Als der Nordstern rot wurde

01.06.2010, Lesezeit 80 Min.
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// Revolution und Konterrevolution in Finnland 1917/1918 – Broschüre Nr. 5 //

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Vorwort zur ersten Auflage

Das erste sozialistische Land der Welt? Das müsste jedes Schulkind wissen. Aber das zweite? Das hätte der Autor vor einem Jahr auch nicht gewusst. Das „kleine und mutige Finnland“ (Väinö Linna)[1], Land von HolzfällerInnen und HandydesignerInnen, ist die richtige Antwort. Schon beim Begriff der „finnischen Revolution“ werden die meisten an irgendeine technische Erneuerung von Nokia denken. Doch Finnland hatte eine eigene Rote Armee!

Vor 91 Jahren, im Januar 1918, nahm die finnische ArbeiterInnenklasse die Macht in ihre Hände, um Unabhängigkeit für ihr Land und Gerechtigkeit für seine EinwohnerInnen zu erkämpfen. Die Bourgeoisie schlug mit voller Kraft zurück – ob finnisch, schwedisch, russisch oder deutsch, sie hielten alle zusammen gegen die finnischen ArbeiterInnen – und ermordeten mindestens 20.000 Rote.

Auch wenn das heutige Finnland ein Vorbild sozialer Ruhe zu sein scheint, finden sich vereinzelt Spuren dieser Vergangenheit. Die meisten FinnInnen, abgesehen von den wenigen KommunistInnen, reden ungern darüber. International ist die finnische Revolution auch unter Linken kaum bekannt. Deswegen geht diese Broschüre der Frage nach, was genau passiert ist. Und vor allem stellt sie die Frage: was können wir als RevolutionärInnen heute daraus lernen?

Turku, den 1. Januar 2009[2]

Vorwort zur zweiten Auflage

Das Interesse an der fast unbekannten finnischen Revolution war deutlich größer, als wir erwartet hatten. Deshalb veröffentlichen wir eine zweite Auflage dieser Broschüre mit unzähligen kleinen Korrekturen, einer neuen Titelseite und auch zwei historischen Dokumenten von W.I. Lenin und Victor Serge als Anhang. Die weltweite Krise des Kapitalismus schlägt auch im sonst so ruhigen Finnland Wellen: der Klassenkampf in Suomi spitzte sich im letzten Jahr deutlich zu. Umso wichtiger ist es, dass die Lehren der Revolution von 1917/18 aufgehoben werden.

Berlin, den 1. Juni 2010[3]

Finnland vor dem Krieg

Nach über 600 Jahren schwedischer Herrschaft wurde Finnland im Jahr 1809 zu einem Großherzogtum im russischen Zarenreich. Finnland genoss eine weitgehende interne Autonomie mit eigener Verwaltung, Amtssprache, Währung usw. Dafür blieb es über das Jahrhundert russischer Herrschaft, mit Ausnahme der Zeit von 1905/06, sehr ruhig. Erst im Jahr 1899 unter dem Zaren Nikolaus II. begann eine Politik der Russifizierung und der Einschränkung der finnischen Autonomie. Daraufhin unterschrieben eine halbe Million FinnInnen (von einer Gesamtbevölkerung von dreieinhalb Millionen) eine Petition an den Zaren für die Wiederherstellung der Autonomie.

Im 19. Jahrhundert schufen Teile der finnischen Bourgeoisie eine Nationalbewegung. Der Linguist und Historiker Adolf Ivar Arwidsson gab der Bewegung ihren Schlachtruf: „Wir sind keine Schweden, und wir wollen keine Russen werden, also lasst uns Finnen sein.“ Eine finnische Literatur entwickelte sich, hauptsächlich durch schwedischsprachige Angehörige der Elite, die sich die Sprache der Unterschichten aneigneten und ihre Namen „finnisierten“. Gleichzeitig kämpften sie für die finnische Sprache in der Bildung und der Verwaltung. Bis 1900 hatte sich Finnisch nicht nur als gleichberechtigte Amtssprache neben Schwedisch durchgesetzt, sondern auch als Sprache der entstehenden Nation.

Mit der russischen Revolution von 1905 kamen auch – ziemlich verspätet – politische Unruhen ins Großherzogtum Finnland. Mit dem „Roten Aufruf“ aus Tampere rief die ArbeiterInnenbewegung einen Generalstreik aus. Die konstitutionellen bürgerlichen Kräfte schlossen sich dem Streik an, weil auch sie die Wiederherstellung der Autonomie forderten, obwohl beide Lager meist getrennte Streikkomitees hatten. Als der Zar per Manifest seine Bereitschaft erklärte, eine neue Verfassung für Finnland zu akzeptieren, waren die bürgerlichen Parteien wie die sozialdemokratische Parteiführung bereit, den Streik abzubrechen – nur ein kleiner, radikaler Teil der ArbeiterInnenbewegung wollte weiterkämpfen. Nach dem Generalstreik etablierte der Zar eine parlamentarische Versammlung (Eduskunta) für Finnland, die von allen finnischen BürgerInnen über 24, die gewisse Eigentumsbedingungen wie Schuldfreiheit erfüllten, gewählt wurde.[4] Da auch Frauen seit 1906 wählen durften, kann Finnland als das erste Land der Welt mit Frauenwahlrecht betrachtet werden, obwohl es zu dem Zeitpunkt noch eine Monarchie war. Der Eduskunta wählte eine finnische Regierung, den Senat (Senaatti), der dem Zaren und seinem Gouverneur für Finnland unterstellt war.

Schon ab den 1870er Jahren entwickelte sich in Finnland eine Industrie: zuerst Holz- und Papierverarbeitung, später auch eine Metallindustrie. Im Jahr 1914 wurde die finnische IndustriearbeiterInnenklasse auf 110.000 Menschen geschätzt; die überwiegende Mehrheit der finnischen Bevölkerung lebte allerdings noch auf dem Land. Der erste Weltkrieg traf die finnische Wirtschaft hart: Exporte nach Großbritannien, dem wichtigsten Abnehmer von Holz und Papierprodukten, waren nicht mehr möglich und von den 34.000 ArbeiterInnen in diesem Bereich wurde die Hälfte entlassen. Insgesamt wurde ein Drittel der ArbeiterInnenklasse arbeitslos. Dazu kamen rund 40.000 JungarbeiterInnen vom Land, die ab 1916 mit dem Bau von Befestigungen beschäftigt waren. Mit dem Ausbruch der russischen Revolution im März 1917 wurden sie alle auf die Straße gesetzt.[5] Weiterhin war die Getreideversorgung nicht mehr sicher und während des Krieges breitete sich Hunger in den Städten und auf dem Land aus.

Der größte Teil der herrschenden Klasse Finnlands favorisierte Autonomie unter russischer Schirmherrschaft. Doch ein radikaler Teil der Bourgeoisie, der vor allem unter StudentInnen und Militärs Zuspruch fand, wollte die sofortige Lostrennung von Russland und sah Deutschland als den zukünftigen Garanten der finnischen Unabhängigkeit. Diese AktivistInnen organisierten ein freiwilliges Bataillon von FinnInnen, die sich in Deutschland als Jäger (also als leichte Infanterie) ausbilden ließen und im Fall einer deutschen Intervention in Finnland eingesetzt werden sollten. Teile dieser Einheit setzte die deutsche Armee dann auch an der Ostfront ein, aber ab 1917 wurden ihre Mannschaften mit der Zeit nach Finnland zurückgeschickt. Diese rund 2.000 Jäger (jääkärit) sollten eine wichtige Rolle im BürgerInnenkrieg spielen – mit Ausnahme von 3 Jägern fanden sie sich im Lager der weißen Konterrevolution.

Die finnische ArbeiterInnenbewegung

Die Finnische Sozialdemokratische Partei (Suomen Sosialidemokraattinen Puolue, SDP) wurde im Juli 1899 als Finnische ArbeiterInnenpartei gegründet, nachdem marxistische Intellektuelle die Kontrolle über die bis dahin bürgerlich geführte ArbeiterInnenbewegung erlangten. Vor allem nach den großen Klassenkämpfen des Jahres 1906 setzte sich in der Partei das Dogma des „Klassenkrieges“ durch: ArbeiterInnen dürften sich unter keinen Umständen mit der Bourgeoisie verbrüdern, weder im Parlament noch im Sportverein. Diese Doktrin wurde zu der Zeit von allen sozialdemokratischen Parteien offiziell anerkannt, doch wenige führten sie so konsequent durch wie die SDP – SozialdemokratInnen durften keine öffentlichen Posten übernehmen, und die sozialdemokratische Tageszeitung „Der Arbeiter“ (Työmies), seit ihrer Gründung 1895 unter Kontrolle des radikaleren Flügels der SDP, empfahl ihren LeserInnen sogar, nicht ins „bürgerliche“ Kino zu gehen! Selbst als es 1917 zur Bildung einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Koalitionsregierung kam, sind nur rechte Sozialdemokraten Senatoren geworden, und die Parteiführung hielt diesen Schritt für „außerordentlich“, „temporär“ usw.

Diese vollständige Abkapselung der ArbeiterInnenbewegung erklärt sich aus den miserablen materiellen und rechtlichen Bedingungen, unter denen die finnischen ArbeiterInnen lebten.[6] Das Arbeitsrecht kannte kein Recht auf Organisierung oder Kollektivverträge, und bei Kommunalwahlen war das Gewicht einer Stimme durch die Steuerlast bestimmt. Die Tatsache, dass die Aristokratie (und damit auch viele KapitalistInnen, ManagerInnen, AkademikerInnen usw.) größtenteils schwedischsprachig war, während die große Mehrheit der ArbeiterInnen Finnisch sprach, verdeutlichte die Unterschiedlichkeit von ArbeiterInnen und Bourgeois. Viele FinnInnen machten als EmigrantInnen Erfahrungen in den USA mit der radikalen ArbeiterInnenbewegung wie den Industrial Workers of the World und brachten deren Vorstellungen wieder mit nach Hause. Finnische MigrantInnen waren gut in die US-ArbeiterInnenbewegung integriert, sodass Anfang der 1920er bis zu einem Drittel der Mitglieder der Communist Party of the USA finnisch waren.[7]

Im Jahr 1907 entstand auch die finnische Berufsorganisation (Suomen Ammattijärjestö, SAJ), die als finnischer Gewerkschaftsdachverband viel direkter als die Partei an Auseinandersetzungen mit dem Klassenfeind beteiligt und entsprechend radikal war. Während des Generalstreiks im Jahr 1905 bildete sich auch eine Rote Garde (punakaarti), die mit dem Schutz der ArbeiterInnenbewegung beauftragt war. Doch diese Garde zeigte eine Tendenz zu (von der Parteiführung) nicht kontrollierter Militanz, z.B. wollte sie eine Meuterei russischer SoldatInnen im Sommer 1906 mit einem Generalstreik unterstützten und zu einem Aufstand ausweiten, was die Parteiführung nur nervös machte. Mit dem Parteitag von 1906 löste die SDP die Rote Garde offiziell auf und schwor der Gewalt ab.

Im Laufe des ersten Weltkrieges kam es auch zu einer Annäherung von SDP und Bolschewiki. Dabei ging es nicht wirklich um programmatische Nähe – die SDP war stolz darauf, ihre „Bolschewiki und Menschewiki in einer Partei“ zu haben –, sondern um die bedingungslose Anerkennung des finnischen Selbstbestimmungsrechts seitens der Bolschewiki. Während andere russische SozialdemokratInnen meinten, das Verhältnis zwischen Finnland und Russland könne nur durch Verhandlungen zwischen dem finnischen Parlament und der Konstituierenden Versammlung in Russland geklärt werden, argumentierte W.I. Lenin, dass Verhandlungen nicht auf gleicher Augenhöhe stattfinden könnten, solange die Selbstbestimmung Finnlands nicht anerkannt würde.[8] Auf Drängen der Bolschewiki schloss sich die SDP im Juni 1917 der Zimmerwalder Bewegung[9] an, obwohl deren Parteiführung nicht viel von der Perspektive der Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse gegen den imperialistischen Krieg hielt.

Im Agrarland Finnland mussten auch die Bauern/Bäuerinnen eine wichtige politische Rolle spielen. Die finnische Bauernschaft war schon seit dem 18. Jahrhundert rechtlich frei, aber viele wurden durch Pachtverträge unter Bedingungen gehalten, die der Leibeigenschaft ähnelten: z.B. mussten sie eine vertraglich festgeschriebene Zahl von Arbeitstagen am Hof des Verpächters leisten. Rund 150.000 Bauernhöfe wurden im Jahr 1912 von PächterInnen (toppari) betrieben. Die SDP unterstützte eine Reihe von Reformen für die PächterInnen (z.B. ein Verbot von Räumungen) und bekam deswegen eine überraschend hohe Unterstützung von ihnen. (Dazu kamen über 300.000 besitzlose LandarbeiterInnen, das Agrarproletariat, aber sie waren frühestens mit dem Ausbruch der Revolution für politische Agitation empfänglich.) Mit Unterstützung vom Land ging die Sozialdemokratie bei den Wahlen von einem Erfolg zum nächsten: 1907 bekam sie 80 Sitze von 200, 1913 waren es schon 90 und 1916 bekam sie eine absolute Mehrheit von 103 Sitzen (mit 47% der Stimmen).

Die Revolution in Russland…

Die Revolution, die im März 1917 in Russland ausbrach, führte zum Sturz der jahrhundertealten Zarendynastie. Eine provisorische Regierung kam an die Macht (ab März unter dem Fürsten Lwow, dann ab Juli 1917 unter dem Sozialrevolutionären Kerenski), die demokratische Reformen versprach, aber um jeden Preis den imperialistischen Krieg fortsetzen wollte. Die demokratischen Reformen hatten einen sehr begrenzten Charakter, da ein neues politisches System erst durch eine Konstituierende Versammlung geschaffen werden sollte, die aber immer wieder verschoben wurde. So gab es für die FinnInnen – genauso wenig für die anderen unterdrückten Nationen des Zarenreiches – keine Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes. Die provisorische Regierung versprach Verhandlungen und Verbesserungen, aber verschob eine endgültige Lösung immer wieder auf die (irgendwann stattfindende) Konstituante. Im Fall von Finnland wurde das Großherzogtum, das der Zar über Finnland innehatte, auf die neue Regierung übertragen.

Teile der finnischen Gesellschaft, nämlich die SozialdemokratInnen und auch die „aktivistischen“, antirussischen Teile der Bourgeoisie, sahen das Chaos in Russland als Gelegenheit, um die lange ersehnte Unabhängigkeit durchzusetzen. Die SDP war mit dem Zögern der provisorischen Regierung unzufrieden und wandte sich an den ersten Allrussischen Kongress von ArbeiterInnen- und Soldatenräten, der im Sommer in Petrograd stattfand. Der Sowjetkongress beschloss eine Resolution, die das Recht Finnlands auf Unabhängigkeit anerkannte. Doch der Menschewik Rafail Abramowitsch, der die Endfassung formulierte, hatte auch eine Klausel eingefügt, die eine endgültige Entscheidung an die Konstituante delegierte – im Grunde war es die gleiche Position wie die der provisorischen Regierung.

Die SDP „übersah“ diese Klausel in der Resolution des Sowjetkongress: In ihren Augen hatten sich die russischen SozialistInnen zur sofortigen Unabhängigkeit Finnlands bekannt. In der Zeit der „Julitage“ (als es kurzzeitig so aussah, als sei die provisorische Regierung gestürzt worden) nutzte die SDP ihre Parlamentsmehrheit, um ein Autoritätsgesetz (valtalaki) zu beschließen. Dieses übertrug die volle Souveränität über Finnland dem finnischen Parlament – bis auf Fragen der Außenpolitik und der Verteidigung, die bei der russischen Regierung bleiben sollten. Die Vorherrschaft des Zaren oder irgendeines russischen Regenten wurde vom Parlament für erloschen erklärt, wobei die endgültigen Beziehungen zu Russland noch zu klären wären. Dies war für die Kerenski-Regierung, die noch die imperialistischen Interessen Russlands mit einem sozialistischen Gewand weiter verteidigen wollte, völlig inakzeptabel. Als Regent über Finnland löste sie das Parlament auf und ordnete Neuwahlen für Oktober an. Die SDP wollte diese Entscheidung nicht hinnehmen, aber sie hatte durch die De-Facto-Unabhängigkeitserklärung viel Unterstützung im Land gewonnen und wollte, angesichts eines erwarteten neuen Wahlsieges, keine zu scharfen Konflikte riskieren.

… und seine Auswirkungen in Finnland

Mit dem Ausbruch der Revolution in Russland brach die Autorität in Finnland völlig zusammen. Das Parlament von 1916 mit seinen 103 sozialdemokratischen Abgeordneten wurde zum ersten Mal einberufen, und ein neuer Senat wurde gewählt, mit dem langjährigen sozialdemokratischen Parlamentarier und Vorsitzenden des Gewerkschaftsverbandes Oskari Tokoi als De-Facto-Regierungschef („Der erste Sozialist der Welt, der Premierminister in einer demokratisch gewählten Regierung wurde“[10]). Doch es gab weiterhin einen russischen Gouverneur, der jetzt nicht vom Zaren, sondern von der provisorischen Regierung ernannt wurde. Damit begann ein endloses juristisches Hin und Her, ob die russische provisorische Regierung die rechtliche Nachfolge des Zaren angetreten hätte oder nicht, denn wenn der Zar ersatzlos abgedankt hätte, müsste – so die Argumentation – verfassungsmäßig die Macht an das finnische Parlament zurückfallen. Die provisorische Regierung wollte sich deswegen juristisch als Regent verstanden wissen. (Auch nach der Unabhängigkeit bemühte sich die bürgerliche Regierung, neue Regenten an Stelle des Zaren zu finden.)

Im Laufe des Jahres 1917 kam es immer häufiger zu eigenständigen Protestaktionen der ArbeiterInnenklasse. In Turku zum Beispiel gab es einen Generalstreik zur Unterstützung eines Streiks der Feuerwehrmänner. Der alte bürgerliche Stadtrat lehnte jede Lohnerhöhung ab, daraufhin wurden einige seiner Mitglieder von den Streikenden im Rathaus eingeschlossen, bis sie ihre Meinung geändert hätten. Als die Stadtratsmitglieder argumentieren, dass sie kein Quorum (also keine Beschlussfähigkeit) hätten, schickte das Streikkomitee eine bewaffnete Einheit durch die Stadt, um weitere Mitglieder zusammenzutreiben. Der Stadtrat blieb aber stur und die ArbeiterInnen wollten ihn absetzen – nur eine Intervention des sozialdemokratischen Regierungschefs Tokoi konnte einen Kompromiss erzwingen. Er meinte, ein neues Gesetz zu den Kommunalwahlen im Parlament durchsetzen zu müssen, bevor die Stadträte abgesetzt werden konnten.

Die Polizei verschwand fast vollständig und wurde durch BürgerInnenmilizen ersetzt, die von den städtischen Verwaltungen bezahlt wurden, aber weitgehend autonom agierten. Die Milizen in den Großstädten bestanden in der Regel aus ArbeiterInnen und taugten kaum, um gegen Streiks und Demonstrationen eingesetzt zu werden. Deshalb bildete die Bourgeoisie zunehmend eigene Schutzkorps v.a. aus Bauern/BäuerInnen und StudentInnen. In dieser Situation bildeten sich auch Einheiten der Roten Garde, die im Gegensatz zu den Milizen einen explizit sozialdemokratischen Charakter hatten und nur der Partei unterstanden. Die SDP wollte zuerst nur eine (viel weniger militant klingende) ArbeiterInnenverteidigungsgarde (työväen järjestyskaarti) zulassen, denn sie hatte die unkontrollierbare Rote Garde von den Ereignissen 11 Jahre zuvor in schlechter Erinnerung. Erst im Oktober 1917 rief sie offiziell zur Bildung einer Roten Garde auf.

Oft wird behauptet, dass die Rote Garde aus „AnarchistInnen und Hooligans“, also aus kriminellen und deklassierten Elementen, bestand. Doch in der Mehrheit der Fälle war genau das Gegenteil der Fall: Es wurde großer Wert darauf gelegt, dass nur politisch zuverlässige Partei- und Gewerkschaftsmitglieder, die schon lange in der ArbeiterInnenbewegung aktiv waren, für die Rote Garde ausgewählt wurden. So waren die meisten RotgardistInnen etwas ältere ArbeiterInnen mit Familien – erst beim Ausbruch der Kampfhandlungen strömten Tausende jüngere ArbeiterInnen und Arbeitslose dazu. Die Rote Garde war eine paramilitärische Formation, hatte aber kaum Waffen: In Tampere konnte sie der russischen Garnison Gewehre abkaufen, doch das blieb eine Ausnahme.

Im Oktober 1917 kam es zu Neuwahlen in Finnland, und die Sozialdemokratie verlor ihre absolute Mehrheit. Sie bekam noch 45% der Stimmen, aber nur noch 92 Sitze im Parlament (aufgrund des Wahlrechts). Die Parteiführung erkannte diese Wahlen nicht an, weil sie in der vorherigen Auflösung des Parlamentes durch Kerenski eine Verletzung ihres Autoritätsgesetzes sah. In ihren späteren Auseinandersetzungen mit dem Senat unter dem Konservativen Peer Evind Svinhufvud[11], der vom neuen Parlament gewählt wurde, beharrte die Sozialdemokratie auf der rückwirkenden Anerkennung des Autoritätsgesetzes, d.h. sie forderte die Regierung auf, ihre eigene Legitimität abzuerkennen. In dieser Frage konnte keine Seite Kompromissbereitschaft zeigen, weshalb die Sozialdemokratie immer mehr von ihrem Lieblingsweg, dem Parlamentarismus, abbiegen musste.

Die Haltung der Sozialdemokratie

In einer Publikation prangerte die Sozialdemokratie die Sturheit der Bourgeoisie an: „Wir ArbeiterInnen werden gezwungen sein, uns zu überlegen, die Macht im ganzen Land in unsere Hände zu nehmen.“[12] Nun, auch für eine revolutionäre Führung kann es legitim sein, eine defensive Form der Propaganda zu verwenden und die Machtübernahme als Akt der Notwehr zu definieren, um schwankende Teile der ArbeiterInnenklasse von der Notwendigkeit der Übernahme der Macht zu überzeugen. Doch für die SDP war die Machtergreifung tatsächlich nicht einmal eine ungewollte „letzte Option“: Im Endeffekt war es nur eine leere Drohung, um die Bourgeoisie zu Zugeständnissen zu bewegen. Oskari Tokoi soll gesagt haben, dass die bürgerliche Parlamentsmehrheit das sozialdemokratische Reformprogramm annehmen müsse, um „den Albtraum einer Revolution“ zu vermeiden. Und für die SDP-Führung war sie tatsächlich ein Albtraum. Obwohl die Sozialdemokratie nun immer radikalere Aktionsformen befürwortete (vom Generalstreik im November 1917 bis zur Machtergreifung im Januar 1918), waren diese nie Teil einer konsequenten Strategie. Die zögerlichen Schritte wurden nur deshalb gesetzt, da die Partei sonst die sich radikalisierenden ArbeiterInnenmassen nicht mehr hätte kontrollieren können.

Offiziell war die Partei natürlich für die soziale Revolution – seit 1899 stand das als Ziel im Parteiprogramm, das stark an das Programm der deutschen Sozialdemokratie angelehnt war. Aber in der Praxis war die Partei von einem tiefen Determinismus[13] geprägt, wonach in einem unterentwickelten Land wie Finnland nur eine bürgerliche Revolution stattfinden könnte, um die Reste des Feudalismus zu beseitigen und eine moderne Republik zu schaffen. Eine sozialistische Revolution war laut diesem Denken ein „anarchistisches Abenteuer“. Selbst wenn sich die Partei gezwungen sah, die Staatsmacht zu übernehmen, dann nur für eine kurze Episode, bis eine konstituierende Versammlung eine bürgerliche Republik etablieren könnte. Und wenn es eine sozialistische Mehrheit in der Versammlung oder eine sozialistische Regierung in der Republik gegeben hätte, hätten sie sich auf einige Reformen im Sinne der ArbeiterInnen beschränken müssen. Für die SDP war der Sozialismus eine Frage, die nur in den entwickelten kapitalistischen Ländern Europas hätte gelöst werden können – nicht in Finnland, das von allen Seiten als „unreif“ für den Sozialismus angesehen wurde. Insgesamt war die SDP theoretisch stark an Karl Kautsky, den Theoretiker des „Zentrums“ der deutschen Sozialdemokratie, angelehnt. SDP-ParteiführerInnen nahmen an internationalen sozialistischen Konferenzen teil (zum Beispiel war der Vertreter der linken Strömung, Otto Wille Kuusinen, bei der Konferenz im Jahr 1912 in Bern), doch sie beteiligten sich kaum an den internationalen Debatten und waren selbst über die Auseinandersetzungen in der russischen Sozialdemokratie nur wenig informiert.

Kullervo Manner (von 1917 bis 1918 kurzzeitig an der Spitze der Arbeiterpartei und der Roten Regierung) meinte zu einem Bericht, dass die Partei immer weniger in der Lage sei, die Aktionen der ArbeiterInnen zurückzuhalten: „Wenn wir uns über das schnelle Näherrücken einer Revolution irren, dann wäre ich froh.“[14] Diese Revolution war für viele in der Partei keine Perspektive, für die sie die ArbeiterInnenklasse zu gewinnen versuchten, sondern ein Schreckgespenst, das für die bürgerliche Regierung an die Wand gemalt wurde. Kuusinen warnte die Bourgeoisie vor Unruhen „falls wir, die die ArbeiterInnen ruhig halten wollen, keine konkreten Ergebnisse vom Parlament bekommen.“[15] Zum 1. November 1917 stellte der Gewerkschaftsverband SAJ ein Ultimatum an die Regierung, um die dringendsten Probleme der ArbeiterInnen zu lösen – doch dieses Ultimatum verstrich und die Führung hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, was sie im Fall der Nicht-Erfüllung machen würde. Am 12. November 1917 fand der SAJ-Kongress statt. Der Topf war fast am Überkochen: EinE DelegierteR nach dem/r anderen forderte die sofortige Machtergreifung durch die SDP. Die Führung musste irgendetwas unternehmen, um die Kontrolle über die Situation zu behalten.

Otto Wille Kuusinen

Kuusinen war ein bürgerlicher Intellektueller, der im Jahr 1906 zur SDP stieß und eine führende Figur ihres radikaleren Flügels wurde. Aber auch für diesen Flügel war die Revolution von 1917 nicht mehr als eine bedauerliche Notwendigkeit. Im Volksdeputiertenrat diente er als Bildungsdeputierter und schrieb auch den „Schweizer“ Verfassungsentwurf.

Im April 1918 soll Kuusinen „Staat und Revolution“ gelesen und daraufhin eine radikale Selbstkritik veröffentlicht haben. Wie viele der neuen KPs durchlebte auch die Finnische Kommunistische Partei (SKP) am Anfang eine ultralinke Phase: Bei den ersten Wahlen nach dem Krieg rief sie zu einem (erfolglosen) Boykott auf:[1] „Mit der ganzen Glut der neu Konvertierten ergriff sie die Revolution und wies grimmig die parlamentarischen Taktiken der alten ArbeiterInnenbewegung zurück.“[2] In den Jahren danach, als Kuusinen in den finnischen Untergrund zurückging, stellte er fest, dass die finnische ArbeiterInnenklasse nach der schweren Niederlage nicht kurz vor einem bewaffneten Aufstand stand. Dadurch wurde er zu einem Befürworter der Einheitsfronttaktik beim 3. und 4. Komintern-Kongress und verfasste die Organisationsresolution des 3. Komintern-Kongresses. Beim 4. Komintern-Kongress wurde er in das Sekretariat des Exekuktivkomitees der Komintern gewählt.

Er war in den höchsten Kreisen der Komintern und auch der Sowjetunion aktiv, ab 1952 sogar im Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU. Er entkam den stalinistischen Säuberungen, aber auch der „Entstalinisierung“: Er war einer von wenigen FunktionärInnen, die sowohl unter Stalin als auch unter Chruschtschow Karriere machten. Trotzki schrieb Ende der 1920er Jahre über Kuusinen: In der Komintern „riskiert er nichts. Er schwimmt mit dem Strom, wie die, die ihn befehlen. Aus dem kleinlichen Logiker wurde ein großartiger Intrigant.“[3]

Als die Sowjetunion im Winter 1939 Finnland angriff, diente er als Regierungschef der „Demokratischen Republik Finnland“, die als Feigenblatt für den Angriffskrieg Stalins dienen sollte. Da der Krieg schleppend verlief, blieb diese Regierung auf ein kleines Dorf an der russischen Grenze beschränkt und wurde bald wieder aufgelöst, weswegen Kuusinen im heutigen Finnland als Verräter gilt. In seinen letzten Wochen bat er die finnische Regierung um Erlaubnis, seine Heimatregion ein letztes Mal besuchen zu dürfen, aber dies wurde abgelehnt. Otto Kuusiinen starb 1964.

[1]. Hodgson. S. 82.

[2]. Kirby. S. 171

[3]. Leo Trotzki: Who Is Leading The Comintern Today?, http://www.marxists.org/archive/trotsky/1928/03/comintern.htm.

Der Generalstreik im November

Ein Zentrales Revolutionskomitee wurde von den Vorständen der ArbeiterInnenorganisationen gewählt. Dieses beschloss am Abend des 13. Novembers 1917 einen Aufruf zum Generalstreik. Der Streik war, gerade angesichts der kaum existenten Vorbereitung, ein unmissverständliches Zeichen der Entschlossenheit der ArbeiterInnenbewegung: Über 80.000 von 110.000 ArbeiterInnen im Land beteiligten sich am Streik, und die Macht im ganzen Land ging in die Hände von Revolutionskomitees über. Auch hier blieb das Problem der Bewaffnung: zum Beispiel bekam die Garde in Helsinki 3.000 Gewehre von den russischen SoldatInnen geliehen, aber viele Einheiten der Roten Garde hatten kaum Waffen oder Munition.

Die Bourgeoisie verfügte kaum über Mittel, die sie den Straßenpatrouillen der Roten Garde hätte entgegensetzen können, abgesehen von embryonalen paramilitärischen Einheiten der Schutzkorps in den ländlichen Gebieten. So war nahezu ganz Finnland von einem Tag auf den anderen in ArbeiterInnenhand. Die bürgerlichen Kräfte hatten das bürgerliche Parlament und die Regierung, mit denen sie wütende Proklamationen verfassen konnten, aber die ArbeiterInnenkomitees und die Roten Garden kontrollierten die Straßen – es war eine Situation der Doppelmacht. Eine Resolution aus Tampere, die an das zentrale Revolutionskomitee gerichtet war, brachte diese Tatsache auf den Punkt: „Wir können keine zwei Regierungen haben.“[16] Es gab aber tatsächlich zwei Regierungen, und die eine musste über kurz oder lang die andere beseitigen. Kuusinen argumentierte ein Jahr später, dass es während des Generalstreiks eine revolutionäre Situation gegeben hatte, in der die Macht auf der Straße lag.[17]

Die SDP hatte die Forderungen des Streiks im Manifest „Me vaadimme“ („Wir fordern“) zusammengefasst. Neben einem Sofortprogramm gegen die Hungerkrise und der Auflösung der Weißen Garde, die konsequent als „Schlächter-Garde“ (lahtarikaarti[18]) bezeichnet wurde, ging es auch um die Anerkennung des Autoritätsgesetzes. Gegenüber ihrer Basis sagte die SDP-Führung, dass der Streik erst beendet werden würde, wenn eine ArbeiterInnenregierung (also eine SDP-Regierung) die Macht innehabe. Das heißt, die SDP forderte nicht weniger als die völlige Kapitulation der Bourgeoisie, obwohl sie sich einbildete, noch eine gewaltsame Auseinandersetzung vermeiden zu können.

Einstweilen war es in Russland zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse gekommen. Nach dem gescheiterten Putsch des Generals Kornilow wurden die Bolschewiki, die wesentlich an der Vereitelung des Putsches beteiligt waren, immer stärker und konnten im September in wichtigen Städten die Mehrheit in den Räten erlangen. Am 7./8. November[19] schließlich führten die Bolschewiki den Oktoberaufstand durch. Es ist unklar, wie schnell diese Ereignisse in Finnland bekannt wurden, doch klar ist, dass die Verschiebung nach links über den gesamten September und Oktober nicht unbemerkt blieb. Am 16. November, spät in der Nacht, beschloss das Zentrale Revolutionskomitee, mit einer Mehrheit von 14 zu 11, die politische Macht zu ergreifen. Doch das Unterkomitee, das mit der Vorbereitung des Aufstandes beauftragt wurde, verlor nach einigen Stunden seinen Mut – es meinte, eine solche Aktion nicht ohne die Minderheit durchführen zu können. So wurde am 17. November der ganze Streik abgebrochen. Offiziell hieß es, dass durch den Streik eine ArbeiterInnenregierung entstehen würde. Doch die SDP wusste selbst nicht, wie das passieren sollte: Die bürgerliche Parlamentsmehrheit wollte ganz sicher keine SDP-Regierung wählen, und die SDP wollte das Parlament nicht umgehen. So war das Ergebnis des Streiks für die ArbeiterInnenbewegung: nichts. Aber die finnische Bourgeoisie hatte gesehen, was für eine Macht ihr gegenüberstand, und in den kommenden Wochen begann sie fieberhaft mit der Vorbereitung eines BürgerInnenkrieges.

Die Unabhängigkeit Finnlands

Die Oktoberrevolution am 7./8. November 1917 änderte die politische Situation in Russland – und in Finnland – schlagartig. Die Mehrheit der finnischen Bourgeoisie hatte eine sofortige Unabhängigkeitserklärung bis dahin abgelehnt, weil sie weiterhin den russischen Staatsapparat zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnung brauchten; die finnische Sozialdemokratie war für die sofortige Lostrennung, weil sie eben diesen Staatsapparat weg haben wollten. Doch plötzlich war dieses Verhältnis auf den Kopf gestellt: Am 6. Dezember 1917 beschloss die knappe bürgerliche Mehrheit im finnischen Parlament, einseitig die Unabhängigkeit Finnlands von Russland zu erklären[20] – die sozialdemokratische Fraktion hatte einen eigenen Antrag zur Unabhängigkeit eingebracht, der Verhandlungen mit der Sowjetregierung vorsah. Die finnische Regierung lehnte es jedoch ab, auch nur zur Übermittlung der Unabhängigkeitserklärung Kontakt zur Sowjetregierung aufzunehmen, denn sie hoffte auf den baldigen Sturz der Bolschewiki. Doch Deutschland, Frankreich und England lehnten alle eine diplomatische Anerkennung Finnlands ab, bis die Sache mit Russland geklärt war. Deswegen ging die finnische Regierung doch noch auf die Sowjetregierung zu.

Eine Delegation der finnischen Regierung, einschließlich des Regierungschefs Svinhufvud, reiste nach Petrograd. Ihre am 30. Dezember eingereichte Unabhängigkeitserklärung wurde aus formalen Gründen abgelehnt, weil sie an die „Russische Regierung“ und nicht an den „Rat der Volkskommissare“ gerichtet war. Aber am nächsten Tag bekam die Delegation die offizielle Antwort auf ihre korrigierte Erklärung, dass „in Übereinstimmung mit dem Prinzip des Rechts der Selbstbestimmung der Völker (…) die politische Unabhängigkeit der finnischen Republik anerkannt werden sollte.“ Am 4. Januar 1918 wurde diese Entscheidung vom Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets ratifiziert. Ein finnischer Diplomat schlug vor, dass bei einem solchen Anlass der Ratsvorsitzende Lenin in den Warteraum kommen sollte, damit beide Staatschefs sich treffen würden. Doch Lenin antwortete: „Was soll ich diesen Bourgeois denn sagen?“ Auch Trotzki lehnte ab, und der Volkskommissar für Justiz, Isaac Steinberg, erklärte: „In meiner offiziellen Funktion kann ich sie höchstens festnehmen.“ Schließlich ging Lenin doch hinaus. Es gab einen kurzen Wortwechsel, in dem Lenin fragte „Sind Sie jetzt zufrieden?“ und sein Gegenüber versehentlich als „Genosse“ bezeichnete. Trotzki meinte daraufhin: „Nicht so schlimm. Wenn wir später in ihre Hände fallen sollten, werden sie dich sicherlich dafür belohnen.“[21]

Die Bolschewiki waren also bereit, die Unabhängigkeit Finnlands auch unter einer bürgerlichen Regierung anzuerkennen: nicht nur, weil sie über keine militärischen Mittel verfügten, um die Unabhängigkeit zu verhindern, sondern auch, weil es dem Programm Lenins zur nationalen Frage entsprach. Die Bolschewiki betonten, dass sie lieber mit einer finnischen ArbeiterInnenregierung über die Unabhängigkeit verhandelt hätten, aber sie machten das nicht zur Bedingung. Nachdem das finnische Parlament einstimmig für die Unabhängigkeit Finnlands votiert hatte (es gab entgegengesetzte Anträge von den bürgerlichen und sozialdemokratischen Fraktionen, aber diese unterschieden sich nur in der Form, wie die Unabhängigkeit zu erlangen war), waren die Bolschewiki schon aus demokratischen Gründen[22] bereit, diesem Verlangen der finnischen Nation Rechnung zu tragen.

War das nur ein Propagandatrick? War es nur ein Theaterspiel: die Gewährung der Unabhängigkeit vorzutäuschen, um anschließend dem Land mit den Bajonetten der Roten Armee ein „kommunistisches“ Regime zu aufzuzwingen? Später wurde das zu einer Standardpraxis des stalinistischen Regimes, so etwa 1939 in den baltischen Staaten oder ab 1945 in Osteuropa – 1939 wurde es auch erfolglos in Finnland versucht. Doch 1918 war die Situation grundlegend anders: Die Rote Armee war erst im Entstehen begriffen, und die Sowjetführung verteidigte vehement das Recht unterdrückter Völker auf Selbstbestimmung – auch als ein Mittel, um das Proletariat unterdrückter Länder für die sozialistische Weltrevolution zu gewinnen. Durch die bedingungslose Anerkennung dieses Rechtes durch das revolutionäre Russland sollten unterdrückte Nationen überzeugt werden, dass es nicht einfach „die RussInnen“ waren, die – jetzt mit roten Fahnen ausgestattet – wie schon unter dem Zarismus andere Ländern erobern und russifizieren wollten. Lenin erklärte die generelle Bereitschaft des revolutionären Russlands, Territorien abzutreten, um die Einheit der ArbeiterInnenklasse zu erreichen: „Das Wichtigste für uns ist nicht, wo die staatliche Grenze verläuft, sondern ob die Völker aller Nationen zusammenhalten im Kampf gegen die Bourgeoisie, unabhängig von der Nationalität.“[23] Denn erst aus einem Zustand der Gleichberechtigung heraus, ohne Ressentiments über territoriale Eroberungen, könne eine wirklich freiwillige, ehrliche und gegenseitig nützliche Föderation freier Nationen entstehen.

Lenin hatte bereits vor seiner Wiederkehr nach Russland im März 1917 die Anerkennung des finnischen Selbstbestimmungsrechts von seinen ParteigenossInnen gefordert: „Wir sind dafür, dass Finnland die volle Freiheit bekommt, denn dadurch wird es größeres Vertrauen in die russische Demokratie geben, und die FinnInnen werden sich nicht lostrennen.“[24] Gleichzeitig betonte eine bolschewistische Konferenzresolution zur finnischen Frage, dass eine revolutionäre Partei des Proletariats nicht die Lostrennung von jeder gegebenen Nation in jedem gegebenen Moment befürworten würde, sondern die Frage „vom Standpunkt der Interessen des Kampfes des Proletariats für den Sozialismus entschieden“ werden müsse.[25] So war die bolschewistische Position zu Finnland, wie der Nationalitätenkommissar Stalin sie auf einem SDP-Parteitag Ende November 1917 vorstellte, dichotom[26]: auf der einen Seite wurde die Unabhängigkeit Finnlands sofort anerkannt, aber auf der anderen wurde Druck auf die SDP-Führung ausgeübt, auch vor der finnischsprachigen Öffentlichkeit, dass diese endlich die Macht ergreifen würde.[27] Stalin versprach im Namen der Sowjetregierung jedwede Hilfe, die die finnischen SozialistInnen für eine Revolution für nötig hielten, forderte aber auch „Kühnheit, Kühnheit, und abermals Kühnheit!“ von den FinnInnen.[28] Wenig später soll Trotzki gegenüber einem Journalisten seine Verwunderung zum Ausdruck gebracht haben, dass die FinnInnen immer noch keine Revolution gemacht hatten.

Carl Gustav Emil Mannerheim

Mannerheim war der Sohn einer aristokratischen, schwedischsprachigen Familie in Finnland, die ursprünglich deutscher Abstammung war. Nach einer „rebellischen“ Jugend begann er im Jahr 1887 seine Ausbildung in der zaristischen Armee.

Die Weiße Regierung suchte ihn als Oberkommandierenden aus, weil er einer der wenigen FinnInnen war, die über Kommandoerfahrung mit großen Armeen unter modernen Bedingungen verfügten. Die Truppen waren teilweise recht unzufrieden mit ihm, denn der Generalstab der finnischen Weißen funktionierte ausschließlich auf Schwedisch, und die bäuerlich-patriotischen Truppen beschwerten sich immer wieder über das Verhalten der „russischen“ oder „schwedischen“ Offiziere. Mannerheim personifizierte gleichzeitig die zwei Feindbilder, die die finnischen NationalistInnen bekämpfen wollten: die schwedische Aristokratie und den russischen Staatsapparat.

Er stand, im Vergleich zur Mehrheit der Weißen Führung, in einem freundlicheren Verhältnis zur Entente und war distanzierter gegenüber dem Deutschen Reich. Er hatte selbst jahrelang in einer Armee der Entente gedient und erwartete eine Niederlage Deutschlands im Krieg, weswegen er eine zu große Abhängigkeit Finnlands vom deutschen Kaiser ablehnte. Wegen zunehmender Konflikte zwischen ihm und der Regierung – über die Beziehungen zu Deutschland, aber auch über die Macht der Armee im neuen System – trat er einen Monat nach dem Ende des BürgerInnenkriegs von seinen Ämtern zurück. Das sicherte ihm seine zukünftige Rolle, denn nach der Niederlage Deutschlands war er einer der wenigen PolitikerInnen in Finnland, die nicht mit Deutschland verstrickt waren. Er wurde vorübergehend Regent, unterlag aber bei der ersten Präsidentschaftswahl.

Im heutigen Finnland gilt er als Nationalheld und, laut einer Fernsehumfrage, als „größter Finne aller Zeiten“. Genau 30 Jahre lang diente er in der Armee des angeblichen „Traditionsfeindes“ Russland, wo er es bis zum Generalleutnant schaffte, und sprach deswegen akzentfreies Russisch. Und er kam als „größter Finne“ über rudimentäre Finnischkenntnisse nie hinaus. Bei seinem 75. Geburtstag im Jahr 1942 war Adolf Hitler persönlich zu Gast, obwohl Mannerheim später meinte, dass er ihn gar nicht eingeladen hatte… 1944 bis 1946 Staatspräsident Finnlands, starb Mannerheim 1951.

Der Rubikon überschritten

Am 12. Januar 1918 beschloss das finnische Parlament, auf Antrag der Svinhufvud-Regierung, die Schaffung von neuen staatlichen Sicherheitskräften. Der Beschluss lief auf die Anerkennung der Weißen Garde als nationale Armee hinaus, auch wenn dieser Schritt erst mit dem Ausbruch des BürgerInnenkrieges formal erfolgte. Die knappe bürgerliche Mehrheit im Parlament setzte diese Entscheidung ohne jegliche Kompromisse mit der Sozialdemokratie durch, daraufhin rief ein SDP-Abgeordneter: „Finnlands bürgerliche Regierung hat eine Armee des Klassenkrieges gegen die arbeitende Bevölkerung geschaffen.“ Ein anderer warnte vor einem „blutigen BürgerInnenkrieg“, den die Bourgeoisie jetzt eingeleitet habe. Für beide Lager zeichnete sich die kommende Auseinandersetzung ab; doch selbst in dieser Situation ergriff die SDP-Parteiführung keine Initiative, denn am nächsten Tag beschloss ihre Exekutive: „Wir werden warten, bis der revolutionäre Moment kommt, aber wir werden ihn nicht anstreben oder gar wünschen.“[29]

Für den Ausbruch der Kämpfe, die in der Geschichtsschreibung oft als Produkt von Missverständnissen interpretiert wurden, waren drei Ereignisse verantwortlich, die weitgehend unabhängig voneinander stattfanden:

In Viipuri (heute das russische Wyborg) begannen die bewaffneten Auseinandersetzungen am 19. Januar 1918, als die Rote Garde eine Fabrik besetzte, in der Waffen für die Weißen lagerten. Die Weiße Garde mobilisierte Einheiten aus dem Umland, die die Stadt besetzten. Diese wurden von russischen SoldatInnen vertrieben, die unter Befehl standen, alle FinnInnen (ob rot oder weiß) in der Stadt zu entwaffnen. Schließlich hatten die Rote Garde und die russische Garnison in einer inoffiziellen Allianz die Macht in der Stadt in ihren Händen. Es handelte sich um eine rein lokale Angelegenheit, die aber weitere Aktionen anspornte.

In Vaasa und in der Region Pohjanmaa (an der oberen Westküste Finnlands) begann die Weiße Garde unter ihrem neuen Oberkommandierenden Carl Gustav Emil Mannerheim mit der Entwaffnung der russischen Garnison. In wenigen Tagen konnte sie Hunderte SoldatInnen festnehmen und tausende Gewehre erbeuten. Kurz danach konnte sie auch die einzige Industriestadt in der Region, Oulu, nach einer blutigen Schlacht mit der Roten Garde einnehmen.

In Helsinki wurde am 27. Januar um 23 Uhr eine rote Laterne im Turm der ArbeiterInnenhalle gezeigt, um den Beginn des Aufstandes zu signalisieren. Ohne jeglichen Widerstand wurden öffentliche Gebäude, auch das Regierungshaus, besetzt. Die befohlene Verhaftung der Regierung – die bis 22 Uhr im Regierungshaus getagt hatte! – misslang, erstaunlicherweise, und die Kabinettsmitglieder versteckten sich in der Stadt.

Wenige Tage zuvor war auf Anweisung Lenins ein Zug mit 15.000 Gewehren für die Rote Garde Finnlands von Petrograd Richtung Helsinki aufgebrochen. Um diesen Zug zu schützen, war es notwendig, die Rote Garde entlang der ganzen Südküste zu mobilisieren und zu diesem Zweck einen Generalstreik auszurufen. So war der Aufstand für die SozialdemokratInnen unvermeidlich geworden. Mensch könnte sagen, dass die finnische Revolution wegen einer Entscheidung der Sowjetführung ausgebrochen ist, obwohl diese Episode natürlich wenig mit der Vorstellung eines aus Petrograd gesteuerten Aufstandes zu tun hat!

Der finnische Rubikon wurde also fast gleichzeitig an drei Orten weitgehend unabhängig voneinander überschritten – Mannerheim bediente sich auch des entsprechenden Spruchs von Caesar: „Die Würfel sind gefallen“.

Das Rote Finnland

Nach dem Aufstand in Helsinki wurde ein Volksdeputiertenrat (Kansanvaltuuskunta) mit 14 Deputierten[30] als Regierung Finnlands proklamiert – im Wesentlichen war es das SDP-Exekutivkomitee, abzüglich von zwei rechten SozialdemokratInnen, die die Machtübernahme ablehnten, plus zwei VertreteterInnen des Gewerkschaftsverbandes SAJ. Die Regierung fand es, auch nach der Machtübernahme, bedauerlich, dass sie zu einem solchen Schritt gezwungen worden war. Ihre revolutionäre Regierung sollte nur bis zur Einberufung einer konstituierenden Versammlung im Amt bleiben, wo eine ArbeiterInnenregierung auf dem bevorzugten parlamentarischen Weg entstehen könnte. Yrjö Sirola, der zum linkeren Teil der SDP gehörte, nannte als Ziel „eine bessere demokratische Ordnung im ganzen Land“.[31]

Das Wirtschaftsprogramm der Roten Regierung war auf die Schaffung eines regulierten kapitalistischen Systems mit einem staatlichen Sektor ausgerichtet. So gab es keinen Aufruf an die ArbeiterInnenklasse, die Fabriken unter ihre Kontrolle zu nehmen – nach einer Woche im Amt beschloss der Deputiertenrat, dass ArbeiterInnen in Betrieben, die keine Löhne zahlten oder geschlossen wurden, sich an die Revolutionstribunale wenden mussten. Erst nach einem RichterInnenspruch konnten sie die staatliche Übernahme dieser Betriebe beim Deputiertenrat beantragen. Die Festnahme von konterrevolutionären UnternehmerInnen und ManagerInnen, wie Radikale aus Tampere vorschlugen, wurde explizit abgelehnt.

Überhaupt gab es kaum Appelle für eigenständige Initiativen der ArbeiterInnen: die bürokratische Funktionsweise der SDP, die sich über Jahre bewährt hatte, wurde problemlos auf den neuen Staatsapparat übertragen. Nur in staatlichen Unternehmen, wo das Verwaltungspersonal nach einem Aufruf der alten Regierung geschlossen die Arbeit verweigerte, entstanden Räte aus BelegschaftsvertreterInnen und einem Regierungskommissar. Unter ArbeiterInnenselbstverwaltung konnte während des gesamten Krieges die Post und die Eisenbahn weiter funktionieren.

Doch die Banken blieben unantastbar: Alle Banken machten sofort nach dem Aufstand zu. Der Deputiertenrat beschloss, dass sie wieder aufmachen mussten, aber die BankerInnen reagierten überhaupt nicht darauf. Die SozialdemokratInnen schreckten davor zurück, die Banken zu verstaatlichen; nur die finnische Staatsbank wurde wieder in Gang gesetzt. Im gesamten Verlauf des finnischen BürgerInnenkrieges gab es im Gegensatz zur russischen Revolution keine Szenen, wo BankerInnen verhaftet oder Tresore gesprengt worden wären. Die revolutionäre Regierung hatte einen zu starken Drang zu finanzieller Orthodoxie: der Direktor der finnischen Staatsbank unter dem Deputiertenrat, Edvard Gylling, war auch schon vor der Revolution der Parlamentsvertreter bei der Bank gewesen!

Die Regierung verstand sich selbst als nichts mehr als die demokratische Regierung der Republik Finnland – der Begriff „Finnische Sozialistische Arbeiterrepublik“ tauchte nur im Vertrag mit der Sowjetregierung vom 1. März auf, und laut finnischer Seite nur auf Drängen Lenins. Auch der Verfassungsentwurf, der im Wesentlichen von Kuusinen erarbeitet und vom Deputiertenrat angenommen wurde, sah ein parlamentarisches System ohne rätedemokratische Elemente vor – der Text wurde zu großen Teilen der Schweizer Verfassung entlehnt!

Für die offizielle Geschichtsschreibung war das Rote Finnland vom Roten Terror geprägt. Doch im Gegensatz zur Russischen Revolution, wo die Führung den Roten Terror (zum Beispiel die Geiselnahme von Verwandten prominenter KonterrevolutionärInnen) offiziell anordnete und politisch verteidigte, war der „Rote Terror“ in Finnland im Wesentlichen ein Produkt der Propaganda der Weißen.[32] Offiziell gingen 1.500 Tote aufs Konto der Roten, doch die überwiegende Mehrzahl waren Bauern/Bäuerinnen oder kleine LadenbesitzerInnen: In den ländlichen Gebieten bedeutete der Zusammenbruch jeglicher staatlicher Autorität, dass alte Konflikte in der Bevölkerung nun mit einem Mord beendet werden konnten. In großen Städten dagegen gab es solche Morde kaum.

Es gab Fälle, wo RotgardistInnen ihre Gefangenen umgebracht haben; kurz vor der Niederlage haben abziehende Einheiten der Roten Garden insgesamt bis zu 100 weiße Gefangene getötet. Doch solche Morde waren meist Ergebnis lokaler Zwistigkeiten oder übereifriger Einheiten. Es gibt keinen einzigen Nachweis, dass offizielle Stellen der Regierung, der SDP oder der Roten Garde die Tötung von Gefangenen anordneten oder überhaupt billigten; im Gegenteil meinte die Regierung – die nicht mal über einen Geheimdienst verfügte! – dass ihre „moralische Überlegenheit“ gegenüber der Bourgeoisie über kurz oder lang zum Sieg führen würde! So konnte Sophie Mannerheim, Schwester des Weißen Oberkommandierenden, während des gesamten Krieges ungestört in Helsinki wohnen.

Die „moralische Überlegenheit“ hatte die Rote Seite auf jeden Fall. Der Oberkommandierende der Weißen befahl Ende Februar 1918,[33] vermeintliche Rote AgentInnen hinter den Linien sofort zu erschießen. Auf der anderen Seite soll es Fälle gegeben haben, dass weiße AgentInnen auf Rotem Gebiet, die Informationen an die Weißen weitergaben und Telegraphenleitungen sabotierten, nach einem vorschriftsmäßigen Prozess vor einem Revolutionstribunal für schuldig befunden wurden – und mit einer Geldstrafe davonkamen! Überhaupt müssen die meisten revolutionären Bewegungen Härte erst von ihren konterrevolutionären GegnerInnen lernen. Die finnische Revolution entwickelte diese Härte nicht: „Trotz des BürgerInnenkrieges kamen [die SDP-FührerInnen], die alle prinzipienfeste AtheistInnen waren, dem christlichen Ideal nah, ihre FeindInnen zu lieben – ein Gefühl, das von ihren christlichen GegnerInnen sicherlich nicht erwidert wurde.“[34] Zum Beispiel bat eine christliche Frauenorganisation Mannerheim lediglich darum, dass Rote Gefangene einen Priester sehen dürfen sollten – bevor sie erschossen wurden.

Rote Frauen

Weiße und rote HistorikerInnen sind sich einig, dass viele Frauen in den Reihen der Roten Garde kämpften. Die finnische Wirtschaft, die traditionell auf Familienbauernhöfen basierte, bezog Frauen sehr früh als vollwertige Arbeitskräfte ein. (Auch in der finnischen Sprache gibt es keine männlichen oder weiblichen Wörter – nicht mal „er“ und „sie“!) Die arbeitende Bevölkerung Finnlands war daran gewöhnt, Frauen schuftend auf dem Feld und in der Fabrik zu sehen. Frauen wurden auch selbstverständlich in die Rote Garde aufgenommen. In Tampere zum Beispiel waren etwa ein Drittel der GardistInnen Frauen, während bei den Weißen überhaupt keine Frauen dienten.

Der Verlauf des Krieges

Bis Anfang Februar 1918 hatte sich das Land klar geteilt: die Weißen kontrollierten über drei Viertel des Territoriums, aber nur knapp die Hälfte der Bevölkerung und keine der großen Städte. Die Roten hatten alle Industriezentren, da es aber in Finnland kaum Kriegsindustrie gab, war das kein allzu großer militärischer Vorteil. Ein riesiger Nachteil war allerdings, dass die Roten kaum Agrargebiete hatten, sodass Getreidelieferungen aus Russland notwendig wurden, um eine komplette Hungerkatastrophe zu vermeiden. Die Kampfhandlungen fanden zwischen Februar und April statt, als das ganze Land mit Schnee bedeckt war, sodass große Truppenbewegungen nur über Schiene stattfinden konnten. Vor allem die Roten bauten Panzerzüge (asejuna) und setzten diese mit großem Erfolg ein.

Das Schutzkorps (suojeluskunta – auch mit „Heimatgarde“ oder „Verteidigungsgilde“ zu übersetzen) bestand bei Kriegsausbruch aus kaum bewaffneten und kaum mobilen Bauernmilizen. Doch es verfügte über eine professionelle militärische Führung, die alles auf die Ausbildung einer Armee setzte. Die Kommandierenden der Weißen, wie Mannerheim selbst, waren Berufssoldaten mit jahrelanger Erfahrung in der russischen oder der schwedischen Armee. Das aus Deutschland zurückkehrende Jägerbataillon gab den Weißen zweitausend finnische Soldaten mit einer Unteroffiziersausbildung und auch begrenzter Kriegserfahrung.

Die Rote Garde dagegen litt unter einer permanenten Führungsschwäche. Ein einziger Kommandierender im Roten Generalstab, Ali Aaltonen, verfügte über eine Offiziersausbildung, und auch das nur als Leutnant. Die Probleme waren unübersehbar: Während die SDP immer die Prohibition von Alkohol gefordert hatte, waren zentrale Kommandierende der Roten Garde wie Aaltonen oder Eero Haapalainen (ein früherer Vorsitzender des Gewerkschaftsdachverbandes) immer wieder bei offiziellen Funktionen betrunken oder verschwanden tagelang. An der Basis sah es kaum besser aus: Da es seit 1901 keinen Militärdienst für BürgerInnen Finnlands gegeben hatte, waren die wenigsten RotgardistInnen an militärische Disziplin gewöhnt. Sie gingen morgens zur Front und abends wieder nach Hause, wie sie es aus ihrem Fabrikalltag kannten, und folgten nur Befehlen, die sie selbst nachvollziehen konnten. Das basisdemokratische Procedere in der Roten Garde schwächte ihre Kampfkraft, denn Einheiten berieten oft mehrere Tage, ob sie dringende Befehle vom Generalstab umsetzen sollten oder nicht.

Die russischen Truppen nahmen – entgegen der Weißen Geschichtsschreibung – nur sporadisch am BürgerInnenkrieg teil. Selbst in Orten wie Viipuri, wo russische Einheiten mit der Roten Garde zusammen kämpften, waren die nationalistischen Vorurteile oft stärker als der Internationalismus. Für viele FinnInnen waren die RussInnen der „Traditionsfeind“ (perivihollinen) und die historischen UnterdrückerInnen, dazu Angehörige einer minderwertigen Rasse; für viele RussInnen waren die FinnInnen nur ignorante Bauern/BäuerInnen, deren Revolution ziemlich belanglos war. Diese wechselseitigen Vorurteile machten auch vor den Angehörigen der ArbeiterInnenparteien nicht halt. Selbst an der Front kam es immer wieder zu Reibereien.

Nach dem 3. März 1918 war durch den Vertrag von Brest-Litowsk zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland eine russische Intervention in Finnland verboten. Die GegnerInnen des Vertrags in der bolschewistischen Partei warfen Lenin vor, die Revolutionen in der Ukraine und in Finnland im Stich zu lassen. Doch Lenin konnte eine Mehrheit für seine Position gewinnen, dass Sowjetrussland um jeden Preis eine Atempause vom Krieg brauchte, was wohl eine realistische Einschätzung war. Außerdem könnte der Vertrag ja immer noch gebrochen werden – „Wir haben ihn schon 30-40 Mal gebrochen“, meinte Lenin in Bezug auf die Tatsache, dass sie trotz der Vertragsbedingungen die finnische Revolution unterstützt haben[35] – was im Umgang mit den imperialistischen Mächten durchaus legitim war.

Die Sowjetführung versprach immer wieder militärische Hilfe, doch wurde diese nur in bescheidenem Ausmaß realisiert. Dennoch kamen immer wieder Hilfslieferungen: Sie schickte zum Beispiel den bereits erwähnten Zug voller Gewehre für die Rote Garde. Die russische Garnison, die bei einer Vollbesetzung 40.000 SoldatInnen gezählt hätte, war noch in Finnland stationiert, doch sie löste sich wie die restliche zaristische Armee zügig auf. Politisch verlässliche Einheiten wurden von der Sowjetregierung nach Petrograd abkommandiert, und die verbliebenen SoldatInnen waren nach den Jahren des Weltkriegs schwer demoralisiert: Zu Tausenden gingen sie nach Hause bzw. kamen nicht vom Diensturlaub zurück. Lediglich die russischen Soldaten, die sich freiwillig dafür meldeten, kämpften auf Seiten der finnischen Roten Garde, und davon gab es nicht mehr als 1.000.[36] Auch wenn alle russische Einheiten mitgezählt werden, die auch nur einige Tage auf dem Landstreifen zwischen Viipuri und Petrograd, also nahe der russischen Grenze, eingesetzt wurden, steigt diese Zahl nicht über 3.000 bis 4.000.[37]

Die Truppen Mannerheims konnten die bedeutende Industriestadt Tampere („das finnische Manchester“) Ende März 1918 einkreisen. Die Stadt verfügte über keine Befestigung, und obwohl tausende RotgardistInnen in Tampere waren, waren die meisten nach den Niederlagen im Umland in Panik geraten. So gab es keine zentral organisierte Verteidigung. Dennoch wehrten sich die ArbeiterInnen tapfer: Beim Eindringen der Weißen in die Stadt gab es tagelangen, grimmigen Widerstand: Die Weißen mussten von Haus zu Haus kämpfen und machten die meisten Gebäude dem Erdboden gleich. Der Rote Kommandierende, ein Arbeiter aus einem Sägewerk namens Hugo Salmela, verfügte über militärisches Talent und hohes Ansehen, doch er starb bei einem Unfall kurz vor der Schlacht. Tampere fiel am 6. April. Die „BefreierInnen“ Tamperes hinterließen fast nur Ruinen. Die Weißen ermordeten noch am gleichen Tag bis zu 200 Menschen: nicht nur Rote „AgitatorInnen“, sondern auch alle RussInnen, die sie finden konnten (einschließlich russischer SympathisantInnen der Weißen).

Die „aktivistischen“ Teile der Bourgeoisie hatten schon seit dem Ausbruch des Weltkrieges das Deutsche Reich um eine Intervention gegen Russland und die „Anarchie“ gebeten. Am 3. April 1918 war ein deutsches Expeditionskorps unter General Rüdiger von der Goltz bei Hanko, westlich von Helsinki, gelandet. Fast 12.000 deutsche Soldaten marschierten auf die finnische Hauptstadt zu, und die Rote Garde war angesichts der militärischen Überlegenheit des Gegners völlig demoralisiert. Als die deutschen Truppen am 12. April in Helsinki einmarschierten, gab es lediglich in einigen ArbeiterInnenbezirken Widerstand. Schon am 6. April hatte der Deputiertenrat die Flucht von Helsinki nach Viipuri beschlossen. Jetzt war das Rote Finnland ständig im Rückzug. Bereits Mitte April begann die Führung mit der Planung für ihre Flucht nach Russland – obwohl sie der Bevölkerung noch erzählte, dass ein militärischer Sieg oder gar eine Verhandlungslösung (!) möglich sei. Am 30. April eroberten die Weißen nach tagelangen Kämpfen die letzte Rote Stadt, Viipuri, und sie begingen in den folgenden Tagen wieder Massaker an Hunderten RotgardistInnen und RussInnen. Ein Weißer erinnerte sich später, wie die Gefangenenzüge „eine traurige 1.Mai-Demonstration“ darstellten. Mannerheim konnte seine Siegesparade in Viipuri am internationalen ArbeiterInnenkampftag abhalten.

Die Weißen Massaker hatten mit dem Kriegsende gerade erst begonnen. Im Laufe des Jahres wurden 67.000 Rote wegen Landesverrates und Aufruhr verurteilt und eingesperrt. 265 Menschen wurden nach einem Todesurteil hingerichtet – aber bis zu 8.500 fielen dem Weißen Terror unmittelbar zum Opfer. Den Überlebenden ging es nicht viel besser, denn die Weiße Regierung verfügte über keine Infrastruktur, um zehntausende Gefangene festzuhalten, geschweige denn zu versorgen. Die Regierung errichtete Konzentrationslager,[38] aber vor dem Hintergrund der Hungerkrise im ganzen Land überließ sie die Gefangenen ihrem Schicksal. In den nächsten vier Monaten starben rund 12.000 Gefangene an den Folgen von Hunger und Krankheiten.

Interpretationen des BürgerInnenkrieges

Um etwas über das Geschichtsbewusstsein eines Landes herauszufinden, ist es oft ein guter Weg, Kinder zu befragen, die wiedergeben, was sie in der Schule gelernt haben. Ein dem Autor bekannter achtjähriger Schüler wurde gefragt, wer im finnischen BürgerInnenkrieg gekämpft hat. Er wusste, dass der Krieg zwischen Weißen und Roten ausgetragen wurde. Und wer waren die Weißen? „Die Finnen.“ Und wenn die Weißen die Finnen waren, wer waren denn die Roten? „Die Russen.“

Tatsächlich gehörte zum offiziellen Selbstverständnis des „Weißen Finnlands“, dass im Jahr 1918 ein Befreiungskrieg (Vapaussota) gegen Russland stattfand. Deutschsprachige LeserInnen können diese These z.B. in der „Politischen Geschichte Finnlands“ vom Helsinkier Professor Lauri Adolf Puntila nachlesen, die zuletzt im Jahr 1980 gedruckt wurde. Er beschreibt einen Konflikt zwischen einer „legitimen Regierung“ und „Aufständischen“, die die seit fast hundert Jahren angestrebte Lostrennung von Russland verhindern wollten. Der Professor kann bei den Roten keine anderen Motive erkennen als die manische Ablehnung der Unabhängigkeit, was die sonst friedlichen Weißen zur Gewaltanwendung gezwungen habe: „Der Wille [der Nation] zur Selbstständigkeit war nicht so stark, dass die Unabhängigkeit allein mit rechtlichen Mitteln erreichbar war.“[39]

Diese These ist schwer mit den Fakten vereinbar. Das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets in Petrograd ratifizierte die Anerkennung der Unabhängigkeit Finnlands am 4. Januar 1918, ganze vier Wochen vor dem Ausbruch des „Befreiungskrieges“. Obwohl nur ein Bruchteil der KämpferInnen auf der Roten Seite RussInnen waren, ist bei Weißen HistorikerInnen von einem „russischen Wolf in finnischem Schafspelz“ die Rede. Aber auch andere Fakten passen nicht so richtig ins Bild. Puntila prangert den „Roten Terror“ an, der für die Eskalation der Gewalt verantwortlich gewesen sei. Aber laut seinen eigenen Zahlen waren im Laufe des Krieges die Roten für 1.500, die Weißen für 8.500 Tote verantwortlich.[40] Während des Generalstreiks im November 1917 wurden 34 Tote gezählt, wovon 27 auf das Konto von RotgardistInnen gegangen sein sollen. Doch in den Konzentrationslagern, die die Weißen nach dem Krieg errichteten, starben – selbst nach Puntilas Angaben – binnen eines halben Jahres fast 10.000 wirkliche oder vermeintliche Rote.

Die Veröffentlichung der Romantrilogie „Unter dem Nordstern“ (Täällä Pohjantähden alla) des finnischen Nationalautors Väinö Linna Anfang der 1960er Jahre trug durch eine literarische Aufarbeitung zum Durchbrechen dieses Geschichtsbilds bei. Linnas Mikrogeschichte stellt Finnlands Werdegang zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1950er Jahren anhand eines kleinen fiktiven Dorfes dar. Der Junge aus der zweiten Generation der ProtagonistInnenfamilie, Akseli Koskela, kämpft als Kommandeur der Roten Garde und wird in einem Konzentrationslager inhaftiert, was zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit einen Einblick in die Motive der Roten gab.

In der Zeit danach setzte sich allmählich der Begriff des BürgerInnenkrieges oder des Nationalkrieges (Kansalaissota) durch. In jüngerer Zeit ist auch vom internen Krieg (Sisällissota) oder Krieg von 1918 die Rede, um den vorwiegend finnischen Charakter des Krieges zu betonen.[41] Doch auch diese moderne Interpretation mit zwei finnischen Kriegsparteien, die jeweils von ausländischen Mächten unterstützt wurden,[42] wird den Tatsachen nicht gerecht. 12.000 reguläre deutsche Truppen unterstützten die Weißen, und diese deutschen Einheiten eroberten am 12. April 1918 Helsinki. Während die „BefreierInnen“ Finnlands sich nur mit deutscher Hilfe durchsetzen konnten, baten die „verräterischen“ SozialdemokratInnen immer wieder um den Abzug der russischen Truppen, weil ihr wichtigstes politisches Ziel tatsächlich in der vollständigen Unabhängigkeit Finnlands bestand. Um die deutsche Hilfe zu bekommen, unterzeichneten VertreterInnen der Weißen Regierung umfangreiche Verträge in Berlin, die Deutschland nach dem Krieg die militärische und wirtschaftliche Kontrolle über Finnland gegeben hätte (z.B. hätte Deutschland alle Exporte und Importe kontrolliert und auf dem gesamten finnischen Territorium Militärbasen errichten können).[43] Am Ende beschloss das Rumpfparlament (die bürgerlichen Abgeordneten unter Ausschluss der SozialdemokratInnen), einem neuen finnischen König, dem deutschen Prinzen Friedrich Karl von Hessen, die Macht des Zaren zu übertragen. Nur der Zusammenbruch des Deutschen Reiches und die Ablehnung des Prinzen zwangen die Weißen dazu, erst einen vorübergehenden Regenten zu wählen und dann eine Republik zu etablieren.[44]

Erklärungen für die Niederlage

Die Machtergreifung der Sozialdemokratie in Südfinnland verlief fast ohne Widerstand. Das wirft die Frage auf, warum die finnischen SozialdemokratInnen nicht in der Lage waren, die Macht für mehr als ein paar Monate zu halten. Hierfür gibt es verschiedene Erklärungen:

Die finnische Gesellschaft entwickelte sich ohne härtere offene Klassenauseinandersetzungen zwischen 1809 und 1917. Die Petition für finnische Autonomie und selbst der „Große Streik“ von 1905 wurden von bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräften gemeinsam organisiert – es gab zwar Spannungen zwischen den beiden Seiten (die ArbeiterInnenvertreterInnen bemängelten, nicht genug in die Organisierung dieser Aktionen eingebunden zu sein), aber grundsätzlich waren es klassenübergreifende Aktionen. So war die auf die Erlangung der finnischen Unabhängigkeit ausgerichtete sozialdemokratische Strategie trotz des „Klassenkrieg“-Dogmas auch durch Zusammenarbeit mit der „patriotischen“ Bourgeoisie geprägt. Die SDP war also trotz der Abschottung der ArbeiterInnenbewegung von der Bourgeoisie in erster Linie „finnisch“ und in zweiter Linie sozialistisch: vor allem nach 1906 hatte sie viele bürgerliche Intellektuelle in ihre Führung aufgenommen, die in der SDP die konsequenteste Verfechterin der Unabhängigkeit sahen. Weiterhin waren die finnischen SozialdemokratInnen daran gewöhnt, dass der Unterdrückungsapparat, dem sie gegenüberstanden, aus RussInnen oder schwedischsprachigen FinnInnen bestand. Ihre Propaganda prangerte an, dass „finnische ArbeiterInnen im eigenen Land von fremden Truppen angegriffen“ wurden. Ein finnischer Repressionsapparat war für sie theoretisch vorstellbar, aber dennoch gewöhnungsbedürftig.

Die Partei hatte seit ihrer Gründung 1899 immer wieder Debatten erlebt, aber kaum die Bildung von harten Fraktionen oder zumindest klar definierten Flügeln wie etwa in der deutschen oder der russischen Sozialdemokratie zur gleichen Zeit. Das „Klassenkrieg“-Dogma reichte, um die rechtesten SozialdemokratInnen von einer Regierungsbeteiligung abzuhalten (zumindest bis 1917, als die gesamte Partei diesen Schritt eher halbherzig ging) und auch die Nicht-Beteiligung Finnlands am Weltkrieg verhinderte eine Zuspitzung der politischen Differenzen in der Partei. So war für alle Strömungen – angefangen von den gemäßigtesten bis zu den radikalen – ein innerparteilicher Bruch nicht nur mit allen Mitteln zu vermeiden, sondern sogar jenseits aller politischen Überlegungen. Die radikaleren Kräfte, nachdem sie die Abstimmung über die Machtergreifung im November 1917 gewonnen hatten, bliesen ihre Pläne wieder ab, weil die reformistische Minderheit nicht mitzog. Aber auch die ReformistInnen gingen bei der Machtergreifung und der Bildung der Roten Regierung, die sie vehement ablehnten, enttäuscht und zögernd, aber letztlich doch mit. (Erst nach dem Krieg kam es mit der Gründung der Kommunistischen Partei Finnlands im Jahr 1918 in Moskau zu organisatorisch-politischen Differenzierungen innerhalb der finnischen ArbeiterInnenbewegung.)

Während der Revolution fehlte eine organisierte Opposition zur SDP- und SAJ-Führung. Auf Massenkundgebungen, in ArbeiterInnenkomitees, bei den Partei- und Gewerkschaftskongressen und vor allem in den Roten Garden hagelte es Kritik an der Führung, die aus ReformistInnen und schwankenden Elementen bestand. Und obwohl es auch immer wieder Zurufe gab, dass mensch sich eine „neue Führung“ aussuchen würde, gab es kaum Versuche, eine alternative Führung zur SDP zu bilden. Die Rote Garde vereinigte die entschlossensten Elemente aus der Partei und den Gewerkschaften, und vielleicht auch gerade weil sie nicht über annähernd genug Waffen für ihre Mitglieder verfügte, entwickelte sie ein eigenes politisches Profil. Die Rote Garde wurde zu einer Organisation, die – trotz ihres primär militärischen Ansatzes – nicht nur der Kontrolle der Parteiführung über lange Zeit entzogen war, sondern auch als potenzielle Alternative auf politischer Ebene erscheinen konnte. Die RotgardistInnen beschränkten immer wieder den Zugriff der Partei auf ihre Strukturen: Der Stab jeder Roten Einheit sollte zu drei Fünfteln aus ernannten ParteivertreterInnen bestehen, doch dort, wo die Rote Garde stark war, wie in Helsinki oder Tampere, wurden diese Stäbe durch eigenständig in den Truppen gewählte Komitees ersetzt. Da die RotgardistInnen der Konfrontation mit den bürgerlichen Kräften viel stärker ausgesetzt waren, radikalisierten sie sich und akzeptierten die Unversöhnlichkeit von bürgerlichen und proletarischen Interessen. Doch letztlich war die Rote Garde aufgrund ihres Charakters als paramilitärische Organisation nur in Ansätzen in der Lage, eine revolutionäre Strategie für die gesamte ArbeiterInnenbewegung zu entwerfen – ihre Lösungen waren immer radikal, aber blieben auch immer auf militärische Aspekte konzentriert.

Die Räte, die in Finnland entstanden, waren kaum geeignet, um der sich entwickelnden (und sich radikalisierenden) Stimmung in der ArbeiterInnenklasse Ausdruck zu verleihen. Die Räte, die während des Generalstreiks im November 1917 überall im Land entstanden, um das Machtvakuum zu füllen, waren nicht viel mehr als Streikkomitees, die sich nach dem Abbruch des Streiks selbst wieder auflösten. Die meisten Räte, die länger existierten, wie der Helsinkier ArbeiterInnenrat, waren Zusammenschlüsse aus den bestehenden Führungen der verschiedenen ArbeiterInnenorganisationen. So bestand der Zentrale Revolutionsrat, der den Generalstreik im November 1917 organisierte, lediglich aus den Vorständen von SDP und SAJ plus drei VertreterInnen der SDP-Parlamentsfraktion. Dieser Rat konnte sich sogar selbst umbilden und unterstand höchstens der Kontrolle des SDP-Parteitages. Und der „Oberste Rat der ArbeiterInnen“, das höchste Organ der Macht im Roten Finnland, setzte sich aus 40 Delegierten zusammen: 15 der SDP, 10 des Gewerkschaftsverbandes SAJ, 10 der Roten Garde und 5 des Helsinkier ArbeiterInnenrates. Selbst der aus der Machtergreifung hervorgegangene Volksdeputiertenrat war im Wesentlichen eine Verlängerung des sozialdemokratischen Parteivorstandes. Ein Rätekongress, der in Russland die Grundlage der ArbeiterInnenregierung bildete, wurde in Finnland nicht abgehalten und war auch nicht vorgesehen. So waren die traditionellen sozialdemokratischen FührerInnen von Partei und Gewerkschaften während der gesamten Revolution einigermaßen fest im Sattel, ohne dass sie sich rätedemokratischen Entscheidungen hätten beugen müssen.

Revolutionäre Organisation?

Die oppositionelle Stimmung in den Reihen der Roten Garde konkretisierte sich so auch nicht zu einer organisierten Opposition. Aber auch Lenin und die Bolschewiki scheinen sich nur am Rande für die finnische Revolution, besonders für die Herausbildung einer revolutionären Opposition in Finnland, interessiert zu haben. Lenin verbrachte die Zeit zwischen Juli und Oktober 1917 in Helsinki und Viipuri (in den Jahren davor hat er sich mehr als ein Dutzend Male in Finnland aufgehalten), teilweise in der Wohnung eines führenden finnischen Sozialdemokraten. Dennoch kannte er die Situation innerhalb der SDP kaum. So adressierte er einen Brief an mehrere FinnInnen mit den Worten: „Ihr seid an der Spitze des revolutionären Flügels der Finnischen Sozialdemokratischen ArbeiterInnenpartei und führt einen Kampf für die Sache der proletarischen sozialistischen Revolution“. Aber keiner seiner Adressaten war für eine Revolution, wie sie in Russland gerade stattgefunden hatte, und einige unter ihnen, z.B. Karl Wiik, gehörten zu den rechten Mitgliedern der Parteiführung, die die Machtergreifung kategorisch ablehnten. Lenin mag während seiner Zeit in Finnland mit den Vorbereitungen des Aufstandes oder der Fertigstellung von „Staat und Revolution“ beschäftigt gewesen sein, aber auf jeden Fall scheint er die Gelegenheit nicht für eine systematische Intervention in die SDP genutzt zu haben.

Von den Bolschewiki gab es immer wieder Appelle an die finnischen ArbeiterInnen, um eine Revolution durchzuführen – der Volkskommissar für Nationalitäten, Stalin, sprach in diesem Sinne vor dem SDP-Parteitag kurz vor dem Generalstreik im November 1917 – aber kaum konkrete Arbeit, um ein politisches Instrument in diesem Sinne zu schaffen. Mehrere Bolschewiki waren in der finnischen Revolution an führender Stelle aktiv (vor allem finnische ArbeiterInnen, die sich in Petrograd den Bolschewiki angeschlossen hatten), aber diese agierten weitgehend autonom und ohne Anweisungen vom Zentralkomitee. Zu den Bolschewiki, die 1917 in Finnland agierten, gehörten u.a.:

Wladimir Antonow-Owssejenko ging kurz nach der Februarrevolution nach Finnland, um die bolschewistische Organisation dort aufzubauen, aber seine Arbeit war ausschließlich auf die russische Garnison in Finnland ausgerichtet, die bis Oktober 1917 vollständig für die Bolschewiki gewonnen werden konnte.[45]

Jukka Rahja war ein finnischer Bolschewik, der als Verbindungsmann zwischen den Bolschewiki und der SDP agierte. Er hatte, zusammen mit Alexandra Kollontai, auf dem SDP-Parteitag im Juni 1917 für den Anschluss an die Zimmerwald-Internationale plädiert, und berichtete im Anschluss nach Petrograd weiter, dass die Partei sich fest in den Händen von RevisionistInnen befinde.[46] Er war es auch, der die erste große Waffenlieferung der Sowjetregierung für die Rote Garde organisierte. Sein Bruder Eino Rahja, ebenfalls Bolschewik, gehörte zur Führung der Roten Garde und war eine Zeitlang de facto Oberkommandierender.

Adolf Taimi war ein finnisch-russischer Bolschewik, der vor allem in der Roten Garde aktiv war. Er wurde zum Sprecher des radikalen Flügels, der vor allem in Helsinki tonangebend war und eine größere Selbständigkeit der Roten Garde von der Partei verfocht. Sein Kalkül bestand darin, dass die radikale Minderheit der Garde (etwa 500 KämpferInnen in Helsinki) mit konfrontativen Aktionen wie der Besetzung des Regierungsgebäudes die Parteiführung zwingen würde, sich einer Konfrontation mit der Bourgeoisie zu stellen und die Macht zu ergreifen. Es gibt keinerlei Hinweise, dass er für diese Arbeit Anweisungen aus Petrograd bekam.

Die Bolschewiki respektierten in der Anfangszeit im Allgemeinen den alten Grundsatz der Zweiten Internationale, wonach jede Partei für die Führung des Klassenkampfes in ihrem eigenen Land allein zuständig sei: sie konnten die SDP auffordern, die Macht zu ergreifen, aber wenn diese nein sagte oder zögerte, konnten sie nur die Entscheidung kritisieren. Erst nach dem Krieg, mit der Gründung der Kommunistischen Internationale im Jahr 1919, begannen die Bolschewiki mit dem Aufbau einer internationalen revolutionären Partei, die auch die Möglichkeit einschloss, die Scheidung zwischen ReformistInnen und RevolutionärInnen in anderen Ländern zu fördern. Im August 1918 kam es dann in Moskau zur Gründung der Kommunistischen Partei Finnlands (Suomen Kommunistinen Puolue, SKP).

Die politischen Lehren

Der finnische BürgerInnenkrieg stellte immer wieder die Frage der Diktatur des Proletariats. Im vermeintlich „orthodoxen“ Marxismus der Zweiten Internationale und auch der SDP war der Gedanke fest verankert, dass der Sozialismus auf dem Weg der „Demokratie“, also der Erweiterung der parlamentarisch-demokratischen Rechte, zu erreichen sei. Dabei hatte Marx selbst immer wieder betont, dass eine sozialistische Gesellschaft nur über die „revolutionäre Diktatur des Proletariats“ entstehen könnte, d.h. eine ArbeiterInnenregierung, die sich nur auf die ArbeiterInnenklasse und ihre Organe stützt, und alle Gesetzte, Verfassungen und Institutionen der kapitalistischen Ordnung über Bord wirft.

Dagegen predigte die finnische Sozialdemokratie nur eine „demokratische Revolution“. Dies war ein ernsthafter Versuch, die Theorie der „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen“, die Lenin vor dem ersten Weltkrieg verteidigt hatte, in die Praxis umzusetzen. Diese Theorie besagte, die schwache und feige Bourgeoisie in einem unterentwickelten Land (wie Russland oder Finnland) zwinge die ArbeiterInnenklasse dazu, die Macht zu übernehmen, um die bürgerliche Revolution durchzuführen. Dabei müsse sich die ArbeiterInnenregierung auf bürgerliche Reformen beschränken, da das Land in der „bürgerlichen Etappe“ und deswegen für eine sozialistische Revolution „unreif“ sei.[47]

Der finnische Versuch zeigte die Widersprüche dieser Theorie in aller Deutlichkeit. Die finnische Bourgeoisie hatte tatsächlich zu viel Angst vor dem Proletariat, um die Aufgaben einer bürgerlichen Revolution konsequent durchzuführen. Doch die ArbeiterInnenregierung, die an ihrer Stelle versuchte, ein modernes, bürgerlich-demokratisches (und damit auch kapitalistisches) Land zu schaffen, wurde von der Bourgeoisie nicht akzeptiert, die mit Aussperrungen, wirtschaftlicher Sabotage, Repression und schließlich auch mit dem BürgerInnenkrieg versuchte, diese „demokratische Revolution“ zu stoppen (weshalb auch etwa die reformistischen Machteroberungskonzeptionen etwa der „AustromarxistInnen“ im Österreich der Zwischenkriegszeit Illusionen bleiben mussten). Die Rote Regierung hätte energische Maßnahmen wie die Verstaatlichung der Banken und die ArbeiterInnenkontrolle in der Industrie umsetzen müssen, um ihre Revolution zu schützen – aber solche Maßnahmen gingen weit über ihr demokratisches Programm hinaus. Solche Maßnahmen hätten bedeutet, dass die Revolution direkt von einer bürgerlichen in eine sozialistische Etappe übergegangen wäre – genauer gesagt hätte es solche getrennten Etappen nicht gegeben. Es wäre eine proletarische Diktatur gewesen – nicht im Sinne der unkontrollierbaren Befehlsgewalt eines Mannes, sondern im Sinne der uneingeschränkten Herrschaft einer Klasse.

Die Idee einer längeren bürgerlichen „Etappe“, die ein unterentwickeltes Land durchlaufen müsste, bevor eine sozialistische Revolution in Frage käme, hatte Lenin bereits mit seinen April-Thesen von 1917[48] verworfen, in denen er die proletarische Revolution als unmittelbares Ziel für Russland definierte. Die finnischen SozialdemokratInnen haben diesen Wandel kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn verstanden. Für sie war eine Diktatur des Proletariats in Finnland eine Frage der fernen Zukunft, frühestens nach sozialistischen Revolutionen in den fortgeschrittenen Industrieländern Europas. Doch durch den Verlauf des BürgerInnenkrieges waren sie gezwungen, weiter zu gehen, als in ihrem theoretischen Instrumentarium vorgesehen: Einzelne KapitalistInnen wurden enteignet und schließlich im April 1918, als nur noch die Stadt Viipuri unter Roter Kontrolle stand, Kullervo Manner zum „Diktator“ ernannt, um ihre letzten, verzweifelten Kriegsanstrengungen zu zentralisieren. So sahen schließlich viele SozialdemokratInnen, die Gewaltanwendung auch während des BürgerInnenkrieges abgelehnt hatten, erst durch die Dynamik der Kämpfe die Notwendigkeit einer proletarischen Diktatur ein.

Für diesen radikalen Bruch mit der vermeintlich „marxistischen“ Orthodoxie der Zweiten Internationale hatte schon 13 Jahre früher Leo Trotzki mit seiner Theorie der permanenten Revolution die Begründung geliefert. In den unterentwickelten Ländern ist weder die Bourgeoisie noch eine bürgerliche ArbeiterInnenregierung in der Lage, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu vollenden. Die ArbeiterInnenklasse muss die Macht übernehmen, um die bürgerliche Revolution zu Ende zu führen. Sie wird bei diesen Aufgaben jedoch nicht stehen bleiben können, sondern mit der Dynamik der Klassenkämpfe immer mehr Elemente ihres eigenen Programms umsetzen müssen. In diesem Sinne wird die bürgerliche Revolution direkt zu einer Diktatur des Proletariats (gestützt auf die Bauernschaft) geführt werden.[49]

Die Niederlage der SDP war letztlich, so absurd das auf den ersten Blick auch klingen mag, vorrangig theoretischen Problemen geschuldet. Militärisch wäre die Situation durchaus gewinnbar gewesen, denn die organisierte proletarische Bewegung hatte alle Industriezentren ohne Schwierigkeiten übernommen und etwa 100.000 ArbeiterInnen militärisch mobilisiert. Den Weißen waren sie zahlenmäßig überlegen und waffentechnisch ihnen zumindest ebenbürtig – die ernsthaften Probleme der fehlenden militärischen Kader hätten durch eine entschlossene Führung gelöst werden können. Ihre Theorie jedoch, dass Finnland nur für eine „demokratische Etappe“ reif sei, hielt sie von den Maßnahmen zurück, die für die Zerschlagung der Konterrevolution notwendig gewesen wären: unter anderem die ArbeiterInnenkontrolle in der Industrie, die Unterdrückung der bürgerlichen Konterrevolution und die sofortige, selbstorganisierte Verteilung des Landes unter den PächterInnen und dem landlosen Agrarproletariat. Die Radikalen in ihren Reihen konnten diese Zurückhaltung endlos anprangern (die Bourgeois aßen in Restaurants in Helsinki, während RotgardistInnen an der Front verhungerten!), aber letztendlich konnten sie dem Konzept der Führung nichts entgegenstellen. Und auch die finnischen Bolschewiki predigten einen sterilen „Revolutionismus“, ohne erklären zu können, wie im Agrarland Finnland der Sozialismus aufgebaut werden sollte.

Dabei lag die bolschewistische Strategie wörtlich vor ihren Augen, nur wenige Kilometer hinter der Grenze: die Machtübernahme der ArbeiterInnen in Russland war ein Glied in der Kette der Weltrevolution und sollte die Revolution in den Industrieländern vorantreiben. Die Etappentheorie, die für die finnischen SozialdemokratInnen entscheidend war (und die genauso von den Menschewiki wie später von der stalinisierten Kommunistischen Internationale vertreten wurde), führt Revolutionen in unterentwickelten Ländern immer wieder in die Sackgasse: sie beschränkten sich selbst auf bürgerliche Reformen, verspielten damit die Begeisterung ihrer Basis und brachen schließlich zusammen. Auch die finnische Revolution liefert einen negativen Beweis – mit dem Preis des Todes von über 20.000 finnischen ArbeiterInnen – für die zentrale Bedeutung der Theorie der permanenten Revolution im Zeitalter des Imperialismus.

Die Geschichte der finnischen Revolution kann unendlich deprimierend wirken. Doch Lenin soll den geflohenen finnischen SozialdemokratInnen bei ihrer Ankunft in Petrograd gesagt haben: „Ihr dürft keineswegs euer Selbstvertrauen verlieren oder euch deprimieren lassen. Wir müssen die Sache bei nächster Gelegenheit besser vorbereiten und kontrollieren.“ [50]

Heute ist Finnland ein Industrieland und ein fester Teil der Europäischen Union. Eine sozialistische Revolution wird heute ganz andere Fragen aufwerfen als vor 90 Jahren. Dennoch gilt es, aus der finnischen Revolution wichtige Lehren für RevolutionärInnen von heute zu ziehen, damit wir die Sache bei nächster Gelegenheit besser machen.

Quellen und Literatur:[51]

Bücher:

John Hodgson: Communism in Finland. A History and Interpretation.
Princeton 1967.

Osmo Jussila, Seppo Hentilä, Jukka Nevakivi: From Grand Duchy to a Modern State. A Political History of Finland since 1809. Carbondale 2000.

David Kirby: A Concise History of Finland. Cambridge 2006.

Otto Wilhelm Kuusinen: Die Revolution in Finnland. Eine Selbstkritik. Wien 1920.

Väinö Linna: Under the North Star. Beaverton 2001.

ebd.: The Uprising. Under the North Star 2. Beaverton 2002.

L.A. Puntila: Politische Geschichte Finnlands 1809-1971. Helsinki 1980.

Victor Serge: Year One of the Russian Revolution. Chicago 1972.
http://www.marxists.org/archive/serge/1930/year-one/index.htm.

Fred Singleton: A Short History of Finland. Cambridge 1998.

Anthony Upton: The Finnish Revolution 1917-1918. Minneapolis 1980.

Artikel und Sonstiges

W.I. Lenin: Finnland und Russland. Prawda. Nr. 46. 15. Mai 1917. LW 24. S. 329-332.

Josef Stalin: Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Finnlands in Helsingfors. 14. November 1917. SW 4. S. 1ff.

ebd.: Über die Unabhängigkeit Finnlands. Referat in der Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees. 22. Dezember 1917. Zeitungsbericht. SW 4. S. 9ff.

http://en.wikipedia.org/wiki/Carl_Gustav_Emil_Mannerheim

http://en.wikipedia.org/wiki/Otto_Wille_Kuusinen

Die ständigen Ausstellungen im Lenin-Museum in Tampere.

Landkarte

http://en.wikipedia.org/wiki/File:FinnishCivilWarMapBegin.svg (überarbeitet)

Fußnoten

[1]. “The Union of Soviet Socialist Republics won but the small and gutsy Finland finished a good second.” Väinö Linna: The Unknown Solider. 1957.

[2]. Der Autor muss sich bei zwei Menschen bedanken: bei Anki, die sein Interesse für Finnlands Geschichte weckte und Übersetzungen bereitstellte, und bei Joonas, der alle möglichen Fragen über den BürgerInnenkrieg beantwortete.

[3]. Danke auch an Minna, die den Titel übersetzte.

[4]. David Kirby: A Concise History of Finland. Cambridge 2006. S. 147.

[5]. Fred Singleton: A Short History of Finland. Cambridge 1998. S. 104.

[6]. Die Bourgeoisie „redet von ihren eigenen Angelegenheiten als wären sie die Angelegenheiten von Finnland. (…) Unser nationaler Wohlstand kann die Arbeitszeitverkürzung nicht erlauben. Egal, was sie wollen, ist es immer im Interesse des Landes, im Interesse des Volkes, es ist doch unsere Gesellschaft. Da haben sie Recht. Es ist ihre Gesellschaft und ihr Finnland. (…) Manchmal kann ich kaum atmen, so sehr hasse ich sie!“ – Akseli Koskela, in: Väino Linna: The Uprising. Under the North Star 2. S.7.

[7]. John Hodgson: Communism in Finland. A History and Interpretation. Princeton 1967. S. viii.

[8]. W.I. Lenin: Finnland und Russland. Prawda. Nr. 46. 15. (2.) Mai 1917. LW 24. S. 329-332. Siehe Anhang.

[9]. Vom 5.-8. September 1915 fand eine internationale sozialistische Konferenz im Schweizer Dorf Zimmerwald statt, um die beim Ausbruch des ersten Weltkrieges zerbrochene Sozialistische Internationale wieder aufzubauen. Die Parteien, die das von Leo Trotzki verfasste „Zimmerwalder Manifest“ gegen den Krieg unterzeichneten, galten in der Folgezeit als „Zimmerwalder Bewegung“ oder auch „Zimmerwalder Internationale“. Zwei Jahre später schloss sich die SDP dieser Internationale an, aber eher aus dem pragmatischen Grund, dass sie irgendeiner Internationale angehören wollte.

[10]. Singleton. S. 104.

[11]. Svinhufvud bedeutet auf Schwedisch „Schweinekopf”. Nomen est omen.

[12]. Zit. nach: Anthony Upton: The Finnish Revolution 1917-1918. Minneapolis 1980. S. 130-131.

[13]. Determinismus geht davon aus, dass alles vorherbestimmt ist und festen und unabänderlichen Abläufen folgt.

[14]. Zit. nach: Upton. S. 131.

[15]. Zit. nach: Upton. S. 156.

[16]. Zit. nach: Upton. S. 154.

[17]. Allerdings hatte er sich im Zentralen Revolutionskomitee bei der entscheidenden Abstimmung am 16. November 1917 der Stimme enthalten, weil er um die Einheit der Partei fürchtete.

[18]. Im damaligen Finnisch hieß lahtari einfach „Schlächter“ oder „Metzger“, aber heutzutage ist es ein linker Kampfbegriff für Weiße oder Reaktionäre.

[19]. In Russland galt noch der gregorianische Kalender, nach diesem fand die Revolution am 25./26. Oktober 1917 statt.

[20]. Bis heute gilt der 6. Dezember als finnischer Unabhängigkeitstag.

[21]. Upton. S. 197ff. Wir sollten uns an die Ablehnung diplomatischer Gepflogenheiten durch die frühe Sowjetregierung erinnern, wenn wir zum Beispiel hören, dass der „sozialistische“ Präsident Venezuelas Hugo Chávez „keine andere Wahl“ habe, als den noch von Franco ernannten spanischen König zu umarmen!

[22]. „Ich muss jedoch auf das kategorischste erklären, dass wir keine Demokraten wären (ich spreche schon gar nicht vom Sozialismus!), wenn wir den Völkern Russlands nicht das Recht auf freie Selbstbestimmung zuerkennen würden.“ Josef Stalin: Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Finnlands in Helsingfors. 14. November 1917. SW 4. S. 3. Für heutige LeserInnen könnte es überraschend sein, dass Stalin, dessen Regime später viele Volksgruppen unterwarf, damals noch das bedingungslose Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Völker verteidigte. (Siehe auch Fußnote 26.)

[23]. Zit. nach: Upton. S. 186.

[24]. Zit. nach: Upton. S. 43.

[25]. Zit. nach: Upton. S. 43.

[26]. Zweiteilig.

[27]. Genau genommen unterschied sich Stalins Position doch einigermaßen von der Lenins und Trotzkis. Stalin argumentierte etwa in seinem Artikel „Über die Unabhängigkeit Finnlands“, dass das Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Lostrennung nicht bedingungslos gewährt, sondern die Macht nur an eine finnische ArbeiterInnenregierung übergeben hätte werden sollen. Stalin übte damit eine implizite Kritik an der Praxis des bolschewistischen Selbstbestimmungsrechts. (Stalin: Über die Unabhängigkeit Finnlands. Referat in der Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees. 22. Dezember 1917. Zeitungsbericht. SW 4. S.19ff.)

[28]. Anscheinend ein Lieblingsspruch in der damaligen Sozialdemokratie, übernommen von Danton über Marx: „…il faut de l‘audace, encore de l‘audace, toujours de l‘audace et la France est sauvée.“ Vgl. dazu auch Rosa Luxemburgs Rede vom 27. Mai 1913 über die weltpolitische Lage: „Wir müssen jenen Mut, jene Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung unsrer Aufgaben zeigen, die von den bürgerlichen Revolutionären aufgebracht wurde, die Danton zusammenfasste, als er sagte, in bestimmten Situationen brauche man als Parole nur drei Worte: Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit!“

[29]. Zit. nach: Upton. S. 127ff.

[30]. Es waren ausschließlich Männer.

[31]. Zit. nach: Upton. S. 304.

[32]. Auch der „Rote Terror“ in Russland muss aber in die Situation des Landes eingefügt worden. Zu Beginn gingen die Bolschewiki äußerst nobel mit ihren GegnerInnen um, zaristische Generäle etwa wurden „auf Ehrenwort“ freigelassen. Erst als der weiße Terror drohte, die Revolution zu erdrosseln, antworteten die Bolschewiki mit dem roten Terror. Siehe Anhang von Victor Serge.

[33]. Diese Befehlslage wurde mehrere Wochen später revidiert.

[34]. Upton. S. 303.

[35]. Zit. nach: Upton. S. 414.

[36]. Hodgson. S. 72.

[37]. Upton. S. 121.

[38]. Im Allgemeinen wird die Erfindung des Konzentrationslagers auf die britische Politik im BurInnen-Krieg in Südafrika oder die spanische im kubanischen Unabhängigkeitskrieg zurückgeführt. Von manchen AutorInnen werden aber auch die FinnInnen als dessen ErfinderInnen bezeichnet.

[39]. L.A. Puntila: Politische Geschichte Finnlands 1809-1971. Helsinki 1980. S. 119.

[40]. Puntila. S. 119ff.

[41]. Osmo Jussila, Seppo Hentilä, Jukka Nevakivi: From Grand Duchy to a Modern State. A Political History of Finland since 1809. Carbondale 2000. S. 113ff.

[42]. Singleton. S. 111.

[43]. Kirby. S. 200.

[44]. Singleton. S. 111.

[45]. Antonow-Owssejenko wurde Mitte der 20er Jahre Unterstützer der Linksopposition rund um Leo Trotzki, machte dann aber seinen Frieden mit Stalin und spielte im spanischen BürgerInnenkrieg in den Jahren 1936/37 eine wesentliche Rolle für die StalinistInnen. Während der großen Säuberungen Ende der 30er Jahre wurde er dennoch erschossen.

[46]. Upton. S. 53-54.

[47]. Siehe: Eric Wegner: Marxistische Revolutionstheorie in der Arbeiterbewegung der letzten 150 Jahre. In: Revolutionen nach 1945. Marxismus Nr. 13. Wien 1998.

[48]. Siehe: Wladek Flakin: „Die Aprilthesen“. In: Oktober im November. Berlin 2007. http://www.revolution.de.com/zeitung/zeitung24/aprilthesen.html

[49]. Siehe: Leo Trotzki: Die Permanente Revolution. http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/permrev/index.htm.

[50]. Zit. nach: Upton. S. 517.

[51]. Für Menschen, die der finnischen Sprache nicht mächtig sind, gibt es wenige Informationen zum finnischen BürgerInnenkrieg. Der Autor war – bis auf wenige Ausnahmen, wie z.B. die deutschsprachig vorliegende Korrespondenz zwischen Lenin und Kuusinen – auf englisch- und deutschsprachige Sekundärliteratur angewiesen. Neben allgemeinen Geschichtsbüchern ist vor allem auf das monumentale Werk „The Finnish Revolution“ von Anthony Upton zu verweisen. Obwohl es schon vor 30 Jahren veröffentlicht wurde, bietet es eine bis heute nicht übertroffene Schilderung der Revolution, fast im Tagesverlauf. Die sehr genaue Darstellung der bolschewistischen Positionen und die offene Verachtung der finnischen SozialdemokratInnen („wretched“, „miserable“, „deceitful“) lassen mehr Sympathie für Lenin erkennen als unter AkademikerInnen üblich. Dennoch vertritt Upton die These, dass der BürgerInnenkrieg im Endeffekt ein Unfall war – dass weitsichtigere Führungen in der ArbeiterInnenbewegung und im bürgerlichen Lager eine gewaltsame Auseinandersetzung ganz hätten vermeiden können. Alle Stellen, die sich nicht explizit mit Fußnoten auf andere Werke beziehen, basieren auf dem Werk von Upton.

Anhang:
W.I. Lenin: Finnland und Rußland

Die Frage des Verhältnisses Finnlands zu Rußland ist zu einer brennenden Frage geworden. Die Provisorische Regierung hat es nicht verstanden, das finnische Volk, das einstweilen noch nicht die Lostrennung, sondern lediglich weitgehende Autonomie fordert, zufriedenzustellen.

Die undemokratische, annexionistische Politik der Provisorischen Regierung wurde dieser Tage von der “Rabotschaja Gaseta” formuliert und “verteidigt”. Sie hat das in einer Art und Weise getan, daß sie ihren Schützling gar nicht besser hätte “hereinlegen” können. Diese Frage ist wirklich eine Grundfrage, eine Frage, die für den ganzen Staat von Bedeutung ist, und es ist daher notwendig, mit größter Aufmerksamkeit auf sie einzugehen.

“Das Organisationskomitee ist der Ansicht”, schreibt die “Rabotschaja Gaseta” Nr.42, “daß die Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen Finnland und dem Russischen Staat als Ganzes nur durch ein Übereinkommen zwischen dem Landtag Finnlands und der Konstituierenden Versammlung gelöst werden kann und soll. Bis dahin aber müssen die finnischen Genossen” (das Organisationskomitee hat mit den finnischen Sozialdemokraten eine Besprechung gehabt) “dessen eingedenk sein, daß ein Erstarken der separaten Tendenzen in Finnland die zentralistischen Bestrebungen der russischen Bourgeoisie stärken könnte.”

Das ist der Standpunkt der Kapitalisten, der Bourgeoisie, der Kadetten, aber keinesfalls des Proletariats. Das Programm der Sozialdemokratischen Partei, namentlich seinen § 9, der allen dem Staate angehörenden Nationen das Selbstbestimmungsrecht zuerkennt, haben die menschewistischen Sozialdemokraten über Bord geworfen. Sie haben sich in Wirklichkeit von diesem Programm losgesagt und sind faktisch genauso wie in der Frage der Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung usw. auf die Seite der Bourgeoisie übergetreten.

Die Kapitalisten, die Bourgeoisie, und darunter auch die Partei der Kadetten, haben die politische Selbstbestimmung der Nationen, d.h. ihr Recht auf Lostrennung von Rußland, niemals anerkannt.

Die Sozialdemokratische Partei hat in § 9 ihres im Jahre 1903 angenommenen Programms dieses Recht anerkannt.

Wenn das Organisationskomitee die finnischen Sozialdemokraten auf ein “Übereinkommen” zwischen dem Landtag Finnlands und der Konstituierenden Versammlung “vertröstet”, so heißt das eben, daß es in dieser Frage auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen ist. Um sich davon restlos zu überzeugen, genügt es, sich die Stellung aller HauptkIassen und -parteien deutlich vor Augen zu führen.

Der Zar, die Rechten, die Monarchisten sind nicht für ein Übereinkommen zwischen dem Landtag und der Konstituierenden Versammlung, sondern für die direkte Unterwerfung Finnlands unter die russische Nation. Die republikanische Bourgeoisie ist für ein Übereinkommen zwischen dem Landtag Finnlands und der Konstituierenden Versammlung. Das klassenbewußte Proletariat und die ihrem Programm treu gebliebenen Sozialdemokraten sind für das Recht der Lostrennung Finnlands wie aller anderen nicht vollberechtigten Völkerschaften von Rußland. Das ist das unbestreitbare, klare, präzise Bild der Lage. Unter der Losung eines “Übereinkommens”, die rein gar nichts entscheidet – denn was soll geschehen, wenn ein Übereinkommen nicht zustande kommt? – betreibt die Bourgeoisie dieselbe zaristische Unterwerfungspolitik, dieselbe Annexionspolitik.

Schließlich wurde doch Finnland von den russischen Zaren annektiert auf Grund von Abmachungen mit Napoleon, dem Würger der französischen Revolution usw. Wenn wir wirklich gegen Annexionen sind, müssen wir sagen: Recht auf Lostrennung für Finnland! Wenn wir das gesagt und verwirklicht haben, dann – und nur dann! – wird ein “Übereinkommen” mit Finnland ein wirklich freiwilliges, freies Übereinkommen, d. h. wirklich ein Übereinkommen und kein Betrug sein.

Übereinkommen treffen können nur Gleiche. Damit ein Übereinkommen ein wirkliches Übereinkommen sei und nicht eine durch Worte getarnte Unterwerfung, ist die wirkliche Gleichberechtigung beider Seiten notwendig, d.h. sowohl Rußland als auch Finnland müssen das Recht haben, nicht einverstanden zu sein. Das ist sonnenklar.

Nur das “Recht auf Lostrennung” bringt dies zum Ausdruck: nur ein Finnland, das die Freiheit hat, sich loszutrennen, ist wirklich imstande, mit Rußland darüber “übereinzukommen”, ob es sich lostrennen soll. Wer ohne diese Voraussetzung, ohne Anerkennung des Rechtes auf Lostrennung, über ein “Übereinkommen” Phrasen drischt, der betrügt sich und das Volk.

Das Organisationskomitee hätte den Finnen klipp und klar sagen müssen, ob es das Recht auf Lostrennung anerkennt oder nicht. Es hat diese Frage nach Art der Kadetten verwischt und sich damit von dem Recht auf Lostrennung losgesagt. Es hätte die russische Bourgeoisie angreifen müssen, weil sie den unterdrückten Nationen das Recht auf Lostrennung verweigert, was gleichbedeutend ist mit Annexionismus. Das Organisationskomitee greift aber statt dessen die Finnen an, indem es sie warnt, daß “separate” (es müßte heißen: separatistische) Tendenzen die zentralistischen Bestrebungen stärken würden!! Mit anderen Worten, das Organisationskomitee droht den Finnen mit einem Erstarken der annexionistischen großrussischen Bourgeoisie – gerade das haben die Kadetten stets getan, gerade unter dieser Flagge betreiben die Roditschew und Co. ihren Annexionismus.

Da haben wir eine anschauliche praktische Erläuterung zur Frage der Annexionen, von denen heute “alle” reden, wobei sie sich aber fürchten, die Frage unumwunden und präzis zu stellen. Wer gegen das Recht auf Lostrennung ist, der ist für Annexionen.

Die Zaren betrieben die Annexionspolitik plump und ungeschminkt, indem sie im Einvernehmen mit anderen Monarchen ein Volk gegen ein anderes austauschten (die Teilung Polens, das Abkommen mit Napoleon über Finnland usw.), genauso wie die Gutsbesitzer untereinander die leibeigenen Bauern austauschten. Die republikanisch gewordene Bourgeoisie betreibt genau dieselbe Annexionspolitik, aber raffinierter und versteckter, indem sie ein “Übereinkommen” verspricht, jedoch die einzige reale Garantie wirklicher Gleichberechtigung bei einem Übereinkommen, nämlich das Recht auf Lostrennung, vorenthält. Das Organisationskomitee trottet im Schlepptau der Bourgeoisie einher und stellt sich praktisch auf ihre Seite. (Die “Birshowka”, die alles Wesentliche aus dem Artikel der “Rabotschaja Gaseta” nachdruckte und die Antwort des Organisationskomitees an die Finnen lobte, hat daher vollkommen recht, wenn sie diese Antwort als eine den Finnen erteilte “Lektion in russischer Demokratie” bezeichnet. Die “Rabotschaja Gaseta” hat diesen Bruderkuß der “Birshowka” verdient.)

Die Partei des Proletariats (“Bolschewiki”) hat auf ihrer Konferenz – in der Resolution zur nationalen Frage – erneut das Recht auf Lostrennung bestätigt.

Die Gruppierung der Klassen und Parteien ist klar.

Die Kleinbürger lassen sich durch das Schreckgespenst der erschrockenen Bourgeoisie ins Bockshorn jagen – darin liegt der ganze Kern der Politik der menschewistischen Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre. Sie “fürchten” die Lostrennung. Die klassenbewußten Proletarier fürchten sie nicht. Sowohl Norwegen wie Schweden haben gewonnen, als Norwegen sich 1905 auf Grund freier Entscheidung von Schweden lostrennte: gewachsen ist das Vertrauen beider Nationen zueinander, sie haben sich freiwillig einander genähert, verschwunden sind die unsinnigen und schädlichen Reibungen, erstarkt ist die Anziehungskraft zwischen beiden Nationen in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Beziehung wie im täglichen Leben, fester geworden ist das brüderliche Bündnis der Arbeiter beider Länder.

Genossen Arbeiter und Bauern! Findet euch nicht ab mit der Annexionspolitik der russischen Kapitalisten, der Gutschkow, Miljukow, der Provisorischen Regierung gegenüber Finnland, Kurland, der Ukraine usw.! Fürchtet euch nicht, das Recht auf Lostrennung für alle diese Nationen anzuerkennen. Nicht durch Gewalt soll man die anderen Völker für einen Bund mit den Großrussen gewinnen, sondern nur durch ein wirklich freiwilliges, wirklich freies Übereinkommen, das ohne das Recht auf Lostrennung unmöglich ist.

Je freier Rußland sein wird, je entschiedener unsere Republik das Recht auf Lostrennung für die nicht großrussischen Nationen anerkennt, desto stärker werden die anderen Nationen nach einem Bündnis mit uns streben, desto weniger Reibungen wird es geben, desto seltener wird es zu einer tatsächlichen Lostrennung kommen, desto kürzer wird die Zeitspanne sein, für die sich einige Nationen lostrennen werden, desto enger und fester wird im Endergebnis das brüderliche Bündnis der proletarisch-bäuerlichen Republik Rußland mit den Republiken beliebiger anderer Nationen sein.

Aus: Prawda. Nr. 46. 15. (2.) Mai 1917. LW 24. S. 329-332. Transkription: Dieter Elken und Wladek Flakin.

Anhang:
Victor Serge: Der Weiße Terror in Finnland

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Zahl der finnischen ArbeiterInnen, die durch den Weißen Terror niedergeschlagen wurden (ob getötet oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt) über 100.000 lag: rund ein Viertel des gesamten Proletariats. (…) Mit dieser Tatsache können wir wichtige theoretische Schlussfolgerungen über das Wesen des Weißen Terrors ziehen, die in der Zwischenzeit durch die Erfahrungen in Ungarn, Italien, Bulgarien usw. bestätigt wurden. Der Weiße Terror ist nicht zu erklären durch den Rausch der Schlacht, die Gewalt des Klassenhasses oder irgendeinen anderen psychologischen Faktor. Die Psychose des BürgerInnenkrieges spielt eine komplett zweitrangige Rolle. Der Terror ist in Wirklichkeit ein Produkt des Kalküls und der historischen Notwendigkeit. Die siegreichen besitzenden Klassen wissen ganz genau, dass sie ihre eigene Herrschaft nach einer sozialen Schlacht nur sichern können, in dem sie ein Blutblad an der ArbeiterInnenklasse ausrichten, das grausam genug ist, um sie jahrzehntelang zu schwächen. Und da diese Klasse zahlenmäßig so viel stärker ist als die reichen Klassen, muss die Zahl der Opfer sehr groß sein.

Die vollständige Ausrottung aller fortschrittlichen und bewussten Elemente des Proletariats ist, kurz gesagt, das rationelle Ziel des Weißen Terrors. In diesem Sinn wird eine besiegte Revolution – unabhängig von ihrer Tendenz – dem Proletariat immer viel mehr kosten als eine siegreiche Revolution, egal welche Aufopferungen und Anstrengungen letztere fordern mag.

Eine letzte Bemerkung: Das Blutbad in Finnland fand im April 1918 statt. Bis dahin hatte die Russische Revolution fast überall große Nachsicht gegenüber ihrer FeindInnen gezeigt. Sie hat keinen Terror angewandt. Wir haben einige blutige Episoden im Süden beschrieben, aber diese waren die Ausnahmen. Die siegreiche Bourgeoisie einer kleinen Nation, die zu den aufgeklärtesten Gesellschaften Europas gehörte, erklärte dem Russischen Proletariat als erste das erste Gesetz des sozialen Krieges: Wehe dem Besiegten!

Aus: Victor Serge: Year One of the Russian Revolution. Chicago 1972. Kapitel 6. Übersetzung: Wladek Flakin.

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