„Agenda für Deutschland“: CDU und CSU auf rechter Überholspur

08.07.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: nitpicker / Shutterstock.com

Am vergangenen Freitag einigten sich CDU und CSU auf ein gemeinsames 10-Punkte-Programm. Nicht nur der Titel ruft Assoziationen zur AfD hervor.

„Unsere Agenda für Deutschland“ – so heißt das neue 10-Punkte-Programm, das die beiden Unionsparteien am vergangenen Freitag gemeinsam auf einer Präsidiumssitzung in München beschlossen haben. Fraglich ist, ob es sich um eine bewusste Entscheidung handelte, einen Titel zu wählen, der in abgekürzter Form „Unsere AfD“ ergibt. Dem Inhalt nach wäre es auf jeden Fall passend: Das Programm ist eine weit rechts stehende Kritik an der Politik der Ampel-Regierung, in der die Abgrenzung zur tatsächlichen AfD mitunter nicht mehr nur verschwimmt, sondern schlichtweg nicht mehr erkennbar ist. Für Friedrich Merz bilden die Grünen immer noch den „Hauptgegner“. Nachdem es in Person von Andreas Jung, dem stellvertretenden CDU-Vorsitzenden, sogar Kritik aus den eigenen Reihen gab, korrigierte sich Merz zumindest scheinbar: Andere Parteien seien Wettbewerber, die AfD hingegen stünde zu weiten Teilen außerhalb der Verfassung, was sie zu einem Feind anstelle eines Gegners mache.

Der Einstieg in das Programm ist nahezu poetisch: „Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Aber noch nie waren es so viele auf einmal. Alte Gewissheiten und Sicherheiten schwinden, neue Herausforderungen stellen sich mit aller Härte.“ Im Gegensatz zur Bundesregierung, die die Sorgen der Menschen nur verstärke, nähmen die Unionsparteien diese ernst. Man stehe für „Sicherheit im Wandel“, wolle „mehr Debatte und weniger Diktat“ und fördere „Lebensleistungen, Arbeitsleistung, Erziehungsleistung, Integrationsleistung und unternehmerische Leistung“. Die zehn verschiedenen Punkte einleitend, geben sich CDU/CSU verbal nochmals kämpferisch: „Wir erneuern damit unseren bürgerlichen Alleinvertretungsanspruch: Die Union steht für Kurs statt Chaos, für bürgernahe Realpolitik statt ideologischer Moralpolitik!“

Zehn Punkte der „A(genda) f(ür) D(eutschland)“

Adressiert wird vor allem die Mittelschicht, ohne dass genau definiert werden würde, wen CDU und CSU hierunter fassen. Für sie fordern die Unionsparteien eine „Entlastungsoffensive“ mit finanziellen Anreizen für Mehrarbeit etwa durch Steuerfreiheit für Überstunden oder einer sogenannten Aktiv-Rente. Dies liest sich wie ein Freifahrtschein für Kapitalist:innen, ihre Arbeiter:innen noch mehr auszubeuten, als sie es ohnehin schon tun. Politik wird hier auch mit dem Mythos der Lohn-Preis-Spirale betrieben, die „Gift für Deutschlands Produktivität und internationale Wettbewerbsfähigkeit“ sei. Dass eine solche Wechselwirkung zwischen Löhnen und Preisen widerlegt ist, wird hier ganz einfach ignoriert. Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ihren jährlichen „Europäischen Tarifbericht“, aus dem klar hervorgeht, dass die Reallöhne 2022 durchschnittlich um vier Prozent gesunken, während die Konzernprofite gestiegen sind. Markus Schlimbach, DGB-Vorsitzender in Sachsen, kommentierte dazu: „Eine Lohn-Preis-Spirale gibt es nicht, wohl aber eine unternehmensseitig ausgelöste Gewinn-Preis-Spirale.“

Im zweiten Punkt des Programms betonen CDU und CSU die Wichtigkeit der „Eigentumssicherheit fürs Elternhaus und steuerliche Anreize fürs erste Eigenheim“. Sie stellen sich gegen das Heizungsgesetz der Ampel-Regierung, die weiterhin Altersarmut und Wohnungsnot schüre, insofern sie Eigenheimbesitzer durch Erbschaftssteuer und Heizungsverbot enteigne. Dass tatsächliche Enteignungsversuche, wie beispielsweise durch den Volksentscheid von ‚Deutsche Wohnen & Co. enteignen‘ angestrebt, schlicht blockiert werden, scheint an dieser Stelle irrelevant zu sein. Stattdessen solle es ein „Belastungsmoratorium für Unternehmen“ geben, das heißt einen „Stopp sämtlicher Vorhaben, die Unternehmen mit zusätzlicher Bürokratie, höheren Ausgaben und Steuern oder höheren Standortkosten belasten“. Auch müsse es eine Entlastung bei den Energiekosten für alle „vom Handwerksbetrieb bis zum Großkonzern“ geben. Hieran anschließend schlägt das Programm in weiteren Punkten eine „Hightech Agenda für Deutschland“ sowie eine gesetzlich gesicherte Energieversorgung vor. Man wolle den „ersten Quantencomputer, [den] ersten Kernfusionsreaktor, die erste europäische KI“, alles „Made in Germany“. Weitaus sinnvoller wäre sicherlich, beispielsweise für einen Internetzugang für alle zu sorgen. Dies scheint jedoch zu klein für die großen Visionen der „Agenda“ zu sein. CDU und CSU fordern zudem die Weiterentwicklung des Verbrennermotors in Deutschland sowie die Nutzung aller Optionen zur Energiegewinnung. Hierbei lautet das Motto: „Ja zu Erneuerbaren, aber Nein zu grüner Ideologie“.

In den ersten fünf Punkten des Programms findet sich demnach wieder, was beide Parteien ohnehin gebetsmühlenartig propagieren. Weitaus interessanter sind die Punkte sechs bis zehn, in denen es einerseits um Klimaschutz, Fachkräftezuwanderung, Kriminalität, Schutz vor Gewalt an Frauen und Verteidigungspolitik geht. Andererseits beinhalten die einzelnen Positionen Überwachungsfantasien, Aufrüstungspläne im Inneren wie Äußeren sowie Rassismus und das Beharren auf die ‚Festung Europa‘. Klimaschutz solle über marktwirtschaftliche Anreize statt gesetzliche Verbote geschehen, während die „Agenda“ sich demagogisch gegen „Klimakleber“ wendet. Beim Thema „Fachkräftezuwanderung statt unkontrollierte Migration“ präsentieren CDU und CSU eine dreiste Lüge: „Es ist fatal, dass man nach Deutschland faktisch leichter ohne Pass als mit Master einreisen kann.“ Belege für diese irrsinnige Annahme werden im Programm nicht geliefert. Es zeigt sich an dieser Stelle jedoch schonungslos, dass Parteien mit dem selbst deklarierten Anspruch auf bürgerliche Alleinvertretung nicht davor zurückschrecken, Positionen ultrarechter Kräfte zu vertreten und diese mit den gleichen Unhaltbarkeiten zu untermauern. Es ist nur konsequent, dass nachfolgend die Reform der Staatsbürgerschaft abgelehnt und die „deutliche Verringerung illegaler Migration“ manifestiert wird. Solange die Außengrenzen Europas nicht wirksam geschützt seien, müsse Deutschland seine nationalen Grenzen schützen.

Die faktische Abschaffung der Rechts auf Asyl, das unter Mitwirkung der Ampel-Regierung auf EU-Ebene vor einigen Wochen beschlossen wurde, dürfte in den Unionsparteien jedenfalls freudig aufgenommen worden sein. Die Idee der Aufnahmezentren, also der Lager an den EU-Außengrenzen, geht auf Horst Seehofer zurück, der diese bereits 2019 vorschlug. Handlungsbedarf sehen CDU und CSU hinsichtlich einer angeblichen Clan-Kriminalität. Und so heißt es beim Punkt „Null-Toleranz gegenüber Kriminellen“: „Wir sagen Clan-Kriminalität den Kampf an: Wir wollen Sofort-Ausweisungen für ausländische Clan-Mitglieder. Für Clan-Mitglieder mit deutschem Pass fordern wir, bei begründetem Verdacht der Vorbereitung weiterer Straftaten, die Präventivhaft auszuweiten.“ Wer zu diesen mysteriösen Clans zählen soll, bleibt – wie so vieles – undefiniert. Nicht umsonst bezeichnen Thomas Feltes und Felix Rauls die Auseinandersetzung mit dem Thema Clan-Kriminalität ohne verlässliche Definition als pseudowissenschaftlich. Vielmehr werde ein weitere Feindbild geschaffen, um Menschen zu stigmatisieren und auszugrenzen. Fabio De Masi, ehemals Abgeordneter für DIE LINKE im Bundestag, bezeichnete hingegen die Handlungen von Unionsfraktionsmitgliedern im Kontext der Maskenaffäre polemisch als „legale Clan-Kriminalität“.

In ihrer Agenda benötigen beide Parteien nur einen Satz, um von Clan-Kriminalität zur digitalen Verbreitung kinderpornografischen Materials zu gelangen, wobei sie alle rechtlich zulässigen Mittel für Ermittler:innen fordern. Hierzu zählt unter anderem die Speicherung von IP-Adressen. Denn: „Kinderschänder haben kein Recht auf Privatsphäre.“ Implizit wird hier auf die Thematik der Chatkontrolle angespielt, die seit einiger Zeit auf EU-Ebene diskutiert wird und stark umstritten ist. Sogar der Juristische Dienst des EU-Rats hält diese für grundrechtswidrig, Kinderschutz-Organisationen wie der Deutsche Kinderverein lehnen sie ab, insofern Kinderschutz nicht als Türöffner für Ermittlungen in anderen Fällen missbraucht werden dürfe. Statt anlassloser Massenüberwachung fordern die Organisationen mehr Fachkräfte und eine bessere Ausstattung für Jugendämter sowie Schulungen für Lehr- und Erziehungspersonal. Würde die Chatkontrolle so, wie von der EU-Kommission vorgebracht, beschlossen werden, wäre damit die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung de facto abgeschafft. Kommunikationsdienste wie beispielsweise Whatsapp sowie Internetprovider wären gezwungen, Nutzer:inneninhalte – Nachrichten in sozialen Medien, Chats und Webseiten – umfassend zu durchleuchten, um nach kinderpornografischen Inhalten zu suchen. Wohlgemerkt anlasslos. Überwachungsfantasien sind jedoch nichts Neues bei der Union: Schließlich setzte sie in der Großen Koalition 2017 den Staatstrojaner, versteckt in einem Gesetz über das Fahrverbot als Nebenstrafe, durch. Und um die Überwachung noch auszuweiten, ist dann auch das Kinderschänder-Narrativ, das ansonsten eher bei der extremen Rechten vorzufinden ist, anscheinend kein Problem. Digital überwacht werden sollten weiterhin auch Gewalttäter, beispielsweise mittels Fußfesseln.

Man wolle auch Frauenhäuser stärker fördern und die Kapazitäten ausbauen. Dieser Forderung ist prinzipiell selbstverständlich zuzustimmen, jedoch wird schnell klar, dass diese Forderung nur notdürftig kaschieren soll, was für CDU und CSU eigentlich zentral ist: Geschlechtergerechtigkeit beginne bei der Sicherheit und einer Innenpolitik, die konkret handle. Dies bedeutet nichts anderes als Aufrüstung im Inneren, etwa durch die Ausweitung der Befugnisse der Polizei oder die Anwendung von Präventivhaft in immer mehr Bereichen.
Hieran schließt der zehnte Punkt direkt an, in dem ein „Umsteuern der Verteidigungspolitik“ propagiert wird. Deutschland, Europa, die NATO – alle müssten abwehrbereit sein, wofür ein NATO-Rüstungsabkommen notwendig sei, mittels dem sich NATO-Staaten von Vorschriften des Rüstungsexports oder des Vergaberechts freimachen können. Das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr soll zudem einen tatsächlichen  Zusatz bilden, insofern der Verteidigungsetat des Bundes dauerhaft auf mindestens zwei Prozent des BIP angehoben werden müsse. Den Plänen zur Aufrüstung im Inneren folgt analog die Forderung nach Aufrüstung im Außen.

Für wen das dystopisch klingt, der:die gehört wohl nicht zu den Menschen, denen CDU und CSU mit ihrer Agenda „wieder mehr Vertrauen in unsere Demokratie und mehr Rechtssicherheit in unserem Staat“ geben möchte. Die Unionsparteien ließen nicht zu, dass sich „rechtschaffende Bürgerinnen und Bürger unseres Landes fragen müssen, ob sie ihre Meinung noch äußern können, ohne dafür diskreditiert zu werden.“ An dieser Stelle bedient sich das Programm tatsächlich nicht der Kampfbegriffe „Cancel Culture“ und „Wokeness“, was nicht bedeutet, dass sie im Wortschatz der Parteien fehlen würden: In ihrem Grundsatzprogramm „Für ein neues Miteinander“, das die CSU im Mai verabschiedete, kommen beide Begriffe explizit vor. Die Agenda für Deutschland hingegen wird mit einer inhaltsleeren Phrase beendet: „Freiheit ist nicht rechts oder links, echte Freiheit gibt es nur im ganzen Spektrum unsere Verfassungsordnung.“

Gegen die Logik des geringeren Übels

Es ist nicht verwunderlich, dass der Ton auch bei den Unionsparteien härter wird; schließlich stehen ihnen im Oktober Landtagswahlen in Hessen und in Bayern bevor. In Sonneberg musste die CDU erst im Juni einen Rückschlag hinnehmen, als ihr Kandidat die Stichwahl um den Landrats-Posten gegen Robert Sesselmann von der AfD verloren hatte. Zudem erreicht die AfD in Umfrageergebnissen seit Wochen immer neue Rekordwerte. Mit ihrer „Agenda für Deutschland“ scheinen die Unionsparteien sich auf das vielzitierte Mantra von Franz Josef Strauß zurück zu besinnen: „Rechts von der CDU/CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben.“ Anders gesagt: Die Unionsparteien sollen das gesamte rechte politische Spektrum vertreten. Es ist in dem Sinne nur eine wahltaktische Kampfansage an die AfD, aber eine Übernahme ihrer politischen Positionen.

Im Fall von Sonneberg reagierten die übrigen Parteien mit dem Aufruf, für den CDU-Kandidaten zu stimmen, der so auch von der Linkspartei geteilt wurde – wieder einmal zeigte sich, dass die Logik des geringeren Übels versagt. Denn wenn die bürgerlichen Parteien (mit der Linkspartei im Schlepptau) die Politik der AfD umsetzen, dann wird die AfD damit nicht geschwächt, sondern gestärkt. Stattdessen wird das gesamte politische Spektrum nach rechts verschoben – eine Operation, die CDU/CSU nun mit ihrer „Agenda für Deutschland“ noch weiter vorantreiben.

Stattdessen braucht es eine klare Antwort der Arbeiter:innen und der Jugend, um eine Opposition gegen die extreme Rechte, die AfD, die Unionsparteien sowie den Sparkurs der Regierung aufzubauen.

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