9. November: Vom Mauerfall zum Kampf gegen die „Lohnmauer“
Kohl versprach „blühende Landschaften“, doch am Ende wurde eine ganze Volkswirtschaft in kurzer Zeit über den Haufen geworfen. Noch heute sind die Auswirkungen spürbar und der Kampf gegen das Lohngefälle hochaktuell – wie bei Teigwaren Riesa.
Dieser Artikel erschien erstmals am 3. Oktober 2018 unter dem Titel „Die ‚Wende‘: der Weg von einer Revolution zur historischen Niederlage der Arbeiter*innen und Linken“. Für die Wiederveröffentlichung haben wir ihn leicht überarbeitet.
Der Fall der Berliner Mauer war wohl einer der symbolischsten Momente, im Untergang des Ostblockes. Die Bilder feiernder Menschen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor wurden oft als Sinnbild der Freude über den Sieg des Kapitalismus genutzt. Doch für die DDR-Bürger:innen war die Euphorie schnell zu Ende, als sie am eigenen Leibe erfahren mussten, was kapitalistische Ausbeutung heißt.
Noch heute, 33 Jahre nach dem Mauerfall, sind die Löhne in Ost und West nicht auf demselben Niveau angekommen. Beispielhaft dafür steht der Fall des Nudelherstellers Teigwaren Riesa, dem ehemals leistungsfähigsten Teigwarenherstellers der DDR. Im Herbst 1992 musste das in Sachsen ansässige Unternehmen den Betrieb einstellen und wurde ab 1993 als Tochter der Alb-Gold Teigwaren GmbH mit Sitz im baden-württembergischen Trochtelfingen weitergeführt. Heute ist Teigwaren Riesa in den neuen Bundesländern Marktführer – und bezahlt vielen Arbeiter:innen in Riesa trotzdem nur etwas mehr als Mindestlohn.
Von der politischen Revolution zur kapitalistischen Restauration
Was als politische Revolution für eine andere, demokratische Art des Sozialismus begann, endete in einer historischen Niederlage der Arbeiter:innenbewegung. Das Ende eines ökonomischen Systems, welches trotz einer Kaste schmarotzender Bürokrat:innen kein Privateigentum an Produktionsmitteln kannte. Das Ende einer Gesellschaft ohne Bourgeoisie, welche mit der sogenannten „Wende“ ihre Macht in der DDR restaurierte. Doch wie lief dieser Prozess ab?
Lange herrschte in der DDR im Vergleich zum Rest des Ostblockes relative Ruhe. Acht Jahre waren seit der Streikbewegung in Polen gegen die Vorherrschaft der stalinistischen KP vergangen. Drei Jahre, seitdem Gorbatschow in bismarckschem Stil mit seinen Plänen von Glasnost (Offenheit, Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) versuchte, mit einer „Revolution von oben“ die Machtbasis der KPdSU-Bürokratie auf neue, kapitalistische Standbeine zu stellen. Doch in der DDR saßen die Reformgegner:innen um Präsident Honecker noch relativ fest im Sattel und es gab keine öffentlichen Diskussionen über die Zukunft der DDR, in dem erodierenden Ostblock.
Mit dem Bekanntwerden der Wahlmanipulation der SED bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, der großen Ausreisewelle über die im Sommer gefallene ungarisch-österreichische Grenze und die Besetzung der Prager Botschaft der BRD, durch „ausreisewillige“ DDR-Bürger:innen, stürzte das SED-Regime in eine tiefe Staatskrise. Eine Bewegung setzte sich in Gang, die in nur wenigen Monaten das 40 Jahre alte Regime zu Fall brachte.
Ab Oktober 1989 gingen Hunderttausende Menschen mit dem Ruf nach einem demokratischen Sozialismus auf die Straße. Der Schwerpunkt der politischen Revolution lag ohne Zweifel auf den Massendemonstrationen. Doch auch in den „Volkseigenen Betrieben“ (VEB) nahmen Arbeiter:innen die Dinge in die eigenen Hände. Sie verjagten die SED-Sekretär:innen und die paramilitärischen Einheiten der Betriebskampfgruppen aus ihren Fabriken. Sie setzten teilweise Betriebsleitungen ab und wollten die unter wirtschaftlichen Problemen leidenden Betriebe durch Selbstverwaltung oder Mitbestimmung sanieren. Aber auch explizit politische Streiks wie z.B. der Streik der Bergarbeiter:innen im sächsischen Zinnwald, gegen die Schließung der Grenze nach Tschechien, standen auf der Tagesordnung. Es begann eine Streikbewegung für ökonomische und politische Forderungen, die – mit ihren zwischenzeitlichen Höhen und Tiefen – erst 1994 mit der endgültigen Zerschlagung des Großteils der ostdeutschen Industrie und Millionen von Arbeitslosen endete.
Der Unmut über mangelnde demokratische Rechte und die wirtschaftlichen Missstände trieb die Massen auf die Straße. Ein mehrheitlich aus Intellektuellen zusammengesetztes Bündnis von linksliberalen Bürgerrechtler:innen, Friedenskreisen und der Kirche – das „Neue Forum“ – war die wichtigste Kraft hinter den ersten Demonstrationen. Sie verstanden sich als basisdemokratische Plattform, nicht als Partei. Was sie einte, war nicht eine gemeinsame Strategie oder ein gemeinsames Ziel, welche Änderungen wie durchgesetzt werden sollten, sondern vielmehr der gemeinsame Gegner: die SED-Diktatur.
Die vom Zentralkomitee der SED beschlossene Maueröffnung am 9.November 1989 änderte die Richtung der Bewegung schnell. Über Nacht war „die Schandmauer“, die Familien auseinander riss und die DDR-Bürger:innen einsperrte, verschwunden. Statt mit der Alu-DDR-Mark in Schlangen vor fast leeren Konsum-Geschäften, standen die Ossis jetzt mit den 100 DM Begrüßungsgeld in der Hand vor den gefüllten Schaufenstern der funkelnden Konsumtempel in West-Berlin.
Die politische Rechte wusste die Situation gut zu nutzen und vereinnahmte die Situation für sich. „Die Republikaner“ gründeten gleich nach der Maueröffnung eine Ortsgruppe in Leipzig und versuchten, mit massiven Flugblattaktionen Einfluss auf die Zentren der DDR-Bewegung zu nehmen. Die extreme Rechte im Allgemeinen sah in dem Aufstand der DDR eine „nationale Revolution“ und startete in ihrer Gesamtheit eine Offensive nach Osten. Aber vor allem wusste die CDU-Regierung unter Kohl die demokratische Frage der nationalen Einheit für sich zu nutzen und alle Ressourcen in Kraft zu setzten, die Revolution in der DDR für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Einen Tag nach dem Mauerfall forderte Bundeskanzler Helmut Kohl – der in Westberlin noch laut ausgepfiffen wurde – die Einheit Deutschlands. Am 28. November legte Kohl dem Bundestag einen 10-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung vor. Durch Kohls Offensive konnte er sich gegenüber den Massen der DDR als die Kraft der Einheit präsentieren, und aus einer starken Verhandlungsposition heraus, im Pakt mit der SED-Führung, seine Einheit der kapitalistischen Restauration durchsetzen.
Die linken Kräfte in Ost und West standen der Frage eines gemeinsamen deutschen Nationalstaats ratlos gegenüber. Der 9. November markierte das Ende der Führung des „Neuen Forums“ über die Bewegung. Während sie im Oktober noch die hegemoniale Kraft in den Massenmobilisierungen war, verschwand sie in nur vier Monaten so gut wie komplett von der politischen Bildfläche. Bei den DDR-Volkskammerwahlen im März erzielte sie in einem Wahlbündnis mit zwei anderen Bürgerrechtsorganisationen nur 2,9 Prozent der Stimmen. Als einer der Hauptgründe dieses phänomenalen Absturzes der DDR-Bürgerbewegungen ist wohl die Uneinigkeit in einer der wichtigsten und in den Massen meist diskutierten Forderung zu sehen: die einer Wiedervereinigung.
Anstatt der demokratischen Frage der nationalen Einheit einen sozialen Inhalt zu geben, welche die Arbeiter:innen in Ost wie West mobilisiert, beschränkten sie sich auf vergebliche Verhandlungen mit der SED, ohne eine mobilisierte Basis zu haben, die ihnen irgendeine Macht am Verhandlungstisch gegeben hätte. Sie spalteten sich in ein Lager, welches mit kleinen Modifikationen die Einigungspläne von Kohl unterstütze, und ein anderes Lager, welches einen „dritten Weg“ einer eigenständigen DDR anstrebte.
In Westdeutschland jagte die Furcht vor einem „Vierten Reich“ große Teile der Linken. In der SPD brach ein erbitterter Fraktionskampf um die Frage der Wiedervereinigung aus. Der damalige SPD-Chef Lafontaine und sein linker Flügel stellten sich gegen eine schnelle Wiedervereinigung – oft mit dem Argument der hohen Kosten, welche die westdeutsche Arbeiter:innenklasse tragen müsste. Erst nach dem Attentat vom 25. April 1990 auf Lafontaine konnte sich der rechte Flügel in der SPD-Führung gegen seine Positionen durchsetzen. In der radikalen Linken gab es kaum Positionen für eine Wiedervereinigung. In der Frage der nationalen Einheit wurde vor allem die Bedrohung eines stärkeren deutschen Imperialismus gesehen. Sie bildeten den Ausgangspunkt für viele Strömungen der heutigen Linken, mit denen wir heute in verschiedenen Fromen zu kämpfen haben. Auch wenn dieses „Nie wieder Deutschland“-Bündnis mit ihrer Position richtigerweise das Projekt der Kohl-Regierung und der westdeutschen Bourgeoisie identifizierten, erteilten sie damit jeder Alternative zu einer reaktionären Lösung dieser demokratischen Frage eine Absage. Während die einen die Fortexistenz der Mauer und der SED-Diktatur verteidigten und so den abgewirtschafteten Stalinismus in der Nach-Wende-Zeit wieder hoffähig machten, stellten sich die anderen unter der Losung „Wiedervereinigung jetzt!“ ohne jede Abgrenzung de facto hinter die Pläne der imperialistischen Annexion der DDR, durch die BRD. Was fehlte war eine unabhängige Position, wie die Losung einer „sozialistischen Wiedervereinigung“, welche nicht nur die politische Diktatur der SED in Frage gestellt hätte, sondern auch die kapitalistische Ausbeutung in der BRD. Eine Losung also, die im Osten die demokratische Frage mit der sozialen verbindet, und im Westen eine Übergangsforderung für eine sozialistische Revolution hätte sein können. Sie hätte zeigen können, dass die Bourgeoisie in der Epoche des Imperialismus die demokratischen Fragen nicht mehr in einer progressiven Weise lösen kann, und nur die Aufnahme der demokratischen Fragen in ein soziales Programm der Arbeiter:innenklasse, einen progressiven Ausweg aus der Situation geben kann. Stattdessen drängte die Alternativlosigkeit, zu den Einheitsplänen Kohls, die Linke ins politische Abseits.
In der DDR ließ sich die Opposition zur SED sehr einfach von der Staatspartei kooptieren. Sie gingen auf das Angebot der Übergangsregierung Modrow ein, Teil des Runden Tisches zu werden, welcher jedoch nur als beratendes Gremium fungierte und keine Macht besaß, wirkliche Veränderungen zu realisieren. Für diesen Platz am Runden Tisch starteten sie jedoch, ab spätestens Dezember 1989, eine Demobilisierung auf den Straßen. Ein für Dezember geplanter Generalstreik, der eine Möglichkeit gewesen wäre, die Arbeiter:innenklasse noch einmal in die Offensive zu bringen und durch die ökonomischen Forderungen des Streiks eine Diskussion über die sozialen Inhalte eines gesamtdeutschen Staates auf die politische Agenda zu setzen, wurde in letzter Minute abgesagt. Später wurden auch die Demos immer weniger.
Modrows Regierung drückte auf die Zeit. Bei den vorgezogenen Neuwahlen der Volkskammer, am 18. März, gewann die CDU-nahe „Allianz für Deutschland“ klar mit 48,15 Prozent der Stimmen. Der neue Regierungschef Lothar de Maizière setzt die Einigung in schnellen und brutalen Schritten durch. Die faktische Vereinigung geschah bereits am 1. Juli 1990: Es fiel endgültig die deutsch-deutsche Grenze, die Währungsunion trat in Kraft – mit katastrophalen Folgen für die DDR-Wirtschaft – und zeitgleich mit ihr das in Bonn ausgearbeitete Treuhandgesetz. Die gesamte DDR-Wirtschaft wurde darin einem autonom agierenden Fonds überschrieben – mit dem Ziel, diese so schnell wie möglich zu privatisieren, zu zerschlagen und stillzulegen. In nur zwei Monaten wurde dann der Einigungsvertrag zwischen den beiden CDU-Regierungen ausgehandelt. Mit zwei bekannten Westdeutschen am Verhandlungstisch: Wolfgang Schäuble, als Verhandlungsführer der BRD, sowie der spätere Bundesminister Thomas De Maizière – Cousin des DDR-Regierungschefs Lothar De Maizière – als Chefberater der DDR. Am 3. Oktober 1990 trat die DDR dem BRD-Grundgesetz bei: keine Vereinigung, bei der aus zwei Sachen etwas Neues entsteht, sondern ein Anschluss der DDR an das System der BRD. Man könnte auch sagen: eine Annexion. Bald entpuppten sich die „blühenden Landschaften“, die Kohl versprach, als Mauerblümchen auf den Industrieruinen.
Die brutale Realität der Wiedervereinigung
Der erste entscheidende Schritt zur Liquidierung der DDR-Wirtschaft war die Währungsunion und der Wechselkurs, der damals stark von der Bundesbank kritisiert wurde. Der reale Wechsel von DDR-Mark zu D-Mark betrug 4:1. Löhne wurden jedoch zum Kurs von 1:1 umgerechnet. Eine 400-prozentige Währungsaufwertung über Nacht: Keine Volkswirtschaft verkraftet sowas. Gleichzeitig wurden den Volkseigenen Betrieben künstliche Schulden in die Bücher gerechnet. In der Planwirtschaft führten diese ihre Gewinne an die Zentralbank ab, welche dann Gelder für Investitionen in den Betrieben, den Wohnungsbau, Sozial- und Kultureinrichtungen zurückzahlte. Diese Gelder, die die Zentralbank 40 Jahre lang an die Volkseigenen Betriebe zahlte, tauchten plötzlich als Schulden in deren Geschäftsbüchern auf. Die hohe Verschuldung und eine enorme Steigerung der Produktionskosten machte selbst Vorzeigebetriebe der DDR über Nacht unrentabel. Die Märkte in Osteuropa brachen aufgrund der Preissteigerung weg. Das gesamte, nun zu Ramsch erklärte DDR-Eigentum, sollte durch die autonom agierende Treuhandanstalt so schnell wie möglich „saniert, privatisiert und abgewickelt“ werden. Der Treuhand wurde Immunität verbrieft. Sie hafteten nicht für kriminelle Handlungen ihres Hauses. Die Geschichte dieser Institution ist beispiellos: Noch nie zuvor gab es eine derartig große und schnelle Privatisierungswelle, deren Folge die Zerstörung einer ganzen Volkswirtschaft war. Das „Erfolgsmodell Treuhand“ bewies sich für die deutsche Bourgeoisie als Werkzeug imperialistischer Ausbeutung. So zwang Wolfgang Schäuble 2015 dieses „Erfolgsmodell“ auch Griechenland auf, um die größte Privatisierungswelle der Troika zu realisieren, in dessen Zuge fast das gesamte griechische Staatseigentum verscherbelt wurde.
Was die Wiedervereinigung teuer machte, war nicht die Übernahme der DDR-Schulden. Im Gegensatz zur BRD hatte die DDR einen positiven Saldo. Sie verlieh mehr Geld an andere Ostblock-Länder, als sie selber Staatsschulden aufnahm. Die Netto-Auslandsschuldenquote, gemessen am Bruttoinlandsprodukt der DDR, betrug gerade einmal 6 Prozent (im Vergleich zu Griechenland 2009: 96 Prozent). Die DDR hatte lediglich ein Problem mit West-Devisen, um nötige Importe aus der nicht-sozialistischen Wirtschaftszone tätigen zu können. Zahlungsunfähig war sie jedoch nicht. Das geschah erst durch die aufgezwungene Wirtschaftspolitik der BRD, die die Betriebe der ehemaligen DDR zahlungsunfähig und so zu einem billigen Schnäppchen für westdeutsche Investor:innen machte, in deren Besitz 85 Prozent der privatisierten Firmen übergingen. Die Konsumgüterindustrie wurde relativ schnell verkauft: Westdeutsche Produzenten sicherten sich durch Kauf der Markenrechte den Zugang zu den ostdeutschen Absatzmärkten.
In der Industrie zeigte sich jedoch ein ganz anderes Panorama. Hier galt vor allem eine Devise: Konkurrenz ausschalten. Nicht nur Unternehmen mit veralteten Produktionsanlagen wurden abgewickelt, sondern zu einem großen Teil auch hoch wirtschaftlich arbeitende Unternehmen. Ein Beispiel dafür ist der Kali-Bergbau in Thüringen: Mit den weltweit drittgrößten Kali-Lagerstätten war die DDR der größte Düngemittel-Exporteur der Welt. Die westdeutsche BASF-Tochter Kali&Salz wollte den gesamten ostdeutschen Kali-Bergbau übernehmen. Aber nicht mit dem Ziel, die Produktion weiterzuführen, sondern die Subventionen, welche die Treuhand zur Sanierung des DDR-Bergbaues zahlte, für ihre Schächte im Westen zu nutzen und den ostdeutschen Bergbau zu schließen. Die BASF-Konkurrenz war auf die Verarbeitung des roten Kali-Salzes der DDR spezialisiert. Durch die Liquidierung des Ost-Bergbaus schnitten sie diese vom benötigten Rohstoffzugang ab. So konnte BASF in Europa, bei einer Verknappung des Angebotes, eine Markthegemonie erlangen. Zu Lasten von 32.000 ostdeutschen Kali-Kumpels, die jahrelang gegen diese Liquidierung der Lebensgrundlage einer ganzen Region kämpften. Mit Streiks, Protestmärschen, Hungerstreiks, Betriebsbesetzungen und kurzzeitiger Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle. Das Skandalöseste: Die zuständige DGB-Gewerkschaft flankierte nicht nur die Liquidierungspolitik der Westunternehmen, wie in hunderten anderen Beispielen, sie arbeitete den BASF-Plan mit aus und nutze alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um den Kampf der Kali-Kumpel im Osten zu brechen. Gegen eine Vernetzung von Arbeiter:innen der DDR, um einen gemeinsamen Kampf gegen die Deindustrialisierungspolitik der Treuhand zu führen, gingen die DGB-Gewerkschaften entschieden vor. So verurteilten sie die ostdeutsche Betriebsratsinitiative, welche zwischenzeitlich hunderte Betriebsräte vernetzte und Großdemonstrationen mit Hunderttausenden gegen die Treuhandpolitik organisierte, noch bevor der DGB seine Strukturen im Osten etablieren konnte.
Bis heute ist der Osten immer noch das Niedriglohnland der BRD. Gewerkschaften verhandeln auch 29 Jahre nach dem Mauerfall weiterhin zwei Tarifverträge für Ost und West, wobei nach der flächendeckenden Zerschlagung der organisierten Arbeiter:innenklasse neue Betriebe im Osten meist in tariffreien Räumen agieren. Eine derart tiefgreifende Sozialpartnerschaft, wie in Westdeutschland konnte sich in den „neuen Bundesländern“ nie entwickeln.
Geendet hat der defensive Widerstand der Arbeiter:innen gegen die Bedingungen der kapitalistischen Restauration 1994 mit einer katastrophalen Niederlage. Kein Kombinat oder Betrieb konnte sich erfolgreich der Zerschlagung und Massenentlassung widersetzen. Viele Betriebe verschwanden. Bis 1995 verloren 80 Prozent der erwerbsfähigen Ostdeutschen ihren Arbeitsplatz. Millionen von Menschen verloren nicht nur ihre Arbeit, sondern ihre gesamte Identität. In den kleineren und mittleren Städten, vor allem im Süden der DDR, hing das Leben oft an einem Großbetrieb. Dieser hatte seinen Beschäftigten nicht nur die Brötchen auf den Tisch gebracht, er war auch ihr sozialer Mittelpunkt. Von der Kinderbetreuung über Kulturhäuser, Sport- und Kunstvereine: Fast die gesamte Freizeit fand unter dem Dach des Betriebes statt.
Anders als in der kapitalistischen Restauration der UdSSR bildete sich kaum eine neue Bourgeoisie aus der ehemaligen Staatsbürokratie. Gewiss konnten etliche Funktionär:innen sich ein kleines Stück des Kuchens unter den Nagel reißen. Teilweise bildeten sich vor allem größere Immobilienholdings in Händen von ehemaligen SED-Bonzen. Doch in Deutschland funktionierte die Restauration vor allem mittels der Methode einer imperialistischen Besetzung. Die ostdeutschen Eliten in Politik und Wirtschaft wurden durch westdeutsche Eliten ersetzt. Der Großteil der ostdeutschen Politiker:innen, die die Wende administrierten, versank nach der Stabilisierung der BRD auf dem Territorium der ehemaligen DDR ab 1994 in der Versenkung. Auch wenn einzelne Ausnahmen wie die ehemalige FDJ-Sekretärin Angela Merkel, die erst während der Wende ihre politische Karriere in Opposition zur SED begann, große politische Laufbahnen machten: Viele heute führende Politiker:innen in Ostdeutschland stammen aus dem Westen. Der erste und langjährige Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, wurde von der West-CDU entsandt. In seinem Kabinett befanden sich drei weitere West-Politiker, die als Minister für Wirtschaft und Arbeit, Finanzen und Landwirtschaft fungierten. In Thüringen regierte ab 1992 der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel. In den höchsten exekutiven und legislativen Organen der BRD ist der Osten auch nach fast einer Generation immer noch stark unterrepräsentiert. Ähnliche Repräsentationsdefizite lassen sich auch in der Kultur betrachten: Denken wir nur an die 1. Fußball-Bundesliga oder an den Fakt, dass sich unter den 27 deutschen Mehrfachgewinner:innen des Echos lediglich zwei ostdeutsche Musikgruppen finden lassen..
Ein historisches Problem?
Die kapitalistische Restauration läutete weltweit die Blütephase des Neoliberalismus ein. Das Schreckgespenst des Kommunismus schien endgültig besiegt zu sein. In der Defensive konnte sich in Deutschland keine neue Linke formieren, die mit den Methoden des Klassenkampfes für eine Alternative zu Kapitalismus und Stalinismus kämpfen konnte. Die Bourgeoisie ging weltweit zu einem Frontalangriff auf die Rechte von Arbeiter:innen über und verscherbelte auch in den imperialistischen Ländern oft das gesamte Staatseigentum. Die Wende brachte so auch Verschlechterungen für die Arbeiter:innen des Westens mit sich.
Wie schon erwähnt, ist Ostdeutschland weiterhin das Billiglohnland Deutschlands. Entgegen allen Versprechen beträgt die Lohndifferenz zwischen Ost und West heute immer noch im Schnitt 25 Prozent. Jedoch variiert sie je nach Branchen: Während die Differenz in Industrie und IT bei 29 Prozent liegt, beträgt sie im Gesundheitswesen 15 Prozent. Laut einer Auswertung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung arbeiten acht Prozent der westdeutschen Tarifbeschäftigten 40 Stunden pro Woche, während es in Ostdeutschland 40 Prozent sind.
Allerdings leiden auch die Kolleg:innen im Westen unter den niedrigeren Löhnen und längeren Arbeitszeiten im Osten, die einen ständigen Konkurrenzdruck auslösen. Gleichzeitig ist die sich bisher im alternativlosen Rückzug befindende Sozialpartnerschaft in den östlichen Bundesländern wesentlich schwächer, was sich in einer niedrigeren Tarifbindung ausdrückt. Doch auch im Westen nimmt die Tarifbindung ab. Fielen im Osten 1998 noch 63 Prozent unter die Tarifbindung, waren es 2017 noch 44 Prozent. Im selben Zeitraum sank die Zahl im Westen von 76 auf 57 Prozent.
Die extreme Rechte baut sich sehr bewusst in dem politischen Vakuum auf, welches die kapitalistische Restauration ökonomisch gerissen hat, und was die Arbeiter:innenbewegung und radikale Linke nicht füllen konnten. Rassismus wird als Stellvertreterangst für sozialen Abstieg geschürt und Klassenhass in Hass gegen vermeintlich „Fremde“ umgeleitet. Auch die Opposition gegen die Regierung wird nur von rechts besetzt, wie es sich in großen Protesten gegen die Energiekrise in vielen ostdeutschen Städten zeigt. Während sich die Linke schwertut, für einen heißen (oder solidarischen) Herbst in ihrem Sinne zu mobilisieren, führte Björn Höcke (AfD) in Gera Anfang Oktober eine Demonstration mit rund 10.000 Menschen an. Im Prozess der kapitalistischen Restauration und dem Versagen der Linken sind viele Antworten auf die Ursachen des Rechtsrucks heute zu finden.
Eine solche Antwort findet sich nun auch bei Teigwaren Riesa. Die Kolleg:innen dort streiken seit mehreren Wochen für mehr Lohn – jeweils einen Euro mehr in diesem und im nächsten Jahr. Aber sie streiken auch gegen das Lohngefälle zwischen Ost und West: Unter dem Motto „Niedrig-Lohnmauer einreißen!“ zogen sie heute in Berlin vor das Brandenburger Tor. Betroffen sind zwar nur etwa 140 Beschäftigte – doch ihr Kampf ist ein Symbol, dessen Bedeutung gerade heute weit über sie hinausreicht.