28 Stunden für alle!
Die IG Metall fordert in ihrer aktuellen Tarifrunde die Möglichkeit, die Wochenarbeitszeit temporär auf 28 Stunden zu reduzieren. Doch die IG Metall müsste eigentlich viel radikaler die Arbeitszeit in Frage stellen.
Die Warnstreiks der IG Metall gehen weiter: Am Dienstag legten 60.000 Beschäftigte kurzzeitig die Arbeit nieder – das könnte eine gewaltige Machtdemonstration sein, wenn die Metallgewerkschaft diese „schweren Bataillone“ der Arbeiter*innenklasse in Deutschland wirklich in einen Kampf führt, der mehr ist als nur das routinierte Geplänkel alljährlicher Tarifverhandlungen.
Große, heroische Streiks hat die IG Metall in ihrer Vergangenheit einige geführt, zur Erkämpfung der Fünf-Tage-Woche, für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, für die 35-Stunden-Woche im Metall- und Elektrosektor und einige andere mehr. Auf den ersten Blick scheint sich die aktuelle Forderung der IG Metall, die Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden zu verringern, nahtlos in diese Reihe einzuordnen. Doch bei genauerem Hinsehen weist der Versuch auf ein viel tieferes Problem der Arbeitszeit hin.
Konkret sieht die Forderung der IG Metall vor, dass Beschäftigte auf Antrag für maximal zwei Jahre ihre eigene Arbeitszeit auf 28 Stunden pro Woche reduzieren dürfen, und danach ein Rückkehrrecht in die Vollzeit haben. Unter bestimmten Voraussetzungen, so zum Beispiel wenn man in der frei gewordenen Zeit Kinder oder Eltern pflegt, soll ein teilweiser Lohnausgleich von 200 Euro pro Monat zugezahlt werden.
Diese Forderung ist unbedingt zu unterstützen. Doch sie bleibt letztlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn auch wenn es gut ist, wenn Kolleg*innen ihre Arbeitszeit verringern dürfen, wenn sie Angehörige pflegen müssen, ist dies nur eine Symptom-Bekämpfung für ein viel tiefer gehendes Problem: Durchschnittlich arbeiten Menschen in Deutschland 43,5 Stunden pro Woche. Viel zu viel, und vor allem für die technologischen Möglichkeiten völlig unangemessen. Heutzutage wäre es ohne Probleme möglich, die Arbeitszeit permanent für alle Teile der Gesellschaft massiv zu senken. Stattdessen arbeiten Millionen von Menschen, bis sie an Burnout oder chronischen Rückenschmerzen leiden, während Millionen von Teilzeitkräften gerne länger arbeiten würden.
Dazu kommt: Im Pflegesektor fehlen hunderttausende Arbeitskräfte. Unbezahlte Pflegearbeit zuhause federt dieses Problem ab. Im Endeffekt wird durch eine temporäre 28-Stunden-Woche der Pflegenotstand in Deutschland nur verschleiert – und Politik und Bosse können sich noch länger darauf ausruhen.
Selbst bürgerliche Zeitungen haben dieses Problem erkannt. Die ZEIT kommentiert beispielsweise:
In einer chronisch überarbeiteten Gesellschaft wirkt die Forderung der IG Metall höchstens wie ein gut gemeintes, aber befristetes Diätangebot: Intervallfasten. Aber nur für die besonders schweren Fälle (bei Bedarf) und mit der Garantie, wieder zur gewohnten Kalorienzufuhr zurückkehren zu dürfen (Rückkehrrecht). Für den Alltag bedeutet das: Nachdem Sie die Kinder Kita-reif gezogen oder die Eltern ins Altersheim gepflegt haben, dürfen Sie sich endlich wieder selbst kaputt arbeiten. Bei voller Stundenanzahl und vollem Gehalt. Hurra.
Trotz der Beschränktheit der Forderung haben die Bosse Schaum vor dem Mund und wollen die Streiks verbieten lassen. Und sie ärgern sich zu Recht: Die Metallbranche macht Umsatzrekorde und sucht händeringend nach mehr Arbeitskräften, will sogar die Arbeitszeit erhöhen. Die IG Metall hätte also große Möglichkeiten für Druck – wenn sie ihre organisatorische Stärke wirklich ausspielen würde.
Wenn die IG Metall einen Sieg in der Arbeitszeitfrage einfährt, wäre das ein Signal für andere Branchen. Doch gerade deshalb braucht es zum einen mehr als die ritualisierte Warnstreik-Phase, sondern einen richtigen Vollstreik. Und zum anderen braucht es eine grundlegendere, viel radikalere Forderung nach Arbeitszeitverkürzung – bei vollem Lohnausgleich, ohne Einbußen für die Kolleg*innen.
Bisher diskutiert die IG Metall die 28-Stunden-Woche in Bezug auf die Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Doch das ist ein zweischneidiges Schwert, das sich blitzschnell gegen die Interessen der Kolleg*innen richten kann. So argumentiert ein Artikel der Süddeutschen Zeitung:
Niemand sollte vergessen, dass die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb steht – und ein Tarifvertrag auch für die Zeit passen muss, wenn der Boom abflaut. Deshalb sollte die Gewerkschaft im Verlauf der Verhandlungen ihre Forderung modifizieren, dass Mitarbeiter vom Unternehmen auch noch 200 Euro Zuschuss pro Monat bekommen, wenn sie ihre Arbeitszeit reduzieren. Und sie sollte auch den Firmen mehr Flexibilität zugestehen. Konkret hieße das: Die Unternehmen dürfen einen größeren Teil der Beschäftigten regelmäßig mehr als 35 Stunden die Woche arbeiten lassen als heute. Das reduziert die Kosten für Überstunden und hilft gegen Personalknappheit.
Ein Kuhhandel, der die 28-Stunden-Woche für einige ermöglicht, während er die Arbeitszeit für andere ausdehnt, könnte nur im Interesse der Bosse sein. Dagegen ist es unsere Überzeugung, dass die Fortschritte der Technologisierung nicht zur Flexibilisierung im Dienste der Gewinnmarge eingesetzt werden sollten, sondern im Gegenteil dazu, flächendeckend und für alle die Notwendigkeit der Arbeit zu verringern. Dafür sollten die Gewerkschaften, allen voran IG Metall, gemeinsam eintreten.