60 Jahre nach dem Mauerbau: Weder Kapitalismus noch Stalinismus ist die Lösung
Die DDR bezeichnete sich als sozialistisch, doch baute sie eine Mauer. Wie passt das zusammen? Letztlich war das Land von einer bürokratischen Kaste regiert, nicht von den Arbeiter:innen.
Es ist kein Zufall, dass die Berliner Mauer in Deutschland als das Symbol des Sozialismus in die Geschichte eingegangen ist. Denn mit dem Mauerfall hatte der Kapitalismus gesiegt: Die ehemalige DDR wurde gewaltvoll vom Westen annektiert. Und Geschichte schreiben immer die Gewinner:innen.
Der Grund, warum wir in der Schule lernen, dass Sozialismus in der Praxis nicht funktioniert und 1989 für Ostdeutsche befreiend war, ist: Das Kapital profitiert davon, revolutionäre Ideen im Keim zu ersticken. Doch heute würde die Mehrheit der Jugendlichen in den USA den Sozialismus dem Kapitalismus vorziehen. In dieser Hinsicht müssen wir uns fragen, inwiefern die Erfahrung im eigenen Land sozialistisch war, inwiefern nicht und unter welchen Bedingungen unsere Geschichte anders – besser für alle – hätte ausgehen können.
Was geschah wirklich nach dem Krieg?
Nachdem die Nazis sich den alliierten Truppen Frankreichs, der USA und der Sowjetunion gegenüber ergeben hatten, teilten sich diese Länder im Rahmen der Potsdamer Konferenz die Welt untereinander auf. Die UdSSR erhielt, was wir heute als Osteuropa kennen und versprach im Gegenzug, auf die Ausweitung der Revolution zu verzichten – sowohl auf andere europäische Länder, die nicht besetzt werden sollten, als auch innerhalb der UdSSR selbst. Das bedeutete, jegliche aufkommende politische Revolution gegen die privilegierte(n) Kaste(n) zu unterdrücken. So wurden auch räte-ähnliche Strukturen unterdrückt, die für ein unabhängiges, sozialistisches Deutschland eingetreten sind.
Die brennende Frage in Potsdam war jedoch, was mit Deutschland geschehen sollte, deren Bourgeoisie sich in ein paar Jahrzehnten gleich zweimal bewaffnet und Kriege begonnen hatte, um den Kontinent zu dominieren. Für die Alliierten stellten die deutschen Arbeiter:innen jedoch eine größere Gefahr dar, da diese aufgrund ihrer reichen Tradition, Organisierungs- und Kampferfahrungen wieder auf den Weg der Revolution kommen könnten. Um dies zu verhindern, teilten sie das Land und Berlin in vier Zonen, die die jeweiligen Armeen im Folgenden besetzten. Wirtschaft, Kultur und Politik standen unter absoluter, ausländischer Kontrolle.
1946 beginnt der Kalte Krieg, 1949 schließen die westlichen Alliierten sich zusammen und gründen die Bundesrepublik – die Sowjetunion reagiert mit der Ausrufung der DDR. Dort verschlechtern sich die Lebensbedingungen sich so sehr, dass es am 17. Juni 1953 zum Volksaufstand kommt.
Denn Stalin hatte bis dahin verwaltet, was wir heute einen deformierten Arbeiter:innenstaat nennen. Hier wurde die Bourgeoisie zwar erfolgreich enteignet, wenn auch nicht als Produkt von Revolutionen, sondern „von oben“. Das Privateigentum an Produktionsmitteln[1] wurde also abgeschafft und eine bürokratische Planwirtschaft wurde eingeführt, bei der die politische Macht in Händen einiger weniger verblieb. Von einem Sozialismus unter der demokratischen Leitung von Räten, wie wir ihn uns vorstellen, konnte hier also ganz und gar nicht die Rede sein.
Wenige Monate nach Stalins Tod sah die Situation in der DDR alles andere als rosig aus, woraufhin die Bürokratie beschloss, die Produktion um zehn Prozent zu erhöhen, ohne dabei die Löhne anzupassen. In Kombination mit hohen Inflationsraten war der berechtigte Wutausbruch der Bevölkerung nicht mehr zu stoppen. Industriearbeiter:innen in Ostberlin und Metaller:innen, forderten ein Ende der Politik der Produktionserweiterung und der Preisanstiege, aber eben auch der Regierung und der innerdeutschen Trennung. Der Aufstand erreichte ganz Ostdeutschland, in den Fabriken wurden Komitees gegründet, diese koordinierten sich untereinander.
Doch fehlte es ihm an der organisierten Unterstützung des westdeutschen Proletariats und einer Führung, die den Massen die Notwendigkeit einer politischen Revolution und einer Vereinigung von West- und Ostdeutschland zu einem revolutionären, tatsächlich sozialistischen Arbeiter:innenstaat nahelegte und so scheiterte der Aufstand.
Die SED schoss mit Kanonen auf Spatzen
Am 13. August 1961, acht Jahre später, begann der Mauerbau. Das SED-Regime ergriff damit eine unverhältnismäßig drastische Maßnahme, um der damals zunehmenden Emigration ein Ende zu setzen. Fast dreißig Jahre lang wurden pro Jahr tausende Ostdeutsche beim Versuch, die Grenze zu überqueren festgenommen, Hunderte starben.
Berechtigterweise wollte die ostdeutsche Bevölkerung die dortigen Zustände – Repression, schlechten Lebensbedingungen, Stalinismus – nicht länger hinnehmen. Am 9. November 1989 riss sie die Mauer ein und setzte der Stasi ein Ende. Die Massen rechneten mit dem stalinistischen Regime ab: Sie löschten die Bürokratie aus und kämpften für ein vereinigtes Deutschland.
Aber hatten sich denn wirklich alle enthusiastisch Kohls „blühende Landschaften“ ausgemalt? Nein. Vielmehr ist es so, dass wenig bis gar nicht über diejenigen geschrieben wurde, die eine ganz andere Art von Sozialismus durchsetzen wollten. Dabei richteten sich viele der damaligen Kämpfe gegen die abgehobene Staats- und Parteispitze: Für die Etablierung von demokratisch gewählten Betriebsräten aus Delegierten; Koordinierungen zwischen Betrieben gegen die sich anbahnenden Entlassungen und Privatisierungen und dafür, die verstaatlichten Betriebe unter Arbeiter:innenkontrolle zu stellen. Die fortgeschrittendsten Sektoren vertraten eine – wenn auch häufig unscharfe – Vision einer demokratisch organisierten Planwirtschaft ohne parasitär-bürokratische Kaste an der Spitze.
Ein ganz anderer Sozialismus wäre möglich gewesen – wenn eine reale Kraft den Weg zu ebendiesem aufgezeigt hätte. Doch erneut fehlte es am Aufbau einer revolutionären Partei, die die Kämpfe hätte anführen können. So konnte die deutsche Einheit von der BRD durchgedrückt werden.
Ihre Erinnerung und unsere
So ist heute in kollektive Vergessenheit geraten, dass nicht alles im Osten schlecht war: Ganz im Gegensatz zu heute herrschte Vollbeschäftigung und niemand musste um Kita- oder Schulplätze kämpfen. Genauso wurde aus dem historischen Gedächtnis getilgt, dass in den Jahren nach der Konterrevolution große Massenkämpfe stattfanden, um die letzten Errungenschaften der DDR zu verteidigen – beispielsweise das DDR-Abtreibungsrecht, für das noch 1994 eine Million Frauen auf die Straße gingen.
Es ist ein typischer Fall von „Siegerjustiz“, wie die BRD mit allem umgegangen ist, was die Lebens- und Kampferfahrungen von Millionen von Ex-DDR-Bürger:innen anging: Die Ächtung aller Personen, die irgendeine Funktion im DDR-Staat ausübten, führte dazu, dass stalinistische Bürokrat:innen und einfache Arbeiter:innen gleichermaßen bestraft wurden. Noch heute zeugt das riesige Gefälle der Lebens- und Arbeitsbedingungen zwischen West und Ost von den materiellen Auswirkungen dieser Kollektivbestrafung – ganz zu schweigen von den psychologisch-moralischen Folgen.
Der Stalinismus uns seine autoritäre Politik konnten in der DDR und dem gesamten ehemaligen „Ostblock“ der neoliberalen Propaganda in den letzten 30 Jahren den perfekten Nährboden bereiten. Für mehr als eine Generation von Linken hat er die Möglichkeit einer alternativen Gesellschaftsordnung zum Kapitalismus völlig verdrängt, weil die Verbrechen des Stalinismus mit dem Sozialismus gleichgesetzt wurde. Doch heute erhebt sich eine neue Generation, für die – wie in den USA – der Sozialismus wieder eine Alternative darstellt.
[1] Produktionsmittel sind, wie das Wort eigentlich schon verrät, alle Mittel zur Produktion, jedoch nur die materieller Art, worunter sowohl Gebäude bzw. Flächen als auch Arbeitsgegenstände wie bspw. Werkzeuge fallen. Sie stellen somit – zusammen mit der menschlichen Arbeitskraft und dem zu bearbeitenden Material – die Voraussetzung für jegliche Produktion dar.