Algerien am Scheideweg: eine neue Phase der Mobilisierung nach dem Rücktritt von Bouteflika?

05.04.2019, Lesezeit 5 Min.
1

Nach mehr als einem Monat der Mobilisierungen, die mit dem Rücktritt von Präsident Bouteflika endete, bleibt die algerische Straße aktiv und lehnt alle Institutionen des alten Regimes ab.

Das Erwachen des algerischen Volkes, das sich in mehr als einem Monat andauernden massiven Mobilisierungen im ganzen Land zeigte, hat es geschafft, das gesamte Regime und die politische und gewerkschaftliche Kaste vor ihre größten Widersprüche zu stellen. Nach 20 Jahren Präsidentschaft eröffnet Bouteflikas Rücktritt eine neue Phase, in der die algerische Bourgeoisie versucht, die Krise durch einen vermeintlich demokratischen „Übergang“ zu beenden.

Bouteflikas Rücktritt, eine Schutzzündung für das Regime

Präsident Abdelaziz Bouteflika, der seit 1999 Algerien regiert und seit 2013 schwer krank ist, kündigte seinen Rücktritt am Dienstag in einem Schreiben an das algerische Volk und den Präsidenten des Verfassungsrates an, in dem er um „Vergebung“ für seine „Fehler und Irrtümer“ bittet.

Sein Rücktritt, der nach den massiven Mobilisierungen, die nicht nur die Figur des Präsidenten, sondern das gesamte Regime und das politische und militärische Establishment in Frage stellten, öffentlich bekannt wurde, wurde auch von den bisher direkt an seiner Regierung beteiligten herrschenden Klassen gefördert. Sie suchten unter Führung von Gaid Salah, dem Chef der Armee und Verteidigungsminister, eine „Übergangslösung“.

Bouteflika, Symbol für die Verwesung und den senilen Charakter des algerischen Regimes, ist eine Sicherung, die die herrschenden Klassen angesichts der massiven Mobilisierungen zu opfern beschlossen haben, um einen demokratischen Übergang vorzuschlagen, der eine möglichst geringe Veränderung der Institutionen ermöglichen würde.

Seit dem 22. Februar wenden sich die ehemals mit der Regierung verbundenen Sektoren nacheinander gegen die Regierung, um ihren Rücktritt zu fordern. Der letzte von ihnen war die Armee, die unter der Führung ihres Chefs, Gaid Salah, letzte Woche die Anwendung von Artikel 102 der Verfassung ankündigte, der den Rücktritt des Präsidenten aufgrund seiner Unfähigkeit, das Land zu führen, ermöglicht. Diese Bewegung bedeutete die Aufgabe von Bouteflika durch die Streitkräfte, die die historische Säule seiner Regierung waren.

Der ehemalige „Bouteflika-Clan“, der die verschiedenen Fraktionen der algerischen herrschenden Klassen zusammenführte, sucht seine Neuzusammensetzung mit dem Prozess, den Gaid Salah zusammen mit dem derzeitigen Präsidenten des Senats, Abdelkader Bensalah versprochen hatte. Der historische Verbündete Bouteflikas soll als Interimspräsident in den nächsten 90 Tagen Neuwahlen organisieren.

Der neue Premierminister Noureddine Bedoui seinerseits kündigte die Bildung einer Regierung mit 27 Ministern an, von denen acht aus der früheren Regierung stammen und in der Gaid Salah eine der wichtigsten Persönlichkeiten sein wird.

Es ist klar, dass das, was sie als Übergang erscheinen lassen wollen, in Wirklichkeit ein neuer Betrug einer zerfallenen Kaste ist, der darauf abzielt, die Krise der algerischen Mobilisierungen mit institutionellen Mitteln zu schließen und die Armee zu einer privilegierten „Gesprächspartnerin“ angesichts der Massenmobilisierung auf den Straßen zu machen.

Die bisher von der neuen Regierung Bedouis versprochenen Reformen haben ihrerseits einen Geschmack nach nichts, wie sie schon 2012 mit dem Ziel angeboten wurden, die Expansion des arabischen Frühlings in Algerien zu stoppen.

Die neuen Mobilisierungen, die am heutigen Freitag, dem 5. April, stattfinden, werden als ein wichtiger Tag der Ablehnung des Regimes einberufen. Auf den Straßen, seit letztem Freitag, wurde die Ablehnung des Heerführers durch das Rufen der Parole „Raus, raus Gaid Salah“ deutlich.

Übergangsphase und Versuch der Neuzusammensetzung des bürgerlichen Blocks

Auf der überbaulichen Ebene wurde der Bruch des Blocks, der die Regierung von Bouteflika unterstützte, endgültig vollzogen. Dies beweist die Verhaftung des Geschäftsmannes Ali Haddad, ehemaliger Leiter der örtlichen Wirtschaftskammer, der eng mit der alten Regierung verbunden war. Dies öffnet den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, die bisher vom Regime und unter der starken Hand des Präsidenten eingedämmt wurden, die Möglichkeit, ihre Oppositionen und Interessenspiele offener zu zeigen.

Haddad trat am 31. März zurück und wurde an der Grenze zu Tunesien verhaftet, wo er mit Geld gefüllte Koffer mit sich führte. Sein Fall veranschaulicht die Kämpfe zwischen verschiedenen bürgerlichen Sektoren, welche die Regierung von Bouteflika einzudämmen oder zu vertuschen vermochte.

Bereichert durch Öleinnahmen und durch die absolute Unterordnung unter die wirtschaftlichen Interessen Frankreichs und der Europäischen Union hat die algerische bürgerliche Klasse bisher freiwillig bei der Förderung der Unterwerfung unter den französischen Imperialismus mitgespielt. Dies wurde in Macrons mehreren Erklärungen zugunsten von Bouteflika und der Forderung nach einem „demokratischen Übergang“ im Land deutlich. Darüber hinaus verfügt Frankreich aus militärischer Sicht über eine Militärbasis im Sahel und hat dort einen wichtigen geopolitischen Verbündeten, um die Herrschaft über seine ehemaligen Kolonien zu sichern.

Das alte Regime hat aus dem arabischen Frühling 2011 in Ägypten Lehren für die Führungsrolle der Armee auf der politischen Bühne gezogen. Sie versucht, durch diese neue Regierung die Lücken zu schließen und einen geordneten Übergang zu organisieren, ohne die zentralen Grundlagen des alten Regimes zu berühren. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass sie dies ohne Widersprüche tun kann.

Angesichts der Zersetzung der algerischen bürgerlichen Kaste und ihrer Schwierigkeiten, einen Übergang zu einem neuen herrschenden Block zu schaffen, ist es aufgrund der massiven Mobilisierung und Ablehnung des Regimes von 1999 notwendiger denn je, dass Elemente der Selbstorganisation entstehen. Diese müssen unter anderem die Bürokratien der UGTA (Gewerkschaftsdachverband) und der UNEA (Studierendenorganisation) in Frage stellen, die die wichtigsten Verbündeten der Regierung und der französischen imperialistischen Herrschaft über das Land waren.

Mehr zum Thema