dieses Systems stellen, das uns in die Katastrophe führt.

Dieser Beitrag erschien zunächst auf Révolution Permanente.

Mehr zum Thema