Ägypten: Die Armee versucht, die Massenmobilisierungen zu kapern

05.07.2013, Lesezeit 7 Min.
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Eine beeindruckende Mobilisierung der Massen besiegelte das Schicksal des ägyptischen Präsidenten M. Mursi, der am 3. Juli durch einen „sanften Putsch“ der Armee gestürzt wurde, die von der gesamten Bandbreite der Opposition gegen die Muslimbruderschaft unterstützt wurde. Der Präsident des Verfassungsgerichts wird die Übergangsregierung anführen. Da die Armee den revolutionären Prozess durch die Methoden der offenen Konterrevolution nicht niederschlagen konnte, aufgrund der etablierten Kräfteverhältnisse, entschied sie sich, in ihn einzusteigen, um ihn zu einem kontrollierten Übergang zu führen und seine Radikalisierung zu verhindern.

Der Massenaufstand begann am 30. Juni, als eine Menge von mehreren Millionen Menschen – zusammengesetzt aus Jugendlichen ArbeiterInnen, städtischen Armen und anderen Sektoren, LaizistInnen und Religiösen – die Straßen stürmte und den Rücktritt Mursis forderte. Diese Welle ging von Kairo und Alexandria bis hin zu kleinen Städten und Dörfern, und ging auch durch das industrielle Zentrum von Mahalla, wo sich ein großer Teil der Avantgarde der ArbeiterInnen konzentriert.

Der Aufruf ging von der Bewegung „Tamarod“ (Revolte) aus, einem kleinen Kollektiv von Jugendlichen, die im Mai eine Kampagne für die Absetzung Mursis begonnen hatten. Dieser kleinen Gruppe schlossen sich die bürgerliche Opposition der Front der Nationalen Rettung (die alte Oppositionelle gegen das Mubarak-Regime wie El Baradei und Sektoren des alten Mubarak-Regimes vereint) und die radikalislamistische Al Nur-Partei an.

Das Bündnis „30. Juni“, die aus diesen Organisationen besteht, übernahm die Führung des Prozesses, um zu verhindern, dass die Mobilisierung von der Infragestellung der Mursi-Regierung zur Konfrontation mit dem gesamten Regime übergeht, insbesondere mit der Armee, die weiterhin die wirkliche Macht hinter dem Thron darstellt. Aus diesem Grund stimmten alle, trotz ihrer Heterogenität, darin überein, mit den Streitkräften über die Bildung einer „technokratischen Übergangsregierung“ zu verhandeln, die Mursi ersetzt und neue Präsidentschaftswahlen ausruft.

Diese Organisationen konnten die Mobilisierungen kanalisieren, was dadurch erleichtert wurde, dass die Armee sich entschied, nicht auf Repression zu setzen und sich zurückzuhalten, um sich als Urheber der neuen politischen Ordnung darzustellen. Unabhängig davon zeigen die Proteste, das sich der revolutionäre Prozess nach dem Scheitern des ersten Umleitungsversuches immer noch weiterentwickelt; ein Prozess, der mit dem Fall der Mubarak-Diktatur Anfang 2011 eröffnet und durch tiefgreifende wirtschaftliche und demokratische Forderungen angetrieben wurde.

Das Scheitern des ersten Umleitungsversuches

Nach dem Sturz Mubaraks’ stießen die Streitkräfte, die lokalen herrschenden Klassen und der Imperialismus einen „demokratischen Übergang“ an, um den revolutionären Prozess umzuleiten. Obwohl die Mobilisierungen weitergingen, erreichten sie – nicht ohne Widersprüche – die Durchsetzung einer neuen Verfassung und die Durchführung von Präsidentschaftswahlen, welche die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, politischer Arm der wichtigsten bürgerlich-islamischen Organisation, der Muslimbruderschaft, im zweiten Durchlauf mit einem knappen Vorsprung gewann.

Dennoch reichte ein Jahr an der Macht, damit breiten Sektoren der Massen der reaktionäre, neoliberale und proimperialistische Charakter der Muslimbruderschaft klar wurde, die im Dienste der Interessen der lokalen UnternehmerInnen, des Imperialismus und der Golfmonarchien steht. Die demokratischen Zugeständnisse, selbst die formellen, waren minimal. Der Staatsapparat der Mubarak-Diktatur blieb intakt, die Armee behielt ihre Rolle als Schiedsrichter und die Kontrolle von circa 40% der Wirtschaft; das Land ordnete sich weiterhin den USA unter und behielt seine Verbindung mit dem Staate Israel bei. Dazu kommt, dass die neue Verfassung den islamistischen Sektoren mehr Macht gibt und den laizistischen Charakter des Staates gefährdet.

Im Rahmen der kapitalistischen Krise und des Niedergangs der ägyptischen Wirtschaft, die von Importen abhängig ist, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der breiten Masse weiterhin: Die Arbeitslosigkeit stieg von 9% im Jahr 2010 auf 13%. Mindestens 25% der Bevölkerung lebt in Armut. Die Politik von Mursi war es, die Sparrezepte des IWF zu akzeptieren, um sich zu finanzieren; dazu gehörten die Streichung von Subventionen auf Benzin und grundlegende Güter.

Aus diesem Grund war Mursi seit seinem Antritt mit einer nie dagewesenen Streikwelle konfrontiert, bei der Avantgarde-Sektoren die Lohnforderungen überschritten, um ein Programm der Verstaatlichung zu fordern, wie es die TextilarbeiterInnen von Mahalla taten. Nur im ersten Quartal 2013 war Mursi mit 2.400 Protesten der ArbeiterInnen und armen Massen konfrontiert.

Perspektiven

Trotz ihrer beeindruckenden Masse war eine der Grenzen der aktuellen Mobilisierungen ihr Charakter als klassenübergreifende Bewegung. Die ArbeiterInnenklasse – welche 2011 eine fundamentale Rolle spielte und den Sturz Mubaraks vorbereitete und welche ein gewichtiger Akteur in den Kämpfen ist, die die Politik der Umleitung“ in Frage stellten – intervenierte bei diesen Mobilisierungen nicht als Klasse mit ihren eigenen Methoden und Organisationen, sondern aufgelöst in den breiten Massen. Aus dem Blickwinkel des politischen Programms war ihre Achse der Kampf gegen die Mursi-Regierung und nicht gegen die Gesamtheit der Institutionen des Regimes und des Staates und gegen den Imperialismus, was die Politik des Bündnisses „30. Juni“ erleichterte, die Armee als „Freund des Volkes“ zu präsentieren und Vertrauen und Hoffnungen auf einen Ausweg durch die Streitkräfte zu erschaffen.

Bisher scheint die Politik jetzt zu sein, eine liberalere und laizistische Regierung zu etablieren, welche die Unterstützung der USA genießt, hinter der sich die wirkliche Macht versteckt, die weiterhin in den Händen der Streitkräfte sein wird.

Nichtsdestotrotz wird dieser Ausweg, dieser Versuch einer zweiten „Umleitung“, nicht einfach sein. Die ArbeiterInnen, die Jugendlichen und die armen Massen Ägyptens kommen von einer außergewöhnlichen Erfahrung von zweieinhalb Jahren der Kämpfe im Rahmen der Prozesse des arabischen Frühlings. Der moderate politische Islamismus, hauptsächlich die Muslimbruderschaft, welche neben der Armee die wichtigste politisch-religiöse Kraft ist und Massenunterstützung besaß, befindet sich in einer tiefgreifenden Krise. Es bleibt noch zu sehen, ob sie in die neue Regierung integriert werden wird oder nicht. Falls sie stattdessen vom neuen „Übergang“ ausgegrenzt werden, ist es nicht ausgeschlossen, dass Sektoren der Muslimbruderschaft selbst oder radikalisiertere islamistische Gruppen zum neuen Regime in Opposition gehen und dabei sogar auf terroristische Methoden zurückgreifen, die sie in der Vergangenheit eingesetzt haben. Unzweifelhaft wird der ägyptische Prozess außerdem regionale Auswirkungen haben und kann dem arabischen Frühling neue Impulse geben.

In einem ersten Moment feierten die Massen den Sturz Mursis und den Ausweg, den die Armee vorstellte, als einen Triumph. Dennoch werden ihre Erwartungen eher früher als später mit diesem reaktionären Ausweg kollidieren. Um zu verhindern, dass die Massenmobilisierung als Manövriermasse der Armee und der bürgerlichen Opposition missbraucht wird, ist es vor allem notwendig, in die neue Regierung und die Streitkräfte keinerlei Vertrauen zu setzen. Gegen den Versuch, eine Verfassung zu verabschieden, die unter Aufsicht der Armee und des Imperialismus zusammengezimmert wurde, muss eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung durchgesetzt werden. Aber damit die ArbeiterInnenklasse und die ausgebeutete und unterdrückte Jugend ihre Forderungen durchsetzen können, müssen sie ihre eigenen Organe der Selbstbestimmung entwickeln und ein Übergangsprogramm aufstellen, welches die demokratischen, sozialen und antiimperialistischen Forderungen vereint und den Weg für den Kampf um die Macht der ArbeiterInnen und der Massen eröffnet.

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