„Ab heute war alles ganz anders.“ – Zum Holodomor-Beschluss des Bundestages
Der Bundestag beschloss Ende November einen Antrag, die große Hungersnot von 1932/33 in der UdSSR als Völkermord an den Ukrainer:innen anzuerkennen. Diese Frage ist unter Historiker:innen jedoch hoch umstritten. Der Bundestag vermengt in seinem Beschluss historische Tatsachen mit politisch motivierten Narrativen. Das alles geschieht vor dem Hintergrund deutscher Interessen im gegenwärtigen Ukrainekrieg.
Ende November 2022 beschloss der deutsche Bundestag einen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP mit dem Titel „Holodomor in der Ukraine: Erinnern, Gedenken, Mahnen“[1] Mit diesem Entschluss reiht sich der deutsche Bundestag in eine bisher recht kleine Zahl an (meist westlichen) Nationalstaaten ein, die die schwere Hungersnot in den Jahren 1932/33 in der Sowjetunion offiziell als Völkermord bezeichnen, unter ihnen Kanada, die USA und Australien. Alle drei Staaten, die ihre eigenen Völkermorde an den indigenen Völkern nie richtig aufgearbeitet haben.
Politik und Geschichte
Es ist selten, dass sich der Bundestag als Experte in historischen Fragen aufspielt, doch die von Kanzler Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ umfasst offenbar nicht nur mit den Aufrüstungsplänen und gewaltigen Waffenlieferungen einen 180-Grad-Schwenk im militärischen Fragen, sondern auch die Produktion neuer außenpolitisch motivierter historischer Narrative.
Zudem wirkt der Bundestag mit seinem Beschluss ganz direkt auf eine wissenschaftliche Debatte ein und behindert somit den historischen Erkenntnisgewinn. Die Einstufung der Hungersnot der Jahre 1932/33 als Genozid an den Ukrainer:innen ist unter Historiker:innen nämlich keineswegs unumstritten. Kritiker:innen dieser Interpretation verweisen darauf, dass es nicht nur in der Ukraine zu dieser Zeit zu schweren Hungersnöten kam, sondern auch in Südrussland und dem Nordkaukasus, besonders an der Wolga und am Don sowie in Südsibirien und besonders verheerend in Kasachstan. Ein Drittel der Kasach:innen verhungerte. Außerdem kritisieren Historiker:innen, dass die Genozid-Interpretation Ursache und Wirkung umkehrt. Sie erklären, die Hungersnot sei nicht Ziel der stalinistischen Politik, sondern lediglich Produkt der totalen Kollektivierung und schnellen Industrialisierung gewesen. Stalin und seine Clique tragen die Verantwortung für das Verbrechen, den Hunger billigend in Kauf genommen zu haben und nicht effektiv bekämpft zu haben, doch war ihre Absicht nicht, wie etwa beim Holocaust, die Ukrainer:innen aufgrund ihres Ukraninischseins mittels Hungers zu vernichten. Diese Vermengung von Ursache und Wirkung führt in der Tendenz dazu, den Genozidbegriff zu verwässern und damit analytisch unbrauchbar zu machen. Der renommierte (aber keineswegs linke) Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier, schrieb in seiner Geschichte der Sowjetunion dazu folgendes:
Letztlich steht daher die Definition des verwendeten Genozidbegriffs zur Diskussion. Bei enger Auslegung müssten solche Befunde dazu führen, ihn abzulehnen. Stalin war gewiss kein Freund der Ukraine, und der Massenterror wütete nicht zuletzt hier. Aber hätte er die ukrainische Bevölkerung gezielt ausrotten wollen, wäre die Verschonung der Städte oder die ‹Mitleidenschaft› der großrussischen Wolgaregion nicht sinnvoll zu erklären. Vielmehr herrschte aufgrund einer ideologiegetriebenen und realitätsblinden, ebenso inflexiblen wie unfähigen diktatorisch-zentralistischen Politik in allen Getreideüberschussgebieten verheerende Not, weil man nach starren Plänen zu viel abzog und eine Katastrophe skrupellos in Kauf nahm.[2]
Besonders die US-amerikanische Geschichtswissenschaft begann in den 80er Jahren vermehrt den Begriff des Genozids zu verwenden. Das Buch des rechten, und offen antikommunistischen Historikers Robert Conquests, welches im Deutschen unter dem Titel: „Ernte des Todes, Stalins Holocaust in der Ukraine 1929-33“ erschien, wurde schnell zum Standardwerk. Die deutsche Geschichtswissenschaft hielt sich aufgrund ihrer Vergangenheit als willige Dienerin einer NS-Geschichtsklitterung zwar lange zurück, aber in den letzten Jahrzehnten bewegte sie sich immer stärker auf dieses Narrativ zu. Dieser Bundestagsbeschluss sollte nun endgültig die Tore für diese Interpretation öffnen und sie an den Hochschulen als standardisierte Lehrmeinung fest etablieren. Historiker:innen, die bei ihrer Interpretation von dieser nun Staatsräson abweichen, werden in Zukunft sicherlich stärkeren Benachteiligungen ausgesetzt sein. Dies dürfte besonders für linke und marxistische Wissenschaftler:innen gelten, die in puncto sowjetische Geschichte bereits heute einen schweren Stand haben.
Der Weg in die Hungerkatastrophe
Die Sowjetunion war bis Ende der 20er Jahre hauptsächlich ein Agrarland. Die Ukraine ihr größtes und ertragreichstes Anbaugebiet. Nach der Oktoberrevolution erkannten die Bolschewiki schnell, dass aufgrund des niedrigen Standes der Produktivkräfte und der Kriegserschöpfung ein Übergang zum Sozialismus noch unmöglich war, sollte keine siegreiche Revolution in anderen Ländern zur Hilfe eilen. Nur ein allmähliches Hineinwachsen des Agrarsektors in freiwillige Genossenschaften und die ausreichende Ausstattung dieser mit industriellen Landmaschinen hätte die Masse der kleinen und mittleren Bäuer:innen überzeugen können, sich dem sozialistischen Projekt anzuschließen. Aufgrund dieser Erkenntnis führte Lenin 1921 die sogenannte „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) ein, welche den Austausch zwischen Stadt und Land mittels Marktmechanismen regelte. Dabei überwachte der Arbeiter:innenstaat mittels Gesetzen und Steuern die soziale Differenzierung im Dorf und steuerte einer Konzentration von Reichtum in den Händen weniger wohlhabender Bäuer:innen (genannt Kulak:innen) bewusst entgegen. Dies führte zur schnellen Erholung der Landwirtschaft von den Erschütterungen des Bürgerkrieges. Erträge und Viehbestände wuchsen rasch an und es bildete sich auch eine schmale Schicht produzierendes Kleingewerbe.
Diese Politik, erzwungen aufgrund der drückenden Isolation der Sowjetunion, barg aber auch Gefahren. Bereits 1923 erkannte Leo Trotzki, dass die Preise für Industrieerzeugnisse und landwirtschaftliche Güter stark auseinandergingen, sodass die verstaatlichte Industrie kaum noch Abnehmer:innen für ihre Produkte fand und der Staat zu Verlusten Getreide einkaufen musste, um die Städte zu versorgen. Das ließ die industrielle Entwicklung straucheln und förderte die soziale Differenzierung auf dem Dorf. Als Lösung für diese Probleme schlug die linke Opposition im Gegensatz zur herrschenden Stalin-Bucharin-Fraktion eine raschere Industrialisierung und den Einsatz erster gesamtwirtschaftlicher Pläne vor. Die Bauernschaft sollte schneller in das sowjetische System integriert werden und durch ökonomische Anreize und die Vorteile einer stärkeren Industrialisierung der Landwirtschaft freiwillig in die Kolchosen strömen. Dieses Programm sah ein moderates Tempo vor und setzte strikt auf ökonomische statt auf administrative oder gar gewaltsame Mittel. Stalin und Bucharin auf der anderen Seite beschimpften ihre politischen Gegner:innen als „Überindustrialisier“ und wichen von ihrem Kurs auf die Bauernschaft nicht ab. Man dachte, wenn man den Bäuer:innen nur die Möglichkeit gebe, sich frei zu bereichern, dann würden sie schließlich ganz automatisch in den Genossenschaften aufgehen. Der reale Effekt war hingegen gegenteilig, es bildete sich eine wohlhabende Schicht an Kulak:innen, die anfingen, das Dorf politisch und ökonomisch zu dominieren. 1928 äußerten sich zum ersten Mal die fatalen Folgen dieser Politik. Der Kulak begann, sein Getreide zurückzuhalten und auf niedrigere Preise zu hoffen. Das führte in den Städten zu Mangel und drohte, sich zu einer Hungersnot auszuwachsen.
Trotzki, der die Geschehnisse aus dem Exil genau verfolgte schrieb dazu:
Die Regierung versuchte, die Sache so darzustellen, als sei der Kornstreik hervorgerufen durch die nackte Feindseligkeit des Kulaken (woher kommt nur mit einem Mal der Kulak?) gegen den sozialistischen Staat, d.h. durch politische Motive allgemeiner Art. Aber zu solchem „Idealismus“ ist der Kulak wenig geneigt. Wenn er sein Getreide versteckte, so weil es unvorteilhaft war, es zu verkaufen. Aus demselben Grunde gelang es ihm, breite Kreise des Dorfes unter seinen Einfluss zu bringen. Bloße Repressalien gegen die Kulakensabotage waren daher sichtlich unzulänglich: notwendig war eine Änderung der Politik.[3]
Stalin und seine bürokratische Clique mangelte es aber an einer Theorie, warum sich die Bäuer:innen so verhielten. Sie reagierten dementsprechend auf rein empirischer Grundlage und begannen eine Phase „außerordentlicher Maßnahmen“, die das von ihnen selbst verursachte Getreideproblem mittels administrativem Drucks lösen sollten. Von einer Abkehr von der NÖP war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede, auch vor großen Plänen scheute man sich noch. Der erste Entwurf des ersten Fünfjahresplans steckte nur sehr konservative Ziele. Doch die Getreideexpeditionen in die Dörfer und die immer härteren Repressionen gegen die Kulak:innen führte nicht zum gewünschten Ergebnis, im Gegenteil, sie zerstörten das wackelige Vertrauen, was sich der Arbeiter:innenstaat auf dem Land erarbeitet hatte und führte dazu, dass sich die Landbevölkerung feindlich gegen die sowjetischen Vertreter:innen zu verhalten begann. Die Notwendigkeit, Getreide zu beschaffen, blieb aber weiter bestehen und verschärfte sich noch durch einbrechende Erträge. Doch anstatt den Griff schnell wieder zu lockern und wieder zu ökonomischen Anreizen und Steuerpolitik zurückzukehren, verrannte sich die Stalinsche Bürokratie kopflos in immer neuen, immer repressiveren Maßnahmen, die zum Teil in Schießereien zwischen Roter Armee und bewaffneten Bäuer:innengruppen gipfelten. Aus diesen Erfahrungen schloss die Bürokratie, wieder vollkommen empirisch, dass das Dorf antisowjetisch eingestellt sei und nun der Widerstand der Kulak:innen mit allen Mitteln zu brechen sei. Wobei sie immer weniger zwischen wirklichen Kulak:innen und einfachen Mittel- und Kleinbäuer:innen unterschied. In ihren Augen war jede Bäuer:in, die sich gegen die Maßnahmen zur Wehr setzte, die ihr Getreide vergrub und ihr Vieh schlachtete, ein Kulak. Daraus entstand das Programm der „totalen Kollektivierung binnen kürzester Frist“ und der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“, die die vollständige Kontrolle der Bürokratie über den Agrarsektor herstellen sollte. Gleichzeitig weitete man die Ziele des ersten Fünfjahresplan überoptimistisch aus.
„Der Opportunismus verkehrte sich, wie es in der Geschichte nicht selten zu sein pflegt, in sein Gegenteil, das Abenteurertum. […] Vom Radikalismus der eigenen Wendung selbst überrumpelt, vermochte oder verstand es die Regierung nicht einmal, die elementarste politische Vorbereitung auf den neuen Kurs zustande zu bringen.“[4]
Das Ergebnis dieser ruinösen Politik war ein regelrechter Bürger:innenkrieg auf dem Land. Die Bäuer:innen fürchteten um ihre Existenz und wehrten sich passiv und immer häufiger auch mit Waffengewalt gegen die rücksichtslosen Getreiderequirierungen. Die Produktivität der Landwirtschaft brach zusammen, die erzwungene Kollektivierung tötete das Eigeninteresse der Bäuer:innen und schuf ökonomisch unrentable Großflächen, ohne gleichzeitig die nötigen Maschinen zur Verfügung zu stellen, um diese effektiv bewirtschaften zu können. Die Bevölkerung begann, als der Hunger einsetzte, vom Land in die Städte zu fliehen, daraufhin führte man das unter dem Zarenreich bekannte Binnenpasssystem wieder ein und beraubte die Bevölkerung ihrer Freizügigkeit. Die Städte litten ebenfalls Mangel: das Lebensmittelkartensystem aus dem Bürger:innenkrieg wurde wieder eingeführt und groteskerweise von der intensivierten Propaganda als „Übergang zu sozialistischer Verteilung“ angepriesen.
Gleichzeitig exportierte die UdSSR weiterhin Getreide ins Ausland, um die nötigen Maschinen für die forcierte Industrialisierung mit Devisen einzukaufen. Eine Politik, die den Hunger als Folge hinnahm. Hatte die UdSSR mit Lenin an ihrer Spitze bei der großen Hungersnot in den Jahren 1921/22 die Weltöffentlichkeit noch über ihre brenzliche Lage in Kenntnis gesetzt und um ausländische Hilfe gebeten, so verschleierte die sowjetische Presse in den Jahren 1932/33 die Hungerkatastrophe und leugnete noch bis in die 80er Jahre die Ausmaße des Hungertodes. Zwar begann die sowjetische Führung ganz ihres empirischen Politikstils treu, zögerlich mit Plansenkungen und Hilfslieferungen in besonders betroffene Gebiete, doch tat sie dies zu spät und zu wenig. Erst nach einem gewaltigen Massensterben konnte die Hungersnot eingedämmt werden.
Schätzungen zu Folge starben in der UdSSR als Folge dieser Hungersnot zwischen fünf und acht Millionen Menschen. Die Ukraine traf es am härtesten, etwa drei bis vier Millionen Ukrainer:innen verloren ihr Leben. Besonders die Region um Charkiw war betroffen. Auf den Straßen der Stadt kamen täglich Lastwagen vorbei, um die Toten, die zum Teil einfach auf dem Bürgersteig zusammengebrochen waren, einzusammeln.
Mit der forcierten Industrialisierung und Zwangskollektivierung, erlebte die UdSSR aber nicht nur in ökonomischer Hinsicht einen rapiden Wandel. Auch gesellschaftspolitisch fand eine radikale Abkehr von der Leninschen Tradition statt. Der Grundsatz der Selbstbestimmung der Nationen und die daraus gefolgerte progressive Nationalitäten- und Sprachpolitik der ersten Revolutionsjahre, die sich in der Ukraine als eine Periode der „Ukrainisierung“ ausdrückte und das zaristische Sprechverbot der ukrainischen Sprache an Schulen und Universitäten beseitigte, wurde wieder umgekehrt. Die bürokratische Herrschaft mit Moskau als Zentrum trat nun gegenüber den kleinen Völkern der UdSSR zunehmend als „Russenherrschaft“ auf. Zwecks Standardisierung der Ausbildung und reibungsloser bürokratischer Planung wurde die russische Sprache in der Verwaltung und im Bildungswesen wieder dominant. Die „Ukrainisierung“ wurde rückwärts abgewickelt. In Zentralasien wurde vielen Völkern das kyrillische Alphabet von oben auferlegt und kleine Sprachgemeinschaften lösten sich zusehends auf.
Die schweren planerischen Fehler der diktierenden Stalingruppe brachten große Teile der Partei gegen ihre Führung auf, linke und rechte Kritiker:innen der Kollektivierung stellten zunehmend politische Übereinstimmungen fest und es entstanden mehrere geheime Oppositionsplattformen innerhalb der Partei, die sich für Stalins Absetzung aussprachen. Bedroht von dieser Entwicklung reagierte die Stalingruppe mit intensivierten Säuberungen der kommunistischen Partei von allen Kräften, die der uneingeschränkten Macht und Verfügungsgewalt der Bürokratie kritisch gegenüberstanden. Auch in der ukrainischen kommunistischen Partei wurden tausende Kommunist:innen zunächst nur wegen ihrer Verbindungen zur linken und anschließend zur rechten Opposition, dann immer häufiger wegen jeglicher noch so vorsichtig formulierter Kritik an der Politik der Stalingruppe ausgeschlossen und in Gefängnisse und dann Lager gesperrt wo die meisten von ihnen im Großen Terror 1937/8 ermordet. Dies geschah auch in allen anderen Unionsrepubliken und erfasste vor allem alte Parteimitglieder, die sich an die Zeiten unter Lenin noch gut erinnern konnten. Die Führung in Moskau interpretierte das Verhalten der ukrainischen, wie auch dasjenige der anderen kleinen Sowjetrepubliken häufig als Ausdruck eines „kleinbürgerlichen Nationalismus“ der sich gegen unionsweite Pläne wehrte und auf die Erhaltung der Autonomie setzte. Ein Vorwurf, der in den seltensten Fällen zutraf. Der Grund für solche Vorwürfe lag in dem Umstand begründet, dass die stark zentralisierte Bürokratie keinerlei regionale Autonomie zulassen konnte. Ihr Modell der bürokratisch kommandierten Planwirtschaft ließ, anders als eine rätedemokratisch organisierte Planwirtschaft, keinen Platz für nationale Selbstbestimmung.
Wir können also abschließend feststellen: Die Stalinsche Führung der UdSSR war für die Hungersnot verantwortlich. Mehr noch, sie unternahm zu wenig und zu spät gegen sie und leugnete nach innen und nach außen ihre Existenz. Dieses Verbrechens klagte auch Trotzki in den frühen 30er Jahren die Stalinsche Führung an. Das „Bulletin der Opposition“ druckte als einziges kommunistisches Presseorgan Berichte über die Hungersnot und wurde dafür von der offiziellen Komintern Presse mit Hass übergossen.
Doch wir können auch feststellen, dass es so etwas wie einen „Hungerplan“, wie ihn die Nazis ausgearbeitet hatten, bevor sie ein Jahrzehnt später ihren Vernichtungskrieg gegen die UdSSR starteten, nicht gegeben hat. Die Bürokratie war in die Kollektivierung durch ihre eigenen politischen Fehler und ihren Mangel an Voraussicht, wie Trotzki sich ausdrückte: gewissermaßen „hineingeschliddert“. Die Hungersnot war also nicht planmäßig, sondern entstand aufgrund eines Mangels an Planung, grober Fahrlässigkeit und völlig unrealistischer Ziele. Gleichzeitig ist keine „Sonderbehandlung“ der Ukrainer:innen aufgrund ihres Ukrainischseins zu erkennen, außerhalb von der offensichtlichen Tatsache, dass die Ukraine, das größte zusammenhängende Ackerland in der UdSSR besaß und daher am stärksten unter den Zwangsmaßnahmen gegen die Bauernschaft zu leiden hatte. Repressalien trafen alle Kommunist:innen, die sich ihre Ideale erhalten hatten. Die zunehmende “Russifizierung” traf ebenfalls nicht ausschließlich die Ukraine, sondern alle Völker, die das Pech hatten, in der Peripherie der UdSSR zu leben und nicht die Maschinensprache der bürokratischen Schreibmaschine in Moskau zu sprechen.
Historisch lässt sich die Genozidthese also nicht nachweisen. Bis jetzt wurden auch nach der Archivöffnung 1991 keine Belege gefunden, die eine planmäßige Herbeiführung, und noch dazu speziell gegen das ukrainische Volk, hinreichend beweisen würden. Auch kann hier nicht von einem Verbrechen der „Russ:innen“ an den „Ukrainer:innen“ gesprochen werden, die ukrainische kommunistische Partei bestand vor und nach ihrer Säuberung zu Tausenden aus ethnischen Ukrainer:innen, die die Weisungen Moskaus willentlich umsetzten, ebenso wie die Kommunistische Allunionspartei keine Partei der sowjetischen Russ:innen war; ihre Mitgliedschaft war stattdessen (trotz der Dominanz der russischen Sprache) ethnisch hochgradig divers. Nur wenn man diese Ebene völlig ausblendet, kann der Holodomor in nationale Kategorien gepresst werden.
Die Rolle des Holodomors heute
Heute ist der Holodomor Teil des ukrainischen Nationalbewusstseins, welches in scharfer Abgrenzung zu allem, was als russisch identifiziert wird, entstanden ist. 1993 wurde in Kijw ein Denkmal an die Hungerkatastrophe enthüllt. Sowjetische und kommunistische Symbole sind in der Öffentlichkeit verboten. Die UdSSR wird mit „Russenherrschaft“ gleichgesetzt und der Holodomor als eines der Argumente genutzt, sowjetische Denkmäler, auch diejenigen, die an die Befreiung vom Faschismus erinnern, abzureißen. Außerdem wird ein Kulturkampf gegen die russische Sprache und Lebensweise geführt. Gerade seit Ausbruch des Krieges 2014 und des russischen Überfalls 2022 erlebten diese nationalistischen Narrative einen großen Aufschwung. Der Holodomor ist zum Politikum geworden, die historische Wahrheit ist hinter den unmittelbaren Interessen der kämpfenden Staaten zurückgetreten. An der Position zum Holodomor glaubt man nun erkennen zu können, „auf welcher Seite“ jemand in diesem Krieg steht. Das Gedenken an die Toten der Hungersnot wird immer stärker politisch instrumentalisiert.
Auch die russische Seite beteiligt sich an der Radikalisierung dieser Narrative, indem Putin und die offizielle Presse Russlands die Existenz der Hungerkatastrophe leugnen und mit faschistischer Propaganda gleichsetzen. Etwas, das auch große Schäden in der russischen Geschichtswissenschaft anrichtet, der es de facto nicht mehr möglich ist, diese Periode sowjetischer Geschichte frei zu untersuchen.
Es besteht auch in Deutschland ein Zusammenhang zwischen dem Beharren auf dem Genozid-Begriff und einer bestimmten politischen Positionierung gegenüber dem Sozialismus im allgemeinen, aber leider oft vermengt damit, gegenüber Russland und dem gegenwärtigen Krieg im speziellen.
Nach 1991 wurde die Hungerkatastrophe von 1932/33 von Liberalen und Konservativen, sowie von Faschist:innen häufig genutzt, um die Ideen des Marxismus und des Sozialismus im Ganzen zu diskreditieren. Sie wurde mitsamt des Zusammenbruchs der bürokratisch deformierten Arbeiter:innenstaaten in Mittel- und Osteuropa als definitiver Beweis hingestellt, dass Sozialismus und Planwirtschaft zwangsläufig zu Diktatur, Terror, Hunger und Mangel führen müssten. Eine falsche, wenn auch heute weit verbreitete Annahme.
Dazu kommt die Tatsache, dass die deutsche Bourgeoisie bis vor Kurzem die historische Last der Nazizeit tragen musste und bei jedem außenpolitischen Schritt zu Widerbewaffnung und Wiederausweitung der eigenen Militärinterventionen dem Schatten des Holocausts argumentativ begegnen musste. So hatte der Grüne Außenminister Joschka Fischer die erste deutsche Intervention seit 1945 im Jugoslawienkrieg noch mit der Verhinderung eines „zweiten Auschwitz“ zu rechtfertigen. Dieses legitimatorische Defizit des deutschen Imperialismus ist mittlerweile nahezu verschwunden. Die Solidarität mit der Ukraine ermöglicht es der deutschen Bourgeoisie, sich endgültig von ihren „Altlasten“ zu befreien und wieder so zu agieren, als hätte es den Holocaust und den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion niemals gegeben. Und seit dem Bundestagbeschluss ist die Sowjetunion ja schließlich selbst diejenige, die einen eigenen Völkermord begangen hat. Wie praktisch. Die eigenen Verbrechen werden relativiert und in den Hintergrund geschoben. So nennt der Bundestagsantrag Orte der Verbrechen des Faschismus, wie „Wola, Babyn Jar oder Leningrad“ in bewusster Nähe zu den Verbrechen Stalins. Hitlerdeutschland und die UdSSR werden als „zwei totalitäre Regime“ gleichgesetzt unter denen die Ukraine gleichermaßen zu leiden gehabt hätte und Holodomor und Holocaust werden beide eingeordnet in ein und dieselbe „Periode massivster, in ihrer Grausamkeit bis dahin unvorstellbarer Menschheitsverbrechen auf dem europäischen Kontinent“. Da hilft auch kein formelhafter Bezug auf die „Singularität des Holocausts“ mehr – die Bundesregierung hat längst den Boden einer differenzierten historischen Analyse zu Gunsten totalitarismustheoretischer Annahmen und der Verharmlosung von NS-Verbrechen verlassen. Das Ziel dieser historischen Akrobatik wird sogar offen benannt. Aufgrund der historischen „Verantwortung“ müsse man nun, so der Antrag, „die Ukraine als Opfer des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands und der imperialistischen Politik Wladimir Putins im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch unterstützen.“ Der imperialistischen und militaristischen Politik der Bundesregierung sind nun endgültig wieder Tür und Tor geöffnet.
Diese Geschichtsklitterung straft sämtliche Erinnerungspolitik der Bundesregierung in puncto Holocaust Lügen und offenbart den instrumentellen Charakter, mit dem der deutsche Staat die Opfer historischer Verbrechen für seine eigenen außenpolitischen Interessen missbraucht.
Eine marxistische Geschichtsschreibung muss sich ihre Unabhängigkeit von den Universitäten dieses Landes bewahren. Das Beispiel des Holodomorbeschlusses des Bundestages, welcher in den wissenschaftlichen Kreisen der osteuropäischen Geschichte mehrheitlich positiv aufgenommen wurde, beweist, wie eng Geschichtswissenschaft und Politik verwoben sind. Mittels historischer Argumente werden Waffenlieferungen legitimiert, die Interessen des deutschen Imperialismus werden historisch begründet und die jeweils passende Ideologie wird dafür an den Universitäten produziert und verbreitet. Daher ist es umso wichtiger, dass Sozialist:innen historische Fragen nicht ausblenden, sondern sich mit dem Studium der marxistischen Geschichtswissenschaft befähigen, offensiv in wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu intervenieren und diese Hegemoniekämpfe im Namen ihrer Klasse erfolgreich führen zu können.
Fußnoten
[1] Antrag „Holodomor in der Ukraine: Erinnern, Gedenken, Mahnen“, abgerufen unter: https://dserver.bundestag.de/btd/20/046/2004681.pdf (Stand 27.12.2022).
[2] Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, München 2017, S.416.
[3] Trotzki, Leo: Verratene Revolution, in Trotzki Schriften 1, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Band 1.2 (1936-1940), S.720f.
[4] Trotzki, Leo: Verratene Revolution, in Trotzki Schriften 1, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Band 1.2 (1936-1940), S.724 u. 727.