Aiwanger-Skandal: Jetzt proletarischen Antifaschismus aufbauen
Bayerns stellvertretender Ministerpräsident Hubert Aiwanger soll als Schüler eine pro-faschistische Hetzschrift verfasst haben. Doch der Rechtsruck ist größer als Aiwanger und deshalb braucht es mehr als nur allgemeine Bestürzung und Rücktrittsforderungen.
Seit die Süddeutsche Zeitung am Freitag einen Artikel über Hubert Aiwangers mutmaßliches „Auschwitz-Pamphlet“ veröffentlicht hat, muss in den bayerischen Parteizentralen helle Aufregung herrschen. 1987 soll der damalige Gymnasiast Aiwanger ein Flugblatt mit dem Titel „Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ verfasst haben. Im Artikel ist die auf einer Schreibmaschine getippte Schrift vollständig wiedergegeben. Die ironisierend den Holocaust verherrlichende Schrift könnte widerwärtiger kaum sein. Der erste Preis des fiktiven Preisausschreibens: „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“.
Als „menschenverachtend“ bezeichnete die bayerische Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Schulze zu Recht dieses Gedankengut. Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Florian von Brunn, kündigte an, in der Sommerpause eine Sondersitzung des Landtags zu beantragen. Dieser sollte eigentlich erst nach der Landtagswahl im Oktober wieder zusammentreten.
Zuerst ließ Aiwanger alles abstreiten. Die SZ zitiert einen Sprecher der Aiwanger-Partei Freie Wähler (FW), der weitergeben könnte, dass dieser so etwas nicht produziert habe. Es handle sich um eine „Schmutzkampagne“, gegen die man juristische Schritte ergreifen werde. Doch auch Aiwangers Chef in der bayerischen Landesregierung sieht sich zur Stellungnahme gezwungen. „Schlimme Vorwürfe“ seien im Raum, so Ministerpräsident Markus Söder. Aiwanger solle die Dinge einfach klären.
Gestern nun räumte der bayerische Wirtschaftsminister ein, dass in seiner Zeit am Gymnasium Mallersdorf-Pfaffenberg „ein oder wenige Exemplare“ des Flugblatts in seiner Schultasche gefunden worden seien. Die angedrohte Strafe des Direktors habe er „unter Druck“ akzeptiert. Die FW stehen weiterhin demonstrativ zu ihrem Vorsitzenden.
Die SZ jedoch legte ihrerseits nach und berichtet nun von einem Gutachten eines Sachverständigen, der zu dem Ergebnis gekommen sei, dass Aiwangers Facharbeit 1990 auf einer Schreibmaschine desselben Typs geschrieben worden seien wie die Hetzschrift, „sehr wahrscheinlich“ sogar auf derselben Schreibmaschine.
Der Konter folgte auf dem Fuße – und hätte direkt aus dem Skript für eine Politsatire stammen können. Ein Aiwanger soll das Flugblatt verfasst haben. Nur eben nicht der Politiker Hubert, sondern sein großer Bruder Helmut. „Ich bin der Verfasser dieses in der Presse wiedergegebenen Flugblatts. Vom Inhalt distanziere ich mich in jeglicher Hinsicht. Ich bedaure die Folgen der Aktion“, zitiert die Passauer Neue Presse aus einem Telefonat mit dem 53-Jährigen. Ganz auszuschließen ist das vorerst nicht. Aber: Der unbekannte Bruder nimmt die Schuld auf sich, der prominente Bruder bewahrt seine Politkarriere? Das sieht dann doch allzu sehr nach einem Bauernopfer aus.
Warum die Empörung?
Angesichts des skandalösen Inhalts des Flugblatts ist die als Frage formulierte These des SZ-Artikels, der die Welle ausgelöst hat, in den Hintergrund getreten: „Ist das womöglich schon die Erklärung für das Mysterium, das keins ist? Dass Hubert Aiwanger niemanden imitiert, weil er schon geredet hat, wie er heute redet, als es die AfD noch gar nicht gab. Und, was das Flugblatt und Erzählungen seiner Mitschüler womöglich nahelegen: schon als Jugendlicher?“
Aiwanger führte schon längst den rechten Teil einer rechten Regierung an. Die SZ zitiert in ihrem Artikel ausführlich schon länger zurückliegende Aussagen des Chefs der Freien Wähler, darunter sein gemeinsamer Auftritt auf einer Demonstration mit der heutigen AfD-Politikerin Beatrix von Storch gegen den Euro-Rettungsschirm. Zuvor hatte er dem extrem rechten Blatt Junge Freiheit dazu ein Interview gegeben. Den AfD-Tonfall beherrscht er nicht erst seit der Rede auf einer rechten Kundgebung gegen das Heizungsgesetz in Erding. 13.000 Personen hatten ihm zugejubelt, als er im Juni vor den Toren Münchens rief, die schweigende Mehrheit müsse sich die Demokratie zurückholen. Söder hatte das kritisiert, war aber zu ihm gestanden. Und auch sonst bemühte man sich um das Bild einer harmonischen, pragmatisch-konservativen Koalition in Bayern.
Kommt es also überraschend, dass ein rechter Politiker eine noch rechtere Vergangenheit hat? Die Empörung von Sozialdemokrat:innen und Grünen ist jedoch aus ganz anderen Gründen heuchlerisch. Hat nicht die SPD-geführte Ampelregierung im Bund selbst eine harte Rechtswende hingelegt? Mit der Zeitenwende, den Sozialkürzungen und der Asylrechtsverschärfung ist vom fortschrittlichen Anspruch des Koalitionsvertrags nicht mehr viel übrig. Selbst prestigeträchtige Reformprojekte wie das Selbstbestimmungsgesetz enthalten transfeindliche Teile und verschärfen die Überwachung durch den Staat. Umso mehr ist SPD und Grünen im Landtagswahlkampf daran gelegen sich im „Kulturkampf“ rhetorisch und symbolisch von rechts abzugrenzen.
Von Aiwanger und seiner Partei ist keine Aufklärung zu erwarten. Dafür braucht es eine von den bürgerlichen Parteien im Landtag unabhängige Untersuchungskommission unter Beteiligung der Gewerkschaften, die auch die Recherchen der SZ einbezieht und überprüft. Klar ist jedoch, dass es mit einer Aufklärung von Aiwangers Vergangenheit nicht getan ist – auch nicht, wenn er daraufhin zurücktreten muss. Der Rechtsruck ist umfassender. Es gilt den Widerstand dagegen mit den Mitteln der Arbeiter:innenbewegung zu führen, mit Streiks und Blockaden gegen die extreme Rechte und auch gegen die Regierungen, die rassistische, transfeindliche und arbeiter:innenfeindliche Politik umsetzen. Mit einer solchen proletarisch-antifaschistischen Politik könnte man nicht nur Aiwanger zur Rechenschaft ziehen, sondern auch eine Antwort auf die sozialen Nöte geben, die die Rechten gerade nutzen, um sich aufzubauen.