Ära der Diversität des Bonapartismus und Erdogan (Teil I)
Warren Montag, Professor für Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft am Occidental College in Los Angeles, Kalifornien, hat Halis Yildirim über die Türkei unter Erdogan interviewt.
Warren Montag: Kannst du den Prozess beschreiben, der zu einem bonapartistischen Regime in der Türkei unter Erdogan führte? Was waren die wichtigsten Schwellen, die in diesem Prozess übertreten werden mussten, sowohl rechtliche als auch wahlbedingte und soziale, die Klassenkämpfe und Fragen der nationalen Selbstbestimmung betrafen (z.B. die kurdische Frage)?
Halis Yildirim: Während der ersten sieben oder acht Jahre der AKP-Regierung wurde diese in den westlichen Medien und von liberalen Kräften äußerst enthusiastisch und positiv bewertet. Die liberale Ideologie hat eine lineare Entwicklung für die Türkei vorgesehen, welche auch als „liberaldemokratische und postmodernistische Projektion“[1] bezeichnet wird. Der Trennung zwischen dem Volk und seiner Regierung durch einen mächtigen kemalistischen Staat sei in dieser Phase endlich ein Ende gesetzt worden. Die neoliberale Wirtschaftspolitik, die fast alles im Land privatisiert hat und dank des günstigen Geldes viele Kredite im eigenen Land verteilen durfte, gab den Anschub für das Wachstum der Profite türkischer Kapitalist*innen. Der Glaube, dass die türkische Bourgeoisie unter der Führung der AKP den alten Staatsapparat entmachten und die Wirtschaft durch Kredite ankurbeln könne sowie automatisch die Demokratisierung mit sich bringen würde, ist auf vielen Ebene gescheitert. Dieser Glaube hatte sich damals so tief verankert, dass davon ausgegangen wurde, die AKP Regierung könne ähnlich dem protestantischen Wandel eine Reformation im Islam auslösen und somit würde eine islamische Demokratie nach westlichem Modell möglich werden. Also eine Art des modernen, islamischen Kapitalismus. Allerdings haben die freigesetzten Kräfte der türkischen Bourgeoisie einen aggressiven Bonapartismus hervorgebracht.
Die Europäische Union (EU) wollte aus der Türkei ein Land kreieren, das einerseits wirtschaftlich stark genug ist, um Produkte aus der EU einkaufen zu können, und andererseits ein Land, das günstige Produktionsbedingungen durch das Zur-Verfügung-Stellen seiner billigen Arbeitskraft garantiert. Darüber hinaus sollte die Türkei günstige Lieferantin von Naturschätzen und Agrarprodukten bleiben. Dafür musste die türkische Bourgeoisie aber ihre Kaufkraft im Land erhöhen, was durch die Verschuldung der Arbeiter*innenklasse und weiten Teilen des Kleinbürgertums geschah. Da der türkische Binnenmarkt jedoch keine Möglichkeit bietet, die Kaufkraft zu erhöhen, musste die Türkei, um auch die Anforderungen der EU zu erfüllen, eine regionale Macht werden.
In einer Region mit sehr vielen Kriegen, Krisen und Konflikten kann die Türkei keine Regionalmacht werden, ohne eine aggressive Politik zu fahren. Der AKP-Bonapartismus ist ein gemeinsames Projekt der gesamten Bourgeoisie. Die türkische Bourgeoisie hat die AKP in vielen Phasen der Machtergreifung und -befestigung unterstützt, wie bei der Beseitigung des alten maroden Staatsapparates, bei der neoliberalen Wirtschaftspolitik, bei den Angriffen auf die kurdischen Gebiete in der Türkei und in Syrien, bei dem Verbot der Streiks usw.
Erdogan musste erkennen, dass auch der türkische Staat den Fragen der Strategie unterworfen ist: Rückzug, Offensive und Defensive sowie geordneter Aufbau der nächsten Angriffe. In der letzten Phase konnte sich dieses Regime aufgrund von kriegerischen Aktionen und Bedrohungen nicht nachhaltig stabilisieren, weil die Türkei wirtschaftlich und außenpolitisch gescheitert ist. Die Stabilisierung des Regimes für Erdogan setzt entweder die Faschisierung des Landes unter einer neuen Führung voraus, für die die Bereitschaft und Stärke in vielen Teilen bisher fehlt, oder Erdogan führt neue Kriege, auch wenn diesen Kriegen Grenzen gesetzt sind. Erdogan versucht durch kontrollierte Kleinkriege gegen das kurdische Volk die türkische Bourgeoisie zu disziplinieren und sie als Säule seiner Politik zu behalten.
Die türkische Bourgeoisie kann Erdogan jederzeit fallen lassen, je nachdem, ob seine Politik und Entscheidungen zu gebrauchen sind oder nicht. Deshalb muss Erdogan immer wieder die Notwendigkeit seiner Person und damit verbunden die Notwendigkeit seiner Maßnahmen hervorheben. Er muss Projekte entwickeln oder Krise auslösen, die ihn als einzige Kraft darstellen, die die Ziele der türkischen Bourgeoisie umsetzen kann. Erdogan weiß, dass seine Unterstützung aus der Bourgeoisie nicht stabil ist. Er kann sich den Staatsapparat nicht ganz unterwerfen, obwohl er den Apparat vielmals liquidiert hat. Das liegt daran, dass die Spaltung nicht im Staatsapparat zu finden ist, sondern in der durch Fraktionen aufgeteilten, türkischen Bourgeoisie. Deshalb kommt es immer wieder zu solchen Erscheinungen, dass der Staatsapparat Erdogans Willen nicht vollständig umsetzen kann. Das führt zu widersprüchlichen Phänomenen in der Türkei. Während das Verfassungsgericht derzeit für die Meinungsfreiheit einige Entscheidungen türkischer Gerichte revidiert – wie im Fall der „Akademiker für den Frieden“ – werden sehr viele Menschen aus ähnlichen Gründen wieder vor Gericht gestellt. Daher ist es durchaus möglich, dass einige Gesetze und Maßnahmen zurückgenommen werden, weil sich die Unzufriedenheit bis in die Kreise der AKP ausbreitet. Erdogans Regime fährt einen politischen Zickzackkurs, weil dessen Basis auf Dauer unter diesen Umständen nicht zu stabilisieren ist.
Das führt zu einer weiteren Frage: Kannst du die Bedingungen erläutern, die die Basis für Erdogans anhaltende Macht schaffen?
Der heutige türkische Staat ist wie aus dem Gesicht eines Kleinbürgers geschnitten. Mit dem Beginn der AKP-Regierung 2002 hat er sich personell grundlegend erneuert. Die Kinder von Kleinhändler*innen nehmen im Staatsapparat nun viel mehr Raum ein als früher. Das Gesicht des türkischen Staates hat sich von einem gut ausgebildeten, repressiven nationalen zu einem religiösen, repressiven nationalen Apparat gewandelt. Das bedeutet, dass Erdogan keinen fähigen Menschen neben sich duldet und somit alle politischen Erscheinungen auf Kleingeister zurückdrängt. Die Herrschaft des Bonapartes lässt keine fähigen Personen neben der eigenen zu. Alle im Staatsdienst haben als einzige Aufgabe, die Wünsche und Gedanken Erdogans, egal wie banal sie sind, umzusetzen. So etwas setzt keine große Fähigkeit voraus. Daher werden sehr viele Posten im Staatsdienst auf Grundlage der politischen Bindung an das Regime verteilt und nicht nach der jeweiligen Fähigkeit. Das Kleinbürgertum sieht im Erdogan-Regime nicht nur seine politische „Weisheiten“, sondern erkennt sich in der Zusammensetzung des Staates selbst. Die AKP-Regierung hat nicht nur die Verschmelzung des Kleinbürgertums mit dem Staatsapparat vorangetrieben, sondern hat viele staatliche Aufgaben auf islamische Sekten ausgelagert. Diese vorher unbedeutenden Sekten füllen nun eine materielle, kulturelle und soziale Rolle aus, die teilweise, oft aber hauptsächlich durch kommunale Strukturen finanziert wird. Daher will die AKP die in den Wahlen an die HDP verlorenen Städte, die zum Großteil kurdische Städte sind, durch Mittel der staatlichen Gewalt wieder unter Kontrolle bekommen, um die eigenen Strukturen aufrecht zu halten. Die Wiederholung der Wahl in Istanbul und die Zwangsverwaltung der Städte Amed (Diyarbakir), Van und Mardin stellen den Versuch dar, das AKP-Regime finanziell abzusichern.
Die Bindung von Erdogans Bonapartismus an das Kleinbürgertum konnte man während der Währungskrise in der Türkei sehr klar erkennen. Erdogan erklärte immer wieder, dass Dollar in Lira umgetauscht werden sollten. Unerwähnt blieb, wie gering die Menge an Dollars ist, die sich in türkischen Haushalten befindet und in welcher Relation diese Menge zum globalen Dollarvolumen steht. Stattdessen wurden im Fernsehen Bilder ausgestrahlt, die zeigen sollen, wie Kleinladenbesitzer*innen und Kleinhändler*innen Erdogan unterstützen. Einmal auf destruierende Art, indem diese Dollarscheine verbrennen oder auf Dollarscheine trampeln und sie auf dem Boden zerfetzen. Und auf motivierende Art, indem einige Ladenbesitzer*innen bekannt gaben, beim Vorzeigen des Umtauschbeleges von Dollar in Lira, Geschenke und Preisreduzierung anzubieten.
Türkische Kleinhändler*innen und Kleinladenbesitzer*innen träumen seit Jahrzehnten von der ausländischen Währung der Kund*innen. Das hat eine eigene Tradition in der Türkei. Im Sommer fahren Hunderttausende aus dem Ausland in die Türkei und geben dort ausländische Währung aus. Diese ausländische Kaufkraft erwirbt in der Türkei Häuser, Kleider, Möbel usw. Allerdings wird diese Kaufkraft nicht produktiv in Betriebe, Fabriken und Ateliers investiert. Daher wissen die Kleinhändler*innen und Kleinladenbesitzer*innen, wenn der Dollar und Euro in Lira umgetauscht wird, dass sofort etwas eingekauft werden wird. In der Türkei wird mit Gold, Dollar oder Euro gespart und in den meisten Fällen mit Lira konsumiert. Erdogan zitiert aus dem kleinhändlerischen (kleinbürgerlichen) ökonomischen Programm und verkörpert als Vertretung dieser Masse die Beschränktheit derselben Klasse. Der Pragmatismus des Kleinhandels dreht sich um diesen Umtausch. Laden und Geschäft laufen solange gut, wie der Umtausch funktioniert. Da eben ihre Kund*innen die ausländische Kaufkraft sind, kümmern sich Kleinhändler*innen nicht viel um die Gesetze der Ökonomie. Erdogans Druck auf die Menschen in der Türkei, die ausländische Währung umzutauschen, ist der Traum der Kleinbürger*in. In deren Überlegungen gibt es keinen Platz, für die weltweiten Bewegungen des Dollars aus den schwachen Ländern in die zentralen Länder der Ökonomie. Dort gibt es keinen Platz für die Überlegung, dass die Türkei es nicht geschafft hat, eine produktive Industrie in Zeiten des günstigen Dollars aufzubauen, weil durch die Privatisierung der produktiven Bereiche die Ökonomie zerstört wurde und von der Kaufkraft der ausländischen Ökonomie abhängige Sektoren erschaffen wurden. Infolge des günstigen Dollars haben sich die Menschen in der Türkei hoch verschuldet, um Wohnungen und Autos usw. zu kaufen, ohne dass sich dabei die Produktivität im Lande erhöht hat.
Der türkische Bonapartismus kennzeichnet sich durch die Kolonialisierung Kurdistans, die Leugnung des armenischen Genozids und die repressive Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse durch einen kapitalistischen Staat. Ich hebe an dieser Stelle drei historische Beispiele des türkischen Bonapartismus hervor: Talat Pascha, Kemal Pascha und Erdogan. Talat Pascha leitete die Maßnahmen zum armenischen Genozid. Kemal Pascha gründete die moderne Türkei, säkularisierte das Land, verwaltete die Plünderung und Verteilung der armenischen, griechischen und assyrischen Güter und befestigte die Kolonialisierung Kurdistans. Erdogan verspricht durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik, eine Regionalmacht aus der Türkei zu machen und die Kolonisierung Kurdistans auf dessen anderen Teile in Syrien und Irak auszuweiten. In den drei Versuchen des Bonapartismus kann man sehen, wie diese versuchen, die Türkei den westlichen Mächten anzugleichen, zumindest das Kräfteverhältnis ausgeglichener zu gestalten. Jedes Mal scheiterten diese Versuche, weil die türkische Bourgeoisie ausländische Gebiete nicht unterwerfen und ausbeuten kann, die für diese Annäherung notwendig sind, da die Türkei aus den inneren Kräfteverhältnissen heraus ihre Wirtschaft nicht erheben kann. Sie ist der westlichen Wirtschaft unterworfen und abhängig von ihr. Die türkische Bourgeoisie heilt ihre Wunden immer wieder dadurch, dass sie das Eigentum bestimmter Teile der Bevölkerung wirtschaftlich zum Zweck des Kapitaltransfers enteignet. Die ursprüngliche Akkumulation in der Türkei ist kein einmaliger Akt gewesen. Er wiederholt sich immer wieder.
[1] Axel Gehring, Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei, Springer Verlag, S. 4