95 Jahre Oktoberrevolution, 80 Jahre Kopenhagener Rede
// Vorwort zur Neuausgabe der „Kopenhagener Rede“ von Leo Trotzki //
Kopenhagen im November 1932. Zum 15. Jahrestag der Oktoberrevolution in Russland lädt der sozialdemokratische Studierendenverband zu einem Vortrag ein. Vor der Halle demonstrieren Mitglieder der stalin-treuen Kommunistischen Partei Dänemarks gegen diese „Speerspitze des Angriffs auf die Sowjetunion“. Ein nicht mehr ganz junger Mann betritt die Bühne vor rund 2.000 Menschen: Es ist Leo Trotzki.
Bevor Trotzki ein Wort spricht, wird „Die Internationale“ gesungen. Dann fängt er mit seinem Vortrag an – nicht mit einem Angriff auf die Russische Revolution, wie in der bürgerlichen und in der stalinistischen Presse behauptet worden war, sondern mit einer glühenden Verteidigung. Er erklärt, in seinem eigenartigen russisch-wienerischen Akzent, er stehe immer noch „unter derselben Fahne, unter der ich als Teilnehmer der revolutionären Ereignisse stand“.
Kurz und schlüssig schildert er die historische Situation und vor allem die besonderen Klassenbeziehungen, die dazu führten, dass die sozialistische Revolution in einem unterentwickelten Land wie Russland den Revolutionen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern vorausging. Er beleuchtet an diesem historischen Beispiel das gesellschaftliche Potential des Proletariats und auch die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, um dieses Potential in die Waagschale zu werfen. Schließlich zählt er die historischen Leistungen der Oktoberrevolution auf, welche sich aus der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ergaben.
Noch 15 Jahre vor der Kopenhagener Rede war Leo Trotzki als einer der begabtesten RednerInnen seiner Zeit bekannt. Als Vorsitzender des Petrograder Sowjets (Russisch für „Rat“) in den Revolutionen von 1905 und 1917 stand er an der Spitze der Machteroberung der ArbeiterInnenklasse im Zarenreich. Aber er war weit mehr als nur ein Agitator: Seine Theorie der permanenten Revolution lieferte die theoretische Grundlage für den Sprung von der zaristischen Alleinherrschaft bis zur proletarischen Revolution; Seine Arbeit als Gründer der Roten Armee verteidigte die eroberte Macht gegen die Bedrohungen von BürgerInnenkrieg und ausländischer Militärintervention.
Trotz dieser Verdienste an der ArbeiterInnenregierung galt er in der Sowjetunion seit 1932 offiziell als Staatsfeind. Der Grund hierfür lag darin, dass die ArbeiterInnenregierung inzwischen keine mehr war. Infolge der wirtschaftlichen und sozialen Not in Russland, Produkt der Zerstörungen im Welt- und anschließend im BürgerInnenkrieg, und infolge der internationalen Isolation der Revolution, Produkt der Niederschlagungen der Revolutionen in anderen Ländern, war der revolutionäre Mut der lohnabhängigen und kleinbäuerlichen Massen erschöpft. Das Machtvakuum, das der Rückzug der Massen aus der aktiven Politik hinterlassen hatte, wurde von einer konservativen Bürokratie gefüllt. Diese ging aus Staat, Gewerkschaften und sogar der einstigen revolutionären Partei hervor. Als diese nicht mehr dem Druck und der Kontrolle der revolutionären Massen ausgesetzt war, verwandelte sich der proletarische Halbstaat in einen bürokratischen Apparat mit dem alleinigen Interesse der Selbsterhaltung und der Sicherung der eigenen Privilegien. Dieser Wechsel gipfelte ab 1936 in den Moskauer Schauprozessen und den großen Säuberungen, in denen zehntausende KommunistInnen hingerichtet wurden, die entgegen der Bürokratie mehr oder weniger standfest an den revolutionären Prinzipien von 1917 festhielten: Rätemacht und Internationalismus, statt Bürokratie und „Sozialismus in einem Land“ (Stalin).
1932, zur Zeit der Kopenhagener Rede, hielt Leo Trotzki die Kommunistische Partei der Sowjetunion und die Dritte Internationale (Komintern) trotz ihrer stalinistischen Degeneration noch für reformierbar. Doch im Kampf gegen den Faschismus erwies sich die Komintern als außenpolitisches Instrument der sowjetischen Bürokratie. Aus der politischen Erschöpfung der ArbeiterInnenklasse hervorgegangen, fürchtete die ihrem Wesen nach konservative Bürokratie eine revolutionäre Wiedererweckung der ArbeiterInnenklasse mehr als den internationalen Status Quo mit den kapitalistischen Nachbarn. Die Bürokratie nutzte das Ansehen in den Augen der internationalen ArbeiterInnenklasse, das sie von der Oktoberrevolution geerbt hatte, um deren revolutionäre und antifaschistische Kämpfe zu sabotieren. Als 1933 in Deutschland das am besten organisierte Proletariat der Welt kampflos die Machtübergabe an die FaschistInnen hinnahm, zogen die Komintern und ihre Sektionen den Schluss, dass ihre Politik „vollständig richtig“ war. Das, obwohl sie bis dahin erklärt hatten, der Hauptfeind sei nicht der Faschismus, sondern die „sozialfaschistische” Sozialdemokratie!
Daraufhin änderte Trotzki seine Politik gegenüber der Sowjetunion und der Komintern. Aus dem Ziel der politischen Reform des bürokratisch degenerierten ArbeiterInnenstaats wurde die strategische Aufgabe der politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie. Aus dem Ziel der Zurückgewinnung der moskautreuen Kommunistischen Parteien wurde der Kampf für eine neue revolutionäre Internationale. Das Erbe der einst revolutionären Komintern wurde später dann 1938 in der Gründung der Vierten Internationale und ihrem Programm, dem sogenannten Übergangsprogramm[1], aufgehoben.
Die Bedeutung der Oktoberrevolution wird durch ihre spätere Degeneration in keiner Hinsicht geschmälert. Auch 1932 und noch bis heute ist der Kapitalismus weiterhin krisenhaft – er kann keine Abhilfe für die untragbaren gesellschaftlichen Übel bieten, die er stets von neuem verursacht. Auch 1932 und noch bis heute ist eine revolutionäre Politik gegen Kapitalismus (und auch gegen Stalinismus) nicht möglich, ohne sich die politischen Lehren anzueignen, die sich aus dem Oktoberumsturz von 1917 ergaben. Letzteres gilt auch heute noch dort, wo bürokratisch degenerierte ArbeiterInnenstaaten weiterhin existieren, wie in Kuba oder Nordkorea. Die kapitalistische Restauration in der Sowjetunion und der Volksrepublik China bestätigt die Analyse, die Trotzki mehr als 70 Jahre vorher vom Stalinismus machte[2].
Nach 80 Jahren hat sich das Wesen des Kapitalismus nicht verändert. Lediglich die konkrete Form ist eine andere: Obwohl die ArbeiterInnenklasse heute zum ersten Mal in der Geschichte die absolute Mehrzahl der Weltbevölkerung ausmacht, ist ihr Klassenbewusstsein und ihre politische Subjektivität sehr schwach. Die Oktoberrevolution muss der weltweiten lohnabhängigen Klasse nicht nur als besonders wichtige Erfahrung ihrer Vergangenheit vermittelt werden, sondern als eine Lehre für kommende Kämpfe gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Krise.
In der aktuellen Weltwirtschaftskrise verschärfen sich die Klassenauseinandersetzungen, was eine Hebung des Klassenbewusstseins ermöglichen wird. Dem systemerhaltenden Charakter des Reformismus, zu dem es angeblich keine Alternative gibt, kann das Beispiel von 1917 entgegengestellt werden. Der proletarische Umsturz folgte damals auf die Februarrevolution desselben Jahres, die ein bürgerliches Regime hervorgebracht hatte, das die Unfähigkeit reformistischer Perspektiven wie im Zeitraffer der Geschichte in nur einem halben Jahr zuspitzte.
Die erfolgreiche Politik der Bolschewiki ist ein Beweis für die Notwendigkeit der programmatischen Ausrichtung auf die ArbeiterInnenklasse. Anarchistische und autonom-individualistische Politik stellten damals genauso wie heute einen Versuch dar, den Kapitalismus ohne einen proletarischen Aufstand und ohne einen sozialistischen Halbstaat zu überwinden. Jedoch erwiesen sie sich als ebenso zwecklos wie der individuelle Terror einzelner RevolutionärInnen, der die Gewinnung, Schulung und Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse abkürzen oder überspringen wollte. 1917 ist der bedeutendste positive Beweis für die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die sich mit den fortschrittlichsten Sektoren der ArbeiterInnenklasse vereinigt. Es ist genauso Beweis für die Richtigkeit einer revolutionären Politik, die aus einem durchdachten Verhältnis von Strategie und Taktik, aus der Verbindung eines weitsichtigen Plans für die sozialistische Revolution und einer jeweils konkreten Umsetzung dieses Plans, hervorgeht. Dies ist auch die Methode, die Trotzki im schon erwähnten Übergangsprogramm beschreibt.
Und auch an negativen Lehren ist die Oktoberrevolution reich genug, denn sie zeigte durch ihre spätere stalinistische Degeneration, welch verheerende Wirkung die Abkehr von den Prinzipien des Internationalismus und der ArbeiterInnendemokratie für die sozialistische Revolution hat. Gerade aus diesem Grund bekennen wir uns zu einer „sowjetischen“ Strategie, d.h. einer Strategie, die in jedem noch so kleinen Kampf die Grundlagen für die Selbstorganisation des Proletariats und spätere Organe der ArbeiterInnendemokratie legen will, und zu einem konsequenten Internationalismus, der im Rückgriff auf Trotzkis Theorie der „Permanenten Revolution“ jede Illusion eines „Sozialismus in einem Land“ verneint.
Trotzkis Vortrag in Kopenhagen war seine erste öffentliche Rede seit fünf Jahren – und sollte auch seine letzte bleiben, da er im Exil blieb, bis er am 20. August 1940 von einem Auftragsmörder Stalins getötet wurde. Diese Gelegenheit nutzte er, um für die damalige ArbeiterInnenbewegung die Lehren aus der Oktoberrevolution zu ziehen. Um ganz aktuell zu verhindern, dass die Kosten der Weltwirtschaftskrise in Form von Spardiktaten, Kriegen und immer erdrückenderen Regierungsformen weiterhin von der lohnabhängigen Bevölkerung gezahlt werden, müssen wir auch heute die Lehren der ersten sozialistischen Revolution ziehen.
Harry Wicks, ein junger Funktionär der Kommunistischen Partei Großbritanniens, der sich erst kurz vor Trotzkis Rede in Kopenhagen der kleinen trotzkistischen Opposition angeschlossen hatte, berichtete noch 50 Jahre später in seiner Autobiographie, dass er nie ein so entzücktes Publikum gesehen hatte – obwohl Wicks kein Wort des deutschsprachigen Vortrags verstand (er hatte vorher lediglich eine englische Übersetzung des Manuskripts gelesen)[3]. Mangels einer trotzkistischen Organisation in Dänemark musste der Hamburger Hafenarbeiter Georg Junglcas, der bis zu seinem Tod eine führende Rolle in der trotzkistischen Bewegung in Deutschland spielen sollte, den Saalschutz organisieren: Eine Reihe von Hafenarbeitern kamen mit dem Rad von Hamburg nach Kopenhagen und stellten sich während des Vortrags vor die Bühne. Als die letzten Klänge der Internationale zu Ende gingen, begann die Rede. Lassen wir Trotzki nun selbst zu Wort kommen…
Fußnoten
[1]. Siehe die erste Broschüre im Trotzki-Archiv: Das Übergangsprogramm. Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale.
[2]. Für Trotzkis Analyse des Stalinismus, siehe: Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?.
[3]. Harry Wicks: Keeping My Head. Memoirs of a British Bolshevik. London 1992. S. 148-162.
Weiter zu „Verteidigung der Oktoberrevolution: Die Kopenhagener Rede“.