Afghanistan-Analyse #3: (K)eine Perspektive für die Massen?

30.08.2021, Lesezeit 6 Min.
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Nach Anschlägen am Kabuler Flughafen und Drohnenangriffen zur Vergeltung droht eine erneute Eskalation in Afghanistan. Dagegen brauchen wir eine antiimperialistische Perspektive. 

Am Donnerstag tötete eine Bombe knapp 180 Menschen am Kabuler Flughafen. Für den Anschlag übernahm ISIS-K, der afghanische Ableger des “Islamischen Staats” die Verantwortung. Zur “Vergeltung” flog das US-Militär seit Freitag mehrere Drohnenangriffe, bei denen Medienberichten zufolge auch sechs Kinder getötet wurden. Eine weitere imperialistische Eskalation ist nicht auszuschließen.

Weder der Imperialismus noch die Taliban sind eine Alternative für die unterdrückten und lohnabhängigen Massen Afghanistans. Die jahrzehntelange Besatzung hat tiefe Spuren in ihrem Bewusstsein hinterlassen. Die Beliebtheit der imperialistischen Mächte und ihrer korrupten Regierungen hält sich daher gelinde gesagt in Grenzen.

Mangels einer alternativen Perspektive laufen verbitterte Teile der Bevölkerung heute in die Arme der Taliban. Doch darf der Kampf gegen den Imperialismus nicht bedeuten, islamischen Fundamentalismus zu unterstützen, der in der gesamten Region die Interessen der nationalen Bourgeoisien – also einiger Weniger – verteidigt.

Diese politisch zutiefst regressiven Bewegungen stellen sich aktiv gegen die Interessen der Massen vor Ort. Es ist auch kein Zufall, dass sie Bündnisse mit Autokratien und bonapartistischen Regimen wie dem chinesischen, dem russischen und dem iranischen suchen.

Der Sieg der Taliban stellt zweifelsohne einen schweren Schlag für Frauen- und sozialistische Organisationen sowie Gewerkschaften dar. Nichtsdestotrotz kam es in den vergangenen Wochen sowohl in Kabul als auch verschiedenen Provinzhauptstädten bereits zu ersten Mobilisierungen gegen die Taliban, die – auch wenn sie sich momentan gemäßigt zeichnen – für einen islamischen Kapitalismus und damit für Ausbeutung und Unterdrückung stehen. Die neuen Machthaber:innen reagierten mit der einzigen Antwort, die sie Oppositionellen schon immer gaben und weiterhin geben werden: Gewalt und Repression.

Auch abgesehen davon ist es gut möglich, dass die Proteste keine Früchte tragen werden, wenn sie beispielsweise von der ehemaligen, korrupten Regierung kooptiert werden, die Hand in Hand mit dem Imperialismus das Land brutal ausbeutete. Heute liegt die Armutsquote in Afghanistan bei 72 Prozent, 42 Prozent der Bevölkerung verfügt nicht über ausreichend Lebensmittel, um nicht mindestens in Gefahr akuten Hungers zu schweben, und ungefähr 17 Millionen Afghan:innen – fast die Hälfte der Bevölkerung – haben Probleme beim Zugang zu Trinkwasser.

Sich der Führung von Ex-Präsident Aschraf Ghani und Co. unterzuordnen, die diese Verhältnisse ebenfalls zu verantworten haben, kann weder für Arbeiter:innen noch für Bäuer:innen und Unterdrückte, wie beispielsweise Frauen, eine Option sein. Vielmehr sollten sie darauf setzen, ihre eigenen, selbstorganisierten Strukturen aufbauen.

Nur Bäuer:innen und Frauen?

Während hochtechnisierte Fabriken multinationaler Konzerne in afghanischen Megastädten von Straßenverkäufer:innen, Müllsammler:innen und Drogendealer:innen umgeben sind, stockt die Entwicklung ländlicher(er) Gegenden seit Jahrzehnten – wenn nicht gar Jahrhunderten. Wenn wir uns nur die Produktionsweise anschauen, überwiegt in vielen von ihnen eine, die wir heute eher dem feudalen als dem kapitalistischen Zeitalter zuschreiben würden: die Subsistenzwirtschaft.

Ein großer Teil der afghanischen Bevölkerung sind daher Bäuer:innen. Um sie für eine von den Imperialist:innen und den Taliban unabhängige Politik zu gewinnen, müssen afghanische Arbeiter:innen vorschlagen, neben der Produktion in der Stadt auch große Güter auf dem Land unter Arbeiter:innenkontrolle zu verstaatlichen.

Außerdem muss der reaktionäre Krieg der Taliban und der Imperialist:innen endgültig beendet werden, indem die Arbeiter:innen und Bäuer:innen die Imperialist:innen und die reaktionären Fundamentalist:innen aus dem Land vertreiben und es selbst verwalten. Dafür schaffen jene Frauenorganisationen, die momentan bewaffnet gegen die Taliban kämpfen, eine erste Grundlage.

Der Hauptfeind steht im eigenen Land

Auch im Iran gingen Frauen in Solidarität mit Afghan:innen auf die Straße. Es braucht diese internationale Solidarität – ganz besonders in Deutschland. Denn für uns steht der Hauptfeind im eigenen Land. Der deutsche Imperialismus muss dazu gezwungen werden, seine Truppen, “Berater:innen” und Kriegsschiffe auch aus Mali, dem Kosovo und anderen Ländern abzuziehen. Das wird nicht von allein geschehen, im Gegenteil: Im aktuellen Bundestagswahlkampf überbieten sich die Kanzlerkandidat:innen von Union, SPD und Grünen gegenseitig mit immer neuen militaristischen Forderungen.

Es ist also eine große Bewegung auf den Straßen, in den Betrieben, Schulen und Universitäten nötig, die die Regierung zum vollständigen Abzug der Bundeswehr und zur bedingungslosen Aufnahme aller Geflüchteten zwingt. Die Arbeiter:innenklasse ist im Bündnis mit Unterdrückten auch hierzulande der einzige Akteur, der die Kraft dazu hat.

Doch muss sie dazu ihre chauvinistischen Führungen abschütteln. Wenn wir zukünftige Militäreinsätze verhindern wollen, können wir nicht die Linkspartei wählen. Vergangene Woche stimmte sie zum ersten Mal in Teilen für einen neuen Afghanistan-Einsatz von Bundeswehrsoldat:innen. Die Abgeordneten versuchten, diese Entscheidung mit der humanitären Katastrophe zu rechtfertigen – erinnern wir uns daran, dass die Grünen einst auch so begannen und heute zu offenen Kriegstreiber:innen geworden sind. Heute will die Linkspartei mit den Parteien regieren, die diesen Krieg begonnen haben: der SPD und den Grünen.

Stattdessen müssen wir die Tradition der Anti-Kriegsbewegung der 1970er Jahre wieder aufnehmen. Denn in einem Kontext von wilden Streiks wie die von Minen- und LKW-Fahrer:innen, civil rights und Black Power Movement nach Stonewall sowie die Gay Liberation Front, kämpfte auch diese Schulter an Schulter mit Arbeiter:innen, die als solche in diese Bewegungen intervenierten und revolutionäre Perspektiven aufwarfen.

Nur wenn wir uns auch so organisieren, können wir Mobilisierungen und Streiks stemmen und unsere Forderungen, wie alle Geflüchteten aufzunehmen – unabhängig davon, ob sie auf der Liste des Auswärtigen Amtes oder anderer imperialistischer Organisationen stehen oder nicht –, und das Ende jeglicher imperialistischer Interventionen und den Rückzug der imperialistischen Armeen und Konzerne, durchsetzen. Die Unterdrückten, also die unterdrückten Völker und besonders die Frauen und LGBTQIA+, brauchen die revolutionäre Anführung der Arbeiter:innenklasse, um die reaktionären Sekten und den Imperialismus in einem Wisch zu vernichten.

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