Afghanistan-Analyse #2: Folgt auf die Niederlage des US-Imperialismus eine Intervention Chinas?
Nachdem dem US-Truppenabzug eroberten die Taliban das Land im Sturm. Nun versucht auch China zu intervenieren. Welche Entwicklungen nehmen die Großmächte nun? Eine Analyse.
In Afghanistan hat die islamistischen Taliban das ganze Land erobert nachdem die imperialistischen Kräfte um die USA und Deutschland das Land verlassen haben. Doch nicht nur für Geflüchtete und den deutschen Imperialismus hat die rasche Eroberung durch die Fundamentalist:innen extreme Konsequenzen. Auch die Macht des US-Imperialismus gerät ins Wanken und China versucht einen Vorteil daraus zu ziehen.
Krachende US-Niederlage
Der längste Konflikt in der Geschichte der USA endet nun in einer Niederlage. Denn das Ziel ist gescheitert. Afghanistan wurde nicht zu einem formal unabhängigen Staat, der aber unter Kontrolle der Großmacht bleibt. Damit scheiterte auch die Anwendung der klassisch nordamerikanischen Strategie, die eben im Errichten von Marionettenregierungen durch militärische Besatzung besteht.
Es war schon lange abzusehen, dass der Krieg so enden würde. Mit dem Wahlversprechen, sich aus dem Land zurückzuziehen, wurden sowohl Barack Obama als auch Donald Trump zum Präsident der USA gewählt. Bekannterweise hielten letztendlich jedoch beide an der insgesamt 20-jährigen Invention und der alten Strategie aus dem 20. Jahrhundert fest, in ihrem Interesse Demokratien – natürlich bürgerliche – zu etablieren.
Damit entpuppt sich der Einsatz als das wohl letzte Projekt, das die USA als Supermacht angeführt haben: Der Krieg gegen den Terror geht mit dem Ende einem gescheiterten inter-imperialistischen Übereinkommen zwischen fast allen Großmächten zur Durchsetzung geostrategischer Interessen und einer Aufteilung der Welt in ihrem Interesse vorbei. Zudem wird die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten auch durch die inneren Krisen des Kapitalismus wie die Finanzkrise von 2008/2009, die Überproduktionskrisen und die Pandemie erhöht. Es ist unwahrscheinlich, dass die USA ihre Alliierten weiterhin zur Durchsetzung eigene Interessen hinter sich wissen können. Diese Wendung zeigt sich auch dadurch, dass die USA vom Multilateralismus (Bündnis zwischen vielen Staaten) zum Bilateralismus (Verträge mit allen Ländern einzeln) übergangen sind. Besonders Donald Trump hat diese Entwicklung – u.a. mit seiner “America First”-Wahlkampagne und dem Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – vorangetrieben.
Die Niederlage stellt eine Schwächung des Imperialismus auf mehreren Ebenen dar, für die die US-Bourgeoisie die Arbeiter:innen zur Kasse bitten wird. Die USA haben für diesen Einsatz hohe Schulden aufgenommen, die die US-amerikanischen Arbeiter:innen in Form von Steuern voraussichtlich bis 2050 abbezahlen müssen. Mit 133 Milliarden US-Dollar gaben sie mehr aus, als der gesamte Marshallplan für Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gekostet hat. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch die Zahl der Toten ist erschreckend. Eigenen Angaben zufolge verloren 2.448 US-amerikanische Militärangehörige, 66.000 afghanische Soldat:innen und Polizist:innen, 1.144 Mitglieder anderer staatlicher Organe Afghanistans, 47.245 Zivilist:innen, 50.000 Taliban- und andere Kämpfer:innen sowie 1.000 Menschenrechtsaktivist:innen und 100 Journalist:innen ihr Leben.
Der US-Imperialismus hat mit dem Ende des Afghanistan-Einsatz allerdings kein Ende seiner kriegerischen Politik beschlossen. Schon länger wachsen die Spannungen zwischen der US-Supermacht und dem erstarkten China. Vor allem im Pazifik und um Taiwan – das für die USA bei der Produktion von Computerchips zentral ist – gibt es immer wieder Spannungen. Die USA erhöht ihre Kapazitäten vor Ort seit mehreren Jahren, wovon der Handelskrieg ebenfalls ein Ausdruck war.
Der Abzug der US-Truppen hat in Afghanistan ein Machtvakuum geschaffen. Die Taliban füllen es zwar kurzfristig aus, werden jedoch Verbündete brauchen, um an der Macht bleiben zu können. Diese Entwicklung ermöglicht unter anderem China neue Möglichkeiten, einen weiteren Vorstoß in Westasien zu starten.
Afghanistan ist allerdings nicht nur geostrategisch für die Großmächte interessant, sondern spielt auch sein Mineralvorkommen eine wichtige Rolle. In internen Papieren des Pentagon wurde Afghanistan als das „Saudi-Arabien für Lithium“ bezeichnet. Der US-amerikanische Nachrichtensender CNN behauptet, die Taliban verfüge nunn über Mineralien im Wert von einer Billionen US-Dollar. Das entspräche ähnlich viel Lithium wie in ganz Bolivien. Zynisch titeln sie, die Welt würde diese Rohstoffe “dringend brauchen”. Dieser wirtschaftlicher Verlust stellt für die US-Macht eine schwere Niederlage dar, da sie für das Projekt der grünen Erneuerung zentral sind. Gleichzeitig sehen sich die Vereinigten Staaten nun gezwungen, ihre Kräfte stärker auf den Pazifik zu fokussieren, der im Konflikt mit China immer wichtiger wird.
Neue Möglichkeiten für China?
Während der US-Imperialismus sich im Niedergang befindet, versucht China, daraus Kapital zu schlagen. Die aufsteigende asiatische Macht setzt dabei – im Gegensatz zum US-amerikanischen Imperialismus – aber nicht auf militärische, sondern wirtschaftliche Interventionen.
„Wir respektieren die Wünsche und Entscheidungen des afghanischen Volkes“, sagte Hua Chunying, Sprecherin des chinesischen Außenministeriums. Ihre zynische Aussage ist das erste Anzeichen dafür, dass Peking bereit ist, eine von den Taliban geführte Regierung in Kabul zu unterstützen.
Die Bürokratie der „Kommunistischen Partei Chinas“ (KPCh) hat dabei kein Interesse an „Frieden“ oder einer Verbesserung der Lebensbedingungen des afghanischen Volkes. Sie würde – im wahrsten Sinne des Wortes – über Leichen gehen, um ihre politische Expansion in Asien weiter auszubauen und schreckt daher auch nicht vor einem Bündnis mit islamischen Fundamentalist:innen, die zudem eng mit der lokalen Bourgeoisie verbunden sind, zurück. Während von Respekt fabuliert wird, schließt China also mit den reaktionärsten Banden Pakte und tritt die Rechte der Frauen und Arbeiter:innen mit Füßen.
In einem Leitartikel kam die „Global Times“ – eine staatlich unterstützte, nationalistische, chinesische Boulevardzeitung – zu dem Schluss, dass die Rückkehr der Taliban an die Macht ein „schwerer Schlag“ für die Glaubwürdigkeit Washingtons sei. „Der verzweifelte Rückzugsplan der USA zeigt die Unzuverlässigkeit der amerikanischen Verpflichtungen gegenüber ihren Verbündeten: Wenn ihre Interessen es erfordern, ihre Verbündeten im Stich zu lassen, wird Washington nicht zögern, jeden Vorwand zu finden, um dies zu tun“, so der chinesische Artikel. China hat seinen Dialog mit Taiwan, wo viele Computerchips – die wiederum für sämtliche Elektronik unabdingbar sind – hergestellt werden, deutlich verschärft. Es wird versucht, die US-Niederlage in Afghanistan so zu verkaufen, dass die USA nun kein verlässlicher Partner mehr für Taiwan darstellen können, weshalb das Land sich nun China annähern sollte. Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Vielmehr versucht China versucht seit Jahren, auf technologischer Ebene in der Branche aufzuholen – ohne Erfolg. Die USA wollen verhindern, dass sich daran etwas ändert.
Analyst:innen gehen davon aus, dass China seinen Einfluss in Afghanistan nun ausweiten wird, sofern seine eigenen Sicherheitsbedenken aus dem Weg geräumt werden können. Ihre größte Sorge hängt dabei mit der Region Xinjiang im eigenen Land zusammen. In der an Afghanistan angrenzenden Region werden mehr als eine Million Uigur:innen und andere muslimische Minderheiten in Lagern gefangen gehalten. Auch Zwangsarbeit, beispielsweise in der Baumwollindustrie, gehört zur Lebensrealität der unterdrückten Minderheiten. Immer wieder kommen Befreiungsbewegungen auf, die sich von China lossagen wollen, was die KPCh-Bürokratie bisher zu verhindern wusste.
Eine Voraussetzung für ein Bündnis zwischen der Volksrepublik und den Taliban wäre daher, dass sich Letztere an die unterdrückerische Politik Ersterer in Xinjiang annähern. In den Vereinbarungen müssten die paschtunischen Fundamentalist:innen außerdem zusagen, die Islamische Bewegung Ostturkestan im Griff zu behalten, sodass innere Widersprüche innerhalb Chinas vermieden werden. Diese ist in der nordöstlichen afghanischen Grenzprovinz Badachschan präsent und unterhält Verbindungen zu besagten Befreiungsbewegungen.
Eine wichtige Vermittlerrolle könnte dabei Pakistan spielen. Das Land ist eines der 54, die die chinesische Politik in Xinjiang unterstützten. Gleichzeitig unterhielt Pakistan im Gegensatz zu vielen anderen Ländern schon immer diplomatische Beziehungen zu den Taliban. Die Grenzregion dient ihnen daher als Rückzugsgebiet für ihre Kämpfer:innen. „Teile des pakistanischen Geheimdienstes und des Militärs unterhielten seit Gründung der Taliban enge Beziehungen mit diesen, bilden diese faktisch aus. Das erklärt auch, warum sie eine schlagkräftige und zentralisierte Armee aufbauen konnten“, analysierte die GAM dazu, die dort über eine Sektion verfügt. Die Islamische Republik Pakistan versucht, die inner-imperialistischen Konflikte zu nutzen, um sich mit chinesischer Rückendeckung als Regionalmacht aufzubauen. Claude Rakisits, ein ehemaliger australischer Sicherheitsbeamter und Afghanistan-Experte, sagte, die Taliban würden ihre Beziehungen zu China über jegliche Verbindungen zur Islamischen Bewegung Ostturkestan stellen. Daher ist davon auszugehen, dass sie der KPCh die Kontrolle der Region zusagen werden.
Ein Bündnis zwischen China und Fundamentalist:innen wäre im Übrigen keine neue Entwicklung. Schon in den Neunzigern schloss China sich dem Kampf der Taliban-Vorgängerorganisation der Mudschaheddins an, nachdem das “Reich der Mitte” die Intervention der damaligen Sowjetunion als “sozial-imperialistisch” charakterisierten. Dabei steht außer Frage, dass die Politik der Moskauer Bürokratie alles andere als fortschrittlich war. Ihr Ziel war, durch langjährige Präsenz einen weiteren, deformierten Arbeiter:innenstaat aufzubauen – das heißt, dass dieser, so wie die Sowjetunion selbst, von einer bürokratischen Kaste verwaltet worden wäre.
Doch die Sorge vor separatistischen Unruhen ist nicht der einzige Grund, der Pekings stalinistische Bürokratie zu politischen Kompromissen mit den frauenfeindlichen und homophoben Fundamentalist:innen treibt. Geostrategische Faktoren wie das Projekt der Neuen Seidenstraße „Belt and Road Initiative“, die im Interesse der Ausweitung des politischen Einflusses Pekings liegen, wiegen schwer. Die Neue Seidenstraße ist Xi Jinpings Vorzeigeprojekt, mit dem drei Kontinente – Asien, Afrika und Europa – und mehr als 64 Länder durch den Bau von Häfen, Straßen und Eisenbahnen miteinander verbunden werden sollen, wobei Peking den Ausgangs- und Koordinierungspunkt bildet. Sie ist zentraler Bestandteil der Strategie Chinas, das bis 2049 zur hegemonialen Weltmacht aufsteigen will.
“Wenn China eine Arbeitsbeziehung zu einer von den Taliban geführten Regierung in Afghanistan aufbauen kann, würde dies Peking wirtschaftliche Vorteile bringen, wie z.B. die Möglichkeit eines Transitkorridors durch das Land zum Gwadar-Hafen, der für China in Pakistan gebaut wurde“, analysierte Gideon Rachman von der Financial Times. China wünscht sich also Stabilität in Afghanistan, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die bestehende Projekten der Neuen Seidenstraße in Pakistan und in den zentralasiatischen Staaten zu schützen und Afghanistan für zukünftige Investitionen zu öffnen.
Qian Feng, Forschungsdirektor des Nationalen Strategieinstituts an der Tsinghua-Universität in Peking, zufolge zeigen China und Afghanistan „einen starken politischen Willen, die Zusammenarbeit im Rahmen der Gürtel- und Straßeninitiative auszuweiten“. Erreiche man Stabilität in Afghanistan, „würde dies zweifellos den Güterverkehr zwischen China und Eurasien erheblich erleichtern“, so Feng. Er schreckt nicht davor zurück, offen zuzugeben, dass ein großer Einfluss Chinas auf Afghanistan definitiv den wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen der aufsteigenden Weltmacht dient. Aus denselben Gründen haben sich auch Russland und der Iran bereits dem Votum Chinas für den Beginn einer neuen politischen Ära in Afghanistan angeschlossen.
Die Taliban-Regierung wird trotz der Ablehnung der imperialistischen Intervention durch die Bevölkerung nicht in der Lage sein, die strukturellen Probleme des Landes zu lösen. Daraus könnten sich viele Widersprüche ergeben – nicht nur für den US-Imperialismus, sondern auch für China. Denn der Regierungswechsel in Afghanistan bietet der KPCh zwar auf der einen Seite neue Möglichkeiten, doch birgt er auf der anderen auch große Gefahren. Vor Ort scheiterte nicht nur die US-Intervention, sondern endete auch die der Sowjetunion in einer Niederlage. Die erste große Intervention der Volksrepublik im Nahen und Mittleren Osten, aus dem diese sich bis jetzt herausgehalten hatte, wird zeigen, ob sie in der Lage ist, einen weiteren Schritt in die Richtung einer imperialistischen Weltmacht zu gehen.
Die wichtigsten Fragen sind also nicht nur, ob die Taliban das durch den Abzug der USA entstandene Machtvakuum füllen können, sondern auch, ob China trotz seiner langjährigen Politik der „Nichteinmischung“ die nächste Supermacht werden kann, die versucht, ein Kapitel in der Geschichte Afghanistans, der Region und letzten Endes auch der Welt zu schreiben.
Im ersten Teil haben wir uns mit der Rolle Deutschland in der Region auseinander gesetzt und analysieren wie die Taliban so mächtig werden konnte:
Afghanistan-Analyse #1: Wie der Imperialismus die Taliban stark gemacht hat
Im nächsten Teil werfen wir eine Perspektive auf:
Hier setzen wir uns mit der Frage von Flucht auseinander:
Afghanistan: Flucht aus 20 Jahren imperialistischer Intervention