274 Tote für vier Geiseln: Das Nuseirat-Massaker

14.06.2024, Lesezeit 7 Min.
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Todesopfer nach einem israelischen Angriff. Foto: Anas-Mohammed / Shutterstock.com

Am 8. Juni beging das israelische Militär gemeinsam mit der israelischen Polizei und Unterstützung der USA eines der größten Massaker seit Beginn des Krieges – der Westen feiert.

Während alle auf das Voranschreiten der Friedensverhandlungen unter US-Präsident Biden warten, setzt Israel seinen genozidalen Krieg in Gaza ungehindert fort. Dabei kam es letzte Woche zu einem Massaker, das eher einem dystopischen Endzeitfilm gleicht. Die Brutalität und die Menschenverachtung hat für viele Beobachter:innen ein neues Level erreicht. 

Was wissen wir bisher?

Am Mittag des 8. Juni berichten Journalist:innen aus Gaza von einem anhaltenden Massaker im Nuseirats Flüchtlingslager in Deir al-Balah, Gaza-Zentrum. Interessant hierbei ist, dass die israelische Propaganda immer wieder behauptet, es sei wichtig, weiter nach Rafah einzudringen, weil das der einzige noch nicht von Israel kontrollierte Ort im Gazastreifen ist. Der Ort, an dem die Hamas und Verbündete noch aktiv sind. Das müsste logischerweise auch bedeuten, dass Israel davon ausgeht, dass die Geiseln unter der Hamas sich dort befinden und nicht in Deir al-Balah. Natürlich laufen gleichzeitig die Angriffe auf Rafah weiter, aber es ist wichtig, die israelische Kriegsführung und ihre internationalen Unterstützer:innen mit ihrer eigenen Propaganda zu konfrontieren.

Einer der perfidesten Fakten dieses Kriegseinsatzes ist wahrscheinlich das Verwenden von Lastwagen, die für Hilfsgüter genutzt werden, als  „Trojanisches Pferd“, koordiniert von US-Kräften und vom berüchtigten US-Hafen aus, der errichtet wurde, um die Bevölkerung zu versorgen. Weil der Hafen offensichtlich als militärische Basis genutzt wird, hat das Welternährungsprogramm der UN nun ihre Arbeit von dort aus eingestellt. Mit dieser Undercover-Aktion erschlich sich die israelische Armee den Weg in das Flüchtlingslager Nuseirat. Dabei ist noch nicht klar, ob sogar auch US-Kräfte aktiv beteiligt waren, wie Augenzeugen berichten. In einer Situation, in der die gesamte Bevölkerung Gazas von Hunger und Mangelernährung betroffen ist, warten alle sehnsüchtig auf diese Lieferungen. Nur um festzustellen, dass sie ein Massaker der israelischen Armee mit sich bringen. Zum jetzigen Zeitpunkt wird von 274 Toten und 698 Verletzten ausgegangen. Am Samstagabend äußerte sich dann Abu Obaida, Sprecher der Qassam-Brigaden, dem militanten Flügel der Hamas. Er spricht von mehreren getöteten israelischen Geiseln im Zuge dieser sogenannten Befreiungsaktion. Berichten zufolge sind drei Geiseln während der Aktion getötet worden. Die israelische Regierung weist diese Behauptung zurück. 

Netanjahu wieder fest im Sattel?

In den letzten Wochen ist der Druck auf Netanjahu, einerseits durch die US-Regierung und ihre Forderung nach einem Waffenstillstand, andererseits durch das eigene Kabinett und die Angehörigen der Geiseln, immer weiter gestiegen. Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts, beabsichtige am Samstag eine Rede zu halten, in der er seinen Rücktritt aus dem Kabinett verkünden wollte. Dazu ist es aufgrund der Ereignisse in Gaza nicht gekommen. Sein Rücktritt folgte aber einen Tag später. Die Gründe für seinen Rücktritt sind vielschichtig. Er behauptet, das Kriegskabinett verlassen zu haben, weil es keinen Plan für den Tag nach dem Krieg gibt. Wahrscheinlich fürchtet er allerdings auch eine Klage des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn. Es wäre nicht das erste Mal, dass seine Kriegsführung in Konflikt mit dem internationalen Recht gerät. So war er während der Kriegseinsätzen in Gaza 2014 Generalstabschef der Armee und 2021 Verteidigungsminister. 

Netanjahu kann die Aktion trotz allem wahrscheinlich als einen Gewinn für sich reklamieren und die imperialistischen Mächte des Westens atmen auf, da sie Israel nun wieder unkritischer unterstützen können. Gleichzeitig setzt sich in der israelischen Gesellschaft allerdings eine Kriegsmüdigkeit ein. Zu viele Soldat:innen sind gestorben, zu viele Geiseln sind noch im Gazastreifen. Deshalb kam es auch am Samstagabend wieder zu Massendemonstrationen, vor allem in Tel Aviv, auf denen ein Deal gefordert wurde, der alle Geiseln zurückbringen würde. 

Diese Siegessträhne Netanjahus wird also bald abreißen und die Welt wird sich wieder mit den grauenhaften Verbrechen Israels beschäftigen. Nicht zuletzt, weil Israel den Propagandakrieg verliert. Ein Faktor sind sicherlich die andauernden Rügen der UN-Institutionen, die die Kriegsführung Israels immer schärfer verurteilen. So wurde Israel beispielsweise am letzten Freitag auf eine sogenannte schwarze Liste gesetzt. Auf der Liste werden Länder und Organisationen aufgenommen, die besonders schwere Verbrechen gegen Kinder begehen. Israel reagiert mit seinem Propagandaschlager:  „Wir sind die moralischste Armee der Welt.“  Natürlich nimmt das niemand mit klarem Verstand mehr ernst. Aber Israel kämpft tagtäglich um seine Legitimität in der internationalen Gemeinschaft. 

Neben dem Horror in Gaza nimmt auch die Gewalt in der Westbank und in Ostjerusalem zu. Am sogenannten „Jerusalem-Tag“, an dem Israel mit einem nationalen Feiertag die illegale Annexion Ostjerusalems feiert, kam es zu Gewalt gegen einen palästinensischen und einen israelischen Journalisten, und rechte Mobs haben das Leben der palästinensischen Bevölkerung im besetzten Ostjerusalem komplett lahmgelegt. Ladenbesitzer, die sich weigerten zu schließen, wurden attackiert und nahezu alle Verkehrswege wurden von der Polizei blockiert. Alles unter der Verantwortung des rechtsextremen Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir. Natürlich stürmten Siedler:innen auch an diesem Tag wieder das muslimische Viertel der Altstadt und sogar das Gelände der Al-Aqsa-Moschee, um dort israelische Flaggen zu schwenken. Eine Aktion, die auch von Israels Verbündeten kritisch beobachtet wird.

Dabei ist es aber wichtig zu verstehen, dass Israel nicht durch internationales Recht, den Internationalen Strafgerichtshof, den Internationalen Gerichtshof oder Resolutionen aus dem Sicherheitsrat von seinen Verbrechen abgehalten werden kann. Sie sind alle Teil eines imperialistischen Systems, das die grundsätzlichen Machtverhältnisse nie infrage stellen würde. Bei den aktuellen Ereignissen in Gaza und der Reaktion des Internationalen Strafgerichtshofs darauf ist beispielsweise zu beobachten, dass Karim Khan drei Haftbefehle gegen Hamas-Funktionäre und nur zwei gegen israelische Minister beantragt hat. Während die Anträge gegen die Hamas auch Teile des militärischen Flügels, den „Qassam-Brigaden“ beinhalten, richten sich die Anträge auf der israelischen Seite nicht gegen das Militär. Außerdem werden der Hamas beispielsweise Vergewaltigung vorgeworfen, eine Behauptung der israelischen Propaganda, die laut UN-Bericht bis jetzt noch keinen einzigen Beweis dafür vorlegen konnte. Wenn man jetzt noch die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof miteinbezieht, ist es äußerst verwunderlich, dass Khan den israelischen Ministern nicht auch Völkermord vorwirft. Erst kürzlich hatte der IGH noch einmal präventive Maßnahmen, unter anderem einen Stopp des Militäreinsatzes in Rafah und die Zufuhr von Hilfsgütern gefordert. 

Wir können uns nicht auf die UN verlassen 

Der einzige Weg ist der revolutionäre Kampf der Arbeiter:innenklasse. Sie kann den Stopp der Waffenlieferungen erzwingen, wie es Hafenarbeiter:innen längst gezeigt haben. Auch die palästinensische Arbeiter:innenklasse kann, nicht nur durch bewaffneten Kampf, sondern auch durch Generalstreiks, das ökonomische System des israelischen Staates in die Knie zwingen. Die wichtigste Aufgabe der israelischen Arbeiter:innenklasse ist im Moment allerdings die Kriegsdienstverweigerung. Sie müssen verstehen, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht und das zionistische System nie eine Befreiung der israelischen Arbeiter:innen bezweckt hat. Zionismus ist eine Ideologie, die untrennbar mit Kolonialismus, Imperialismus und damit einer kapitalistischen Herrschaft verbunden ist. Die Organisation Mesarvot, die Verweigernde in ihrem Kampf unterstützt, ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, aber ohne große Teile der israelischen Gewerkschaften bleibt ein Kampf aus der israelischen Arbeiter:innenklasse beschränkt. Sie müssen bedingungslos mit dem Zionismus brechen und sich mit den Palästinenser:innen solidarisieren, bis Palästina frei ist.

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