Als Lenin mit Stalin brach oder: Die georgische Schule der Nationalitätenpolitik
Vor rund 95 Jahren fand die gewaltsame Sowjetisierung der „Demokratischen Republik Georgien“ statt. Warum dies ein Musterbeispiel zur Frage der leninistischen Politik in der nationalen Frage ist. Und warum der Einmarsch dennoch gerechtfertigt war: zur Dialektik der nationalen Frage.
„Indem die Sowjetrepublik das durch Gewaltherrschaft und Unterdrückung zusammengeschmiedete Zarenreich erbte, proklamierte sie offen die Freiheit der nationalen Selbstbestimmung und die Freiheit der nationalen Losgliederung.“ Dieser eine Satz von Leo Trotzki aus seinem Aufsatz Das Recht der nationalen Selbstbestimmung und die proletarische Revolution beschreibt eindrucksvoll die Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetmacht. Das zaristische Russland war bekannt für seine Unterdrückung gegenüber den nationalen Minderheiten: es wurde nicht umsonst als Völkergefängnis beschrieben.
Die Befreiung Armeniens zunächst aus dem zaristischen, dann auch aus dem bürgerlichen Joch haben wir an anderer Stelle beschrieben. Am 25. Februar 1921 marschierte jedoch die Rote Armee in der georgischen Hauptstadt Tiflis ein. Ein Ergebnis, was unter den Bolschewiki zu heftigen Kontroversen führen sollte und mithin der Grund war, warum Lenin mit Stalin brach und seine Absetzung als Generalsekretär forderte.
Lenin letzter Kampf
„Georgien wurde die Gironde der Russischen Revolution. Beschuldigte man die Girondisten des 18. Jahrhunderts des Föderalismus, so endeten die Girondisten Georgiens, die mit der Verteidigung des einen und unteilbaren Rußlands begonnen hatten, beim Separatismus.“ Was bedeutet diese Charakterisierung Trotzkis aus seiner Geschichte der Russischen Revolution? Die Antwort lässt sich ein paar Sätze vorher in seinem magnum opus lesen: Georgien war nämlich das Land, welches die Hochburg schlechthin der Menschewiki darstellte. Nikolos Tschecheidse und Irakli Zeretelli waren die bekanntesten Figuren und Anführer*innen der Menschewiki. Unmittelbar nach der Februarrevolution waren sie es, die z.B. den Petrograder Sowjet anführten.
Als sie noch selbst in der Provisorischen Regierung unter Kerenski an der Macht waren, waren sie gleichzeitig die stärksten Verfechter eines einigen Russland – obwohl sie beide Teil der nationalen Minderheiten waren. Als die Oktoberrevolution den nationalen Minderheiten wie eben Georgien, Finnland oder der Ukraine das Recht der nationalen Selbstbestimmung verlieh und diese Staaten unabhängig werden ließ, verwandelten sich die georgischen Menschewiki von Zentralist*innen in Separatist*innen und stritten fortan für die Unabhängigkeit Georgiens. Warum?
Die Demokratische Republik Georgien, die vom 26. Mai 1918 bis 1921 existierte, war von Anfang bis Ende ein Protektorat des Imperialismus. Ähnlich wie in Armenien diente die Politik der Menschewiki dort nicht den Interessen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, sondern der Bourgeoisie – welche im georgischen Falle erst mit dem deutschen, dann, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches – mit dem britischen Imperialismus kollaborierte. Die Kriegsschiffe der Entente waren im Schwarzen Meer stets zum Eingriff bereit.
Auch die Beziehungen zur Sowjetmacht waren nie gut, führten die Menschewiki doch eine nationalistische Kampagne durch und führten selbst einen Krieg gegen die nationalen Minderheiten der Südosset*innen und Abchas*innen. Die Ironie wollte es aber, dass ausgerechnet unter den beiden georgischen Bolschewiki, Grigori Ordschonikidse und Josef Stalin, die Rote Armee am 11. Februar in Georgien einmarschierte und wenig später nach kurzen, aber heftigen Kämpfen Tiflis eroberte.
Diese gewaltsame Sowjetisierung – bedenken wir: zu einer Zeit, in der der Kronstadtaufstand ausbrach und wenig später auf dem X. Parteitag nach kontroversen Debatten die NEP verkündet wurde – sollte der Brennpunkt werden, der Lenins Beziehung zu Stalin zum Schmelzen brachte. Lenin forderte seit jeher einen behutsamen Vorgang, was den Nationalismus der unterdrückten Völker anging. Ein wichtiger Punkt, den Stalin mehr und mehr missachten und zum Träger des großrussischen Chauvinismus werden ließ. Ebenso verlief die Sowjetisierung Georgiens unter der Eigenregie Stalins und Ordschonikidses – Lenin und Trotzki erfuhren erst später davon. Sie waren vor vollendete Tatsachen gestellt.
Daher plädierte Lenin für einen äußerst vorsorglichen Umgang mit der georgischen Bevölkerung, insbesondere der Teile, die nicht der Meinung der Bolschewiki waren. Im Laufe der weiteren Monate setzte Stalin eine immer stärkere Zentralisierung zugunsten des Kremls durch, sodass von der Autonomie inkl. des Rechts auf Lostrennung wenig übrig bleiben sollte. Lenin erkannte schon damals die Gefahren: „Unter diesen Umständen ist es ganz natürlich, dass sich die `Freiheit des Austritts aus der Union` mit der wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Russlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist. […] Mir scheint, hier haben Stalins Eilfertigkeit und sein Hang zum Administrieren wie auch seine Wut auf den ominösen `Sozialnationalismus´ eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Wut ist in der Politik gewöhnlich überhaupt von größtem Übel.“
Trotzkis Verteidigung
Die Sowjetrepublik sowjetisierte 1921 gewaltsam Georgien, das ein offenes Tor für einen imperialistischen Angriff im Kaukasus darstellte. Vom prinzipiellen Standpunkt der nationalen Selbstbestimmung hätte man ziemlich viel gegen eine solche Sowjetisierung einwenden können. Von dem Standpunkt aus, daß der Kampfplatz der sozialistischen Revolution ausgedehnt werden müsse, war die militärische Intervention in einem Agrarland mehr als zweifelhaft. Vom Standpunkt der Selbstverteidigung eines Arbeiterstaates, der von Feinden umzingelt ist, war die gewaltsame Sowjetisierung gerechtfertigt: Der Schutz der sozialistischen Revolution hat Vorrang vor formalen demokratischen Grundsätzen.
Diese Worte Trotzkis zeigen, dass nicht so sehr der Einmarsch der Roten Armee in Georgien als viel mehr die spätere Zentralisierung zugunsten der allmächtigen Regierung in Moskau die leninistische Nationalitätenpolitik Stück für Stück unterminierten und schließlich ganz aufgaben. Es ist dieser Weg Stalins, der sodann in eine große „Russifizierungspolitik“ münden wird. Diese stalinistische Politik wird das Erbe hinterlassen, welches sodann 2008 mit dem Krieg zwischen Russland und Georgien erneut aufflammen wird. Im Zuge dessen werden die Gebiete Südossetien und Abchasien für „unabhängig“ erklärt werden – den Konflikt aber nicht lösen. Eben diese Konflikte rund um den postsowjetischen Raum sind es, die nach wie vor die leninistische Politik in der nationalen Frage brennend auf die Tagesordnung setzen.