99 Jahre Russische Revolution, Teil 1: Die Februarrevolution
Vor 99 Jahren begann in Russland die Revolution – nicht im Oktober, sondern Anfang November 1917. Russland hatte bis 1918 den julianischen Kalender, der 13 Tage hinter unserem (gregorianischem) Kalender liegt. Wir veröffentlichen zur Feier des heutigen Geburtstags des "Oktoberaufstands" (der nach altem Kalender in der Nacht vom 25./26. Oktober stattfand) im Laufe der gesamten Woche immer ein Kapitel aus unserer alten Broschüre "Oktober im November". Im Teil 1 geht es um die "Februarrevolution".
Die russische Revolution beginnt mit dem Frauentag am 8. März
Die russische Revolution – die erste sozialistische Revolution der Geschichte – begann vor 90 Jahren, im Februar 1917. Das Besondere an der Februarrevolution war, dass die Massen sie gewissermaßen alleine, das heißt ohne die Führung einer revolutionären Partei, durchführten. Die sozialistischen Parteien waren Anfang 1917 auch alles andere als dazu fähig: Die Anführer*innen der reformistischen Partei der Menschewiki, der Bauernpartei der Sozialrevolutionäre und der revolutionären Partei der Bolschewiki waren im Exil oder im Gefängnis, viele von ihnen wurden gleich nach dem Ausbruch des Weltkrieges verhaftet.
Seit Kriegsbeginn waren nun zweieinhalb Jahre ins Land gegangen. Das Zarenreich war militärisch am Ende – die ökonomische und soziale Krise vertiefte sich stets. Russland hatte eine kleine aber gut organisierte Arbeiter*innenklasse in der Industrie, aber es blieb ein Agrarland: rund 80% der Bevölkerung lebte auf dem Land unter der Herrschaft der Großgrundbesitzer*innen, die die Bauern*Bäuerinnen rücksichtslos ausbeuteten.
Heraus zum Frauentag!
Dann kam der 23. Februar (nach unserem Kalender der 8. März – alle weiteren Daten nach dem alten Kalender) 1917, der internationale Frauentag. An diesem Tag kam es traditionell zu Demonstrationen und Streiks. Doch selbst das bolschewistische Komitee des Arbeiterbezirks Wyborg in der Hauptstadt Petrograd sprach sich gegen Streikaktionen aus. Die Revolutionär*innen glaubten, dass die Arbeiterinnen in dieser gespannten Lage und mit so geschwächten Organisationen eine katastrophale Niederlage erleiden würden.
Die Textilarbeiterinnen einiger Betriebe jedoch kümmerten sich nicht um die Sorgen der Organisationen und traten am Morgen des 23. Februars in den Streik. Sie liefen gleich hinüber zu den Metallbetrieben, um auch diese auf die Straße zu bringen. 90.000 Arbeiter*innen traten schließlich in den Streik. Sie hielten Versammlungen ab und demonstrierten für Brot und gegen den Krieg und die Diktakur des Zaren.
Es gab zahlreiche Zusammenstöße mit der Polizei. Von den Wyborger*innen ermutigt, gingen am nächsten Tag auch Arbeiter*innen anderer Bezirke auf die Straße – die Hälfte aller Industriearbeiter*innen Petrograds war im Streik. Am 24. Februar und den folgenden zwei Tagen breitete sich die Bewegung immer weiter aus, immer mehr Arbeiter*innen schlossen sich den Massenaktionen an.
Arbeiter*innen und Soldaten
Die Straßenschlachten, die sich Arbeiter*innen mit der Polizei lieferten, waren brutal und von gegenseitigem Hass geprägt. Aber die Arbeiter*innen gingen von Beginn an ganz anders auf die Soldaten zu. Sie drängten an die Soldaten heran, diskutierten, riefen ihnen zu. Und immer wieder geschah es: Sperrketten wurden durchlässig, Bajonette hoben sich, Soldaten behinderten Polizeiaktionen. „Schießt nicht auf eure Brüder und Schwestern!“ schallte es den Soldaten entgegen. Denn die Armee war regelrecht aufgequollen, angefüllt mit einfachen Arbeiter- und Bauernsöhnen. Jede*r Arbeiter*in hatte irgendeinen Verwandten in der Armee und die Arbeiter*innenschaft war ständig in Kontakt mit Angehörigen der Garnisonen. In der „Geschichte der Russischen Revolution“ schrieb Leo Trotzki dazu: „Im ganzen Lande fanden sich keine … Truppenteile, die es gewagt hätten, zum Schutze des alten Regimes aufzustehen.“
Schon zwei Tage nach dem Beginn der Revolution war Wyborg vollständig in Arbeiter*innenhand. Die Polizisten dort waren geflohen, die Polizeireviere zerstört. Trotz Verhaftungen und Schießbefehl waren die Arbeiter*innen auch am 26. Februar auf der Straße. Am Abend meuterte eine Kompanie des Pawlowski-Regiments und eilte zur Newa-Fluss, wo die Offizierschüler des Regiments es gewagt hatten, in die Menge zu schießen.
Als die Arbeiter*innen sich dann am Morgen des 27. Februar auf Versammlungen entschieden, „den Kampf fortzusetzen“ konnte dies nur noch eins heißen: bewaffneter Aufstand! Die Soldaten des Wolynski-Regiments schlossen sich als erste den Arbeiter*innen an. Die Soldaten liefen zu anderen Kasernen, um auch die dortigen Soldaten zum Aufstand zu bewegen. Zielstrebig eroberten die Arbeiter*innen und Soldaten Polizeireviere, entwaffneten Polizisten und holten die politischen Gefangenen aus den Gefängnissen. Der Aufstand weitete sich aus auf die Petrograd umgebenden Garnisonen – die Regierung hatte schließlich keine Truppen mehr zur Verfügung.
Was macht das Parlament?
Im Taurischen Palais war das zaristische Parlament, die Duma, untergebracht. Schon am 26. Februar hatte Zar Nikolaus die Auflösung des Parlaments beschlossen, weil die Duma neue Minister gefordert hatte – wohl in der Hoffnung, das Volk zu beruhigen. Nun, am 27. Februar, saßen die Parlamentarier in einer Privatberatung zusammen und überlegten, wie die kapitalistische Ordnung überleben könnte. Sollte man einen populären General zum Diktator ernennen? Sollte die Duma erklären, sie übernehme die Macht? Den Herren Politikern war bange, denn die Macht war in den Händen der aufständischen Massen.
Ob die alte Gesellschaft noch gerettet werden konnte, entschied sich in einem anderen Flügel des Palais. Dort bildeten Vertreter*innen der Petrograder Arbeiter*innenschaft einen Sowjet – einen Arbeiter*innenrat. Bei der Sitzung wurde u.a. ein Exekutivkomitee gewählt und die Reformist*innen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre bekamen die Führung. Diese Parteien hatten – wie damals die SPD – die Theorie, dass auf die Monarchie erst eine bürgerliche Demokratie folgen müsse, in der dann die Sozialist*innen durch das Parlament die Macht erringen und den Sozialismus einführen könnten. Für diese Leute war es deswegen selbstverständlich, sofort zu den Duma-Mitgliedern hinüberzulaufen und sie darum zu bitten, die Macht zu übernehmen.
Nachdem die reformistischen Sozialist*innen sich den Dumaleuten unterworfen hatten, fingen die liberalen Politiker nun an zu diskutieren, ob man nicht auch noch das Zarentum retten könne. Zar Nikolaus hatte doch zu Gunsten seines Bruders Michail abgedankt. Aber der Großfürst Michail hatte kein Interesse, seinen Kopf zu riskieren, und lehnte ab.
Demokratie – und dann?
In wenigen Tagen hatten die Arbeiter*innen Petrograds das jahrhundertealte Zarenreich gestürzt. Die Massen hofften, dass der Hunger und der Krieg zusammen mit der verhassten Diktatur verschwinden würden.
Aber das neue bürgerlich-demokratische Regime war kaum in der Lage, die dringendsten Probleme des Landes zu lösen: die bürgerlichen Politiker waren zu eng an die Großgrundbesitzer*innen gebunden, um Land an die Bauern*Bäuerinnen zu verteilen; die russische Diplomatie war zu eng an die Entente gebunden, um sich aus dem Krieg herauszuziehen; die Kapitalist*innen konnten die Forderungen der Arbeiter*innen (wie nach dem 8-Stunden-Tag) kaum erfüllen. Die neue Regierung wusste, wenn sie die Massen für eine Vertiefung der Revolution mobilisieren würde, wäre ihre eigene Herrschaft bald in Gefahr.
Kurz: die bürgerliche Demokratie war gerade noch in der Lage, den Zaren abzusetzen, und laut den bürgerlichen Poltikern sollte die Revolution keinen Schritt weitergehen. Aber nun waren alle Arbeiter*innenorganisationen auf einmal legal und einige von ihnen kämpften für eine weitergehende Perspektive. Die überall entstehenden Arbeiter*innen- und Soldatenräte, die breite Massen einbezogen, hatten ein riesiges Potential für die Umgestaltung des Landes, was aber erst sehr wenige Aktivist*innen erkannten.
Der Verrat der Februarrevolution schaffte den Kapitalist*innen nur eine kurze Verschnaufpause. Denn die Februarrevolution sollte nur das erste Kapitel der russischen Revolution sein.