30 Jahre „Wiedervereinigung“: Die Krise des Kapitalismus und der Kampf für den Sozialismus
Die globale Wirtschaftskrise in Folge der Corona-Pandemie zeigt das Versagen des Kapitalismus. Der Sozialismus wird für viele als Alternative wieder interessanter. Sein Name ist aber mit dem Makel der stalinistischen Diktaturen behaftet. Es ist eine historische Aufgabe der Revolutionär:innen, den Marxismus aus der stalinistischen Verfälschung zu befreien und eine revolutionäre Strategie aufzustellen.
30 Jahre nach dem Untergang der DDR ist die Siegerstimmung des deutschen Imperialismus merkwürdig leise. Noch im vergangenen Jahr, als mit großem Pomp das 30-jährige Jubiläum des Falls der Berliner Mauer gefeiert wurde, wurden große Pläne für das „Einheitsjahr“ geschmiedet. Im Vergleich dazu wirken die heutigen Feierlichkeiten mickrig.
Das liegt nicht allein an den hygienebedingten Einschränkungen durch den Coronavirus. Die Pandemie hat der deutschen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzt, und trotz Milliardenkrediten und Kurzarbeitergeld sind fast täglich Hiobsbotschaften über kommende Massenentlassungen, Standortschließungen und Firmenpleiten in den Zeitungen zu lesen. Das Triumphgeheul des Kapitalismus, vor 30 Jahren das „Ende der Geschichte“ eingeläutet zu haben, klingt hohl angesichts über einer Million Coronavirus-Toten weltweit, angesichts der weltweiten ökonomischen, politischen und sozialen Krise, angesichts der Verheerungen der durch die kapitalistische Profitmaschine scheinbar unaufhaltsam voranschreitenden Klimakatastrophe, angesichts der Massenbewegungen der vergangenen Monate und Jahre gegen Rassismus und Polizeigewalt, gegen korrupte Regierungen als Handlanger des Imperialismus.
Wenn heute „30 Jahre deutsche Einheit“ gefeiert werden, können selbst bürgerliche Politiker:innen und Kommentator:innen nicht umhin – auch wenn sie es gekonnt herunterspielen –, dass die Annexion der DDR zur Zerstörung der Lebensbedingungen von 17 Millionen Menschen führte und dass bis heute eine Ost-West-Spaltung die Republik durchzieht, in allen Bereichen von Arbeitsbedingungen und Lebensstandard bis hin zur Legitimität der bürgerlichen Demokratie. Oft wird dann versucht, den Aufstieg der Rechten in den vergangenen Jahren als „Ostphänomen“ zu stigmatisieren, da die „Ossis“ noch nicht demokratieerfahren genug seien. Dass der Aufstieg der Rechten eine Folge der Zerstörung der Lebensbedingungen ist und in den „strukturschwachen“ Regionen Westdeutschlands genauso verwurzelt ist, wird dabei verschwiegen.
Gerade die Coronavirus-Pandemie und die Antwort der Herrschenden weltweit – wo nicht nur ultrarechte Regierungen wie Trump in den USA oder Bolsonaro in Brasilien, sondern auch sozialdemokratische Regierungen wie im Spanischen Staat aufgezeigt haben, wie wenig ihnen das Leben der Menschen im Vergleich zur Sicherstellung kapitalistischer Profite wert ist – zeigen auf, dass der Kapitalismus nicht das „bessere“ System ist, das siegreich aus der „Systemkonkurrenz“ des Kalten Krieges hervorgegangen ist. Über eine Million Tote, Dutzende Millionen Arbeitslose, und eine Perspektive der Misere für Hunderte Millionen weltweit machen klar, dass eine Alternative im Interesse der übergroßen Mehrheit der Weltbevölkerung notwendig ist.
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Es ist vor dem Hintergrund ermutigend, dass Zeiten der Krise nicht nur Antworten von rechts, sondern auch Massenrebellionen und den Aufstieg sozialistischer Ideen ermöglichen. Doch häufig ist unklar, was sich hinter dieser Perspektive überhaupt verbirgt. Wovon sprechen wir also, wenn wir sagen, dass ein sozialistischer Ausweg die einzige Möglichkeit ist, damit die Kapitalist:innen für die Krise zahlen und nicht die Arbeiter:innenklasse, die Jugend, die Migrant:inen, die Frauen und LGBTQIA+?
Dass diese Frage nicht so leicht zu beantworten ist, liegt an der historischen Verantwortung des Stalinismus. Der Stalinismus hat weltweit, und besonders in Deutschland, die Vorstellung des Sozialismus als autoritär und bürokratisch in das kollektive Gedächtnis von Millionen von Menschen eingebrannt. Sozialismus und Marxismus wurden mit der bürokratischen, repressiven und antidemokratischen Politik der stalinistischen Bürokratien verschiedener Couleur gleichgesetzt.
Es ist deshalb eine zentrale Aufgabe für revolutionäre Sozialist:innen heute, den revolutionären Marxismus von der stalinistischen Verfälschung zu befreien und aufzuzeigen, dass unser Sozialismus „kein Sozialismus nationaler Inseln, kein Sozialismus der bürokratischer Privilegien und polizeilicher Diktatur, kein Sozialismus verknöcherter patriarchaler Moral [ist], sondern ein Sozialismus der breitestmöglichen proletarischen Rätedemokratie und der revolutionären Überwindung aller Formen von Ausbeutung und Unterdrückung“.
Die DDR war eine bürokratische Diktatur, allerdings auf der sozialen Grundlage der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Mit den Worten Leo Trotzkis, der den Stalinismus als „Reaktion auf dem gesellschaftlichen Fundament der Revolution“ bezeichnete, können wir sagen, dass wir die sozialen Errungenschaften der DDR – vor allem die Enteignung der Bourgeoisie und die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln als ihre Grundlage – gegen die kapitalistische Siegerjustiz verteidigen, die die Annexion der DDR als Befreiung zu rechtfertigen versuchen. Doch zugleich müssen wir die reaktionäre Rolle der stalinistischen Bürokratie verurteilen, die nicht nur das Bild dessen, was Sozialismus angeblich sei, nachdrücklich prägte, sondern auch gemeinsam mit der imperialistischen BRD-Bourgeoisie die Verantwortung dafür trägt, dass die kapitalistische Restauration siegen konnte.
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Wie wir an anderer Stelle schrieben: „Bei den stalinistischen Bürokratien liegt – gemeinsam mit den reformistischen Partei- und Gewerkschaftsbürokratien im Westen – die zentrale Schuld dafür, dass die internationale Revolution jahrzehntelang blockiert wurde. Wenn einige der zahlreichen antikolonialen und nationalen Revolutionen nach dem Zweiten Weltkrieg doch in sozialistische Revolutionen umschlugen (wie u.a. in China, Korea, Vietnam, Kuba), dann nicht wegen, sondern trotz der stalinistischen Führungen, die letztlich gezwungen waren, weiterzugehen als sie wollten.“
Emilio Albamonte und Matías Maiello schreiben dazu: „Die Geschichte der Volksfronten in den 30er Jahren, ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herrschaft, und der Ausverkauf revolutionärer Prozesse wie in Spanien oder Frankreich, ist Ausdruck des Versuches des Stalinismus, die Gunst der imperialistischen Mächte auf sich zu ziehen. Das Argument hierfür war, dass es möglich war, die Bourgeoisie zu „neutralisieren“, damit die UdSSR den „Sozialismus in einem Land“ entwickeln könnte.“
An dieser Stelle können wir sagen, dass die Aufgabe der Befreiung des Marxismus von der stalinistischen Verfälschung nicht nur eine Aufgabe der historischen Bilanz ist, in der wir den Aufstieg der stalinistischen Bürokratien aus der Mangelwirtschaft zur Sicherung ihrer Privilegien, die Ausschaltung der linken Opposition und der Rätestrukturen, den gesellschaftlichen Rollback zurück zu patriarchalen Normen und den Pakt des Stalinismus mit dem Imperialismus zum Abwürgen der Revolution in anderen Ländern analysieren. Es handelt sich auch darum, die theoretische Verfälschung, mit der der Stalinismus all diese Dinge zu rechtfertigen gesucht hat, zu berichtigen. Der Kampf gegen das Erbe des Stalinismus – als Teil des Kampfes für eine tatsächliche sozialistische Alternative, die den weltweiten Kapitalismus umstürzen und die Menschheit auf den Weg zum Sozialismus bringen kann – ist somit notwendigerweise auch ein theoretischer Kampf.
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Leo Trotzki, Anführer der Oktoberrevolution und später der größte Gegner Stalins und Gründer der Vierten Internationale, kämpfte die letzten 17 Jahren seines Lebens gegen den Prozess der Bürokratisierung der Sowjetunion und die Politik der stalinisierten kommunistischen Parteien. Trotzki betonte die Notwendigkeit einer politischen Revolution, um die Bürokratie zu entmachten und die sowjetische Demokratie wieder aufzubauen. Bevor er im Jahr 1940 von der stalinistischen Bürokratie schließlich ermordet wurde, lieferte er unzählige Beiträge zur Weiterentwicklung des Marxismus und zur Bekämpfung der stalinistischen Verfälschungen der marxistischen Theorie.
Der wichtigste Beitrag Trotzkis zur marxistischen Theorie und zugleich zum Kampf gegen den Stalinismus ist zweifellos die Theorie der Permanenten Revolution. In ihr verallgemeinerte Trotzki die Lehren der Russischen Revolution von 1917 und von gescheiterten Revolutionen wie der chinesischen von 1927. Er zeigte auf, dass nur die Arbeiter:innenklasse den Kampf für demokratische Fragen anführen kann und sich dabei nicht auf bürgerlich-demokratische Aufgaben beschränken, sondern sogleich zum Sozialismus voranschreiten muss. Damit setzte er der stalinistischen Politik der Klassenkollaboration, die in China 1927 zur Unterordnung der Kommunistischen Partei unter die bürgerliche Kuomintang und zum Abwürgen der Revolution führte, eine revolutionäre Perspektive entgegen. Zugleich muss die permanente Revolution einen tiefgreifenden revolutionären Prozess in der sozialistischen Gesellschaft anstoßen, bis völlig neue soziale Beziehungen entstehen und Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus usw. überwunden werden können. Diese Perspektive unterschied sich diametral von der stalinistischen Vision, die nationalistische Ressentiments schürte, patriarchale Familiennormen wieder einführte und Abtreibung und Homosexualität wieder bestrafte. Doch Trotzki ging noch weiter und lieferte mit der Theorie der permanenten Revolution eine vernichtende Kritik der stalinistischen Vorstellung des Aufbaus des „Sozialismus in einem Land“: Die sozialistische Revolution beginnt zwar auf nationaler Ebene, muss sich aber auf internationaler Ebene ausbreiten, wobei die einzelnen sozialistischen Revolutionen zu „Schützengräben“ im Kampf für die Weltrevolution sein müssen, oder bei Strafe des eigenen Untergangs degenerieren und schließlich zu kapitalistischen Verhältnissen zurückkehren.
Der Kampf für die internationale Revolution sorgte immer wieder dafür, dass Trotzki mit Stalin und den stalinisierten Kommunistischen Parteien in Konflikt geriet. So kämpfte Trotzki in zwei Phasen gegen die verbrecherische Politik des Stalinismus gegenüber dem Faschismus und gegenüber den revolutionären Prozessen in Westeuropa, die den Faschismus hätten stoppen können:
Im Kampf gegen den Faschismus in Deutschland hatte die stalinisierte Komintern die Losung des „Sozialfaschismus“ ausgegeben, nach der jede Zusammenarbeit mit der SPD im Kampf gegen den Faschismus unzulässig sei. Dagegen kämpfte Trotzki für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen den Faschismus, nicht nur als Element der Verteidigung gegen die Angriffe des Faschismus, sondern auch zur Konfrontation mit den reformistischen Bürokratien und zur Sammlung von Kräften für eine revolutionäre Gegenoffensive. Dabei baute er auf der Theoretisierung der Einheitsfront der ersten Kongresse der Komintern vor ihrer stalinistischen Degeneration auf, die die Taktik der Einheitsfront als Kombination aus Defensive und Offensive zur Sammlung von Kräfteverhältnissen und zur Vorbereitung des revolutionären Aufstands verstanden hatten.
Das ging für Trotzki einher mit der Notwendigkeit der Entwicklung von Organen der Selbstorganisation der Arbeiter:innen in Streikkomitees, Milizen und Räten. Für ihn waren die Räte in der revolutionären Periode die „höchsten Organe der Einheitsfront“, und zentrale Grundlage für den Aufbau der Macht der Arbeiter:innen. Auch diese Perspektive konfrontierte ihn mit der stalinistischen Bürokratie, die nicht nur in der Sowjetunion die Räte entmachteten, sondern auch ihren Aufbau in den kapitalistischen Ländern hemmten oder aktiv verhinderten.
Die zweite Schlacht Trotzkis gegen den Stalinismus in Bezug auf den Kampf gegen den Faschismus war die Kritik der Volksfront, also derjenigen Politik, die der Stalinismus nach der unleugbar gewordenen Niederlage der Losung des „Sozialfaschismus“ ausgerufen hatte: das Bündnis mit den „progressiven“ Teilen der Bourgeoisie gegen den Faschismus. Im Zuge dieser Politik verriet der Stalinismus die Spanische Revolution und unzählige andere revolutionäre Prozesse, denn er blockierte jede sozialistische Maßnahme als Teil der Volksfrontregierung, um das Bündnis mit der Bourgeoisie nicht zu gefährden. Nicht nur entwaffnete der Stalinismus damit die Arbeiter:innenklasse, sondern das Bündnis mit der Bourgeoisie konnte auch den Fortschritt des Faschismus nicht verhindern. Gegen die Politik der Volksfront hob Trotzki – wie schon gegen das Sektierertum des Stalinismus im Falle Deutschlands – die Notwendigkeit einer Einheitsfrontpolitik hervor.
Die Beiträge Trotzkis zur revolutionären Strategie und zur marxistischen Theorie zeigen auf, dass die Gleichsetzung von Marxismus und Sozialismus mit dem Stalinismus eine reaktionäre Geschichtsfälschung darstellt. Was mit dem Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks gescheitert ist, ist nicht die Perspektive des Sozialismus, sondern die bürokratisch degenerierten Regime, die die Arbeiter:innenklasse politisch enteignet haben.
Doch die kapitalistische Krise eröffnet heute zugleich die Möglichkeit und die Notwendigkeit des Wiederaufbaus einer wirklich revolutionären Strategie, in der Perspektive der permanenten Revolution.
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