15 Jahre „Brot und Rosen“
Vorwort zur englischen Ausgabe von „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“, erschienen bei Pluto Press.
Während ich das Vorwort zu dieser neuen Auflage von „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ schreibe, breitet sich die Covid-19-Pandemie auf der ganzen Welt aus. Sie zeigt uns, dass Dystopien real werden können und das alltägliche Leben in eine betäubende und surreale Lethargie umschlagen kann. Zwischen der ersten Ausgabe in spanischer Sprache und dieser ersten englischen Ausgabe liegen nur 15 Jahre, doch der Gegensatz von „Damals“ und „Heute“ ist gewaltig. Es ist der Unterschied von „vor“ und „nach“ Corona.
Dieses Buch wurde zunächst 2004 in Argentinien veröffentlicht. Erinnern wir uns zurück: Mark Zuckerberg startete gerade in den USA mit Freund:innen eine Website. Sie sollte die 20.000 Student:innen der Harvard-Universität miteinander verbinden. Mittlerweile hat Facebook über 2,3 Milliarden Nutzer:innen. Zudem besitzt es WhatsApp, den weltweit führenden Messenger-Dienst. Ohne ihn könnten wir uns unser Leben in Isolation mit den Online-Kursen, dem Homeoffice, der digitalen Unterhaltung und den Videogesprächen gar nicht mehr vorstellen. Inmitten der globalen Pandemie und der erschreckenden Ereignisse fühlt es sich an, als läge das Jahr 2004 mehr als ein Jahrhundert in der Vergangenheit.
„Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ wurde 2007 in Venezuela, 2008 in Brasilien, und 2010 in Mexiko veröffentlicht. 2013 kam eine korrigierte und erweiterte Fassung in Argentinien heraus. Diese zweite Version wurde anschließend 2016 in Italien und 2019 in Deutschland und Frankreich übersetzt und veröffentlicht. Trotz der Überarbeitung fast ein Jahrzehnt nach seiner Erstveröffentlichung, entstand dieser Text vor der internationalen feministischen Welle der letzten Jahre und den großen Ereignissen, die die Welt derzeit erlebt.
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Die Absicht der ersten Ausgabe 2004 war es, die Beziehung zwischen den Kategorien Geschlecht und Klasse im historischen Kontext zu betrachten. Wir befanden uns im äußersten Süden unseres Kontinents, außerhalb akademischer Kreise. Dieses Buch enthält zwar weder einen detaillierten Bericht über jeden der unendlichen Kämpfe der internationalen Frauenbewegung, noch behandelt es alle theoretischen Debatten innerhalb dieser Bewegung. Dennoch ist es – vor 15 Jahren – gelungen, eine These zu vorzustellen: nämlich, dass es keinen allmählichen, evolutionären Fortschritt hin zur Ausweitung der politischen Rechte und demokratischen Freiheiten für Frauen gibt.
Feministische Kämpfe machten damals keine Schlagzeilen. Gerade zu jenem Zeitpunkt wollte das Buch aufzeigen, dass Fortschritte und Rückschläge im Kampf gegen das Patriarchat innerhalb des kapitalistischen Systems mit Perioden von Reform, Revolution oder Reaktion zusammenfallen. Durch dieses Buch zieht sich die Idee, dass Frauenkämpfe gemeinsam mit dem Auf und Ab des Klassenkampfes voranschreiten und zurückweichen. Niederlagen der Massen führten dazu, dass Frauen und andere unterdrückte Teile der Gesellschaft zum Schweigen gebracht und zum Abwarten gezwungen wurden. Revolutionäre Prozesse brachten hingegen mit unerwarteter Geschwindigkeit bemerkenswerte Veränderungen des Alltagslebens und sozialer und politischer Institutionen hervor.
Eine ausführliche Diskussion über die Kämpfe um sexuelle Befreiung ist hingegen nicht Teil dieses Buches. Darüber haben wir zahlreiche Artikel geschrieben. Ebenso bietet es keine Analyse des Rassismus und des komplizierten Netzes von Unterdrückungen, das Geschlecht und Klasse mit race, Ethnizität und Nationalität verbindet. Nachdem wir wichtige Erfahrungen mit kollektiven Kämpfen gemacht und viel dabei gelernt haben, würden wir mittlerweile eine Analyse darüber aufnehmen, wie der Kapitalismus Leben und Körper in Hierarchien organisiert und die Arbeiter:innenklasse auf komplexe und heterogene Weise formt. Die jüngsten Aufstände in den USA gegen die institutionelle rassistische Gewalt des US-Imperialismus nach dem Polizeimord an George Floyd – mit Schwarzen Frauen in der ersten Reihe der Proteste – wären eine Inspirationsquelle für eine neue Untersuchung der Unterdrückung von Frauen und der Perspektiven der Emanzipation. Genauso inspirierend ist, dass im Herzen des Imperialismus eine neue Generation entsteht, die die Perspektiven einer sozialistischen Gesellschaft aufgreift.
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Doch als wir „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ schrieben, schwammen wir in Argentinien gegen den Strom: Die sozialen Bewegungen und der Widerstand gegen die wirtschaftliche und politische Krise am Ende des 20. Jahrhunderts passten sich mehr und mehr dem politischen Regime an und gaben ihre radikalsten Aspekte auf. Seitdem das Buch 2004 in seiner ersten Ausgabe erschien, hat sich der neoliberale Diskurs etabliert, dass die einzig mögliche Perspektive für soziale Bewegungen, einschließlich des Feminismus, darin bestünde „Rechte auszuweiten“. Paradoxerweise haben wir inmitten dieses Rückzugs der sozialen Bewegungen als anfänglich kleine Minderheit nicht nur dieses Buch veröffentlicht, sondern uns auch bemüht, eine materielle Kraft aufzubauen, die in der Lage ist, die darin reflektierten Ideen mit Leben zu füllen.
Deshalb behält dieses Buch trotz seiner bedeutsamen Unzulänglichkeiten und Auslassungen und sogar trotz der großen Ereignisse, die nach dem Erscheinen der überarbeiteten Ausgabe im Jahr 2013 stattfanden, einen besonderen Wert. Dieser ist nicht eine individuelle Leistung seiner Autorin. Ich schreibe meist in der ersten Person Plural, weil „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ das Ergebnis einer intensiven kämpferischen und widerständigen Praxis ist. Seine Seiten entstanden aus dem Aktivismus und den Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Es wurde von jungen Leuten gelesen und diskutiert, die für die Legalisierung von Abtreibungen kämpften, von Arbeiterinnen, die ihre Fabriken übernahmen und sie inmitten einer kapitalistischen Krise unter Arbeiter:innenkontrolle brachten, sowie von Studentinnen, die sich nicht damit zufrieden gaben, dass ihr antipatriarchaler Hass zu einem bloßen Slogan oder einer Modeerscheinung verkommen würde.
Das Buch wanderte von Hand zu Hand und ermöglichte es einem kleinen Kern revolutionär-marxistischer Aktivistinnen, die Frauengruppe Pan y Rosas („Brot und Rosen“) zu gründen. Sie vertritt eine klassenbasierte, antiimperialistische, antikapitalistische und antirassistische Haltung – in anderen Worten: Sie ist sozialistisch und revolutionär. Wenn dieses Buch nun 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung auf Englisch erscheint, hat sich der ursprüngliche Kern zu einer Strömung mit Tausenden von Arbeiterinnen im Dienstleistungssektor und in der Industrie, aus prekär beschäftigten Frauen, aus Frauen, die keinen Lohn erhalten, und aus jungen Studentinnen verwandelt. Unsere Ideen haben sich in Brasilien, Chile, Bolivien, Uruguay, Peru, Mexiko, Venezuela, Costa Rica, dem Spanischen Staat, Frankreich, Deutschland und Italien verbreitet.
Zu unserer Bewegung gehören Arbeiterinnen des multinationalen Konzerns PepsiCo in Argentinien, die gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen die Produktion stilllegten, um die gesamte Fabrikbelegschaft für den Frauenstreik gegen Femizide im Jahr 2016 zu mobilisieren. In Chile gehören zu Pan y Rosas Teresa Flores auch einige der Beschäftigten des Gesundheitswesens, Lehrerinnen und Jugendliche, die Ende 2019 in der ersten Reihen der Protestierenden öffentliche Plätze und Straßen besetzten, um das mörderische Piñera-Regime abzuschaffen. Im Spanischen Staat unterstützt Pan y Rosas jede einzelne Aktion von Las Kellys, einer Gruppe von prekarisierten Reinigungskräften, die für große Hotelketten arbeiten und größtenteils aus Afrika und Lateinamerika stammen. Diese Genossinnen haben auch ausführlich zu den Debatten über den neoliberalen Feminismus, die politische Rechte und die Logik des kleineren Übels in der imperialistischen Europäischen Union geschrieben. Unsere Genossinnen in Bolivien stellen ihre Körper in die erste Reihe der Proteste, die von der Diktatur von Jeanine Añez mit Blut und Feuer unterdrückt wurden. In Frankreich sind wir stolz auf unsere afrikanischen Genossinnen, die gegen das Unternehmen ONET streikten, das sie bei ihrer Reinigungsarbeit in den Bahnhöfen von Paris ausbeutet; sie sind zusammen mit Eisenbahnmitarbeiterinnen, Busfahrerinnen und Studentinnen Teil von Du Pain et Des Roses. In Argentinien sind Vertrauensleute des multinationalen Konzerns Mondelez (früher Kraft Foods) ebenfalls Teil von Pan y Rosas. Sie haben die Produktion in Protest gegen die sexuelle Belästigung einer Arbeiterin durch den Chef gestoppt. In Mexiko steht Pan y Rosas in der ersten Reihe des Kampfes gegen sexualisierte Gewalt, an der Seite von Müttern und Freundinnen, die Gerechtigkeit für die Opfer von Femiziden in Ciudad Juárez fordern. In Brasilien führen unsere Schwarzen Genossinnen von Pão e Rosas zusammen mit der revolutionären Schwarzen Organisation Quilombo Vermelho den Kampf gegen die prekären Arbeitsbedingungen, von denen besonders Schwarze Frauen betroffen sind. Sie machen damit den Zusammenhang von Klasse, Geschlecht und race für die kapitalistische Ausbeutung deutlich. Vor Kurzem haben sie ein Buch über Rassismus und Kapitalismus veröffentlicht.
Dies sind einige der Tausenden von Arbeiterinnen und Studentinnen, Lesben, trans Menschen, Latinx, Menschen afrikanischer Herkunft, Immigrantinnen und Indigene, die Teil der internationalen feministisch-sozialistischen Gruppierung Pan y Rosas sind. Während ich heute dieses Vorwort für die englische Ausgabe schreibe, stehen einige von ihnen in Krankenhäusern in Europa, den Vereinigten Staaten und Lateinamerika in der ersten Reihe des Kampfes gegen das Coronavirus.
Der Aufbau dieser kämpferischen internationalen Strömung hat die folgenden Ausgaben dieses Buches in verschiedenen Ländern inspiriert. Zugleich war das Buch ein elementarer Bestandteil bei der Organisierung von Tausenden von Frauen. „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ ist zu einem Werkzeug geworden, um Debatten anzustoßen und Menschen ohne Dogmatismus zu überzeugen. Dagegen bleibt es immer kompromisslos gegenüber der herrschenden Klasse, den Institutionen und den Ideologien, die die patriarchale kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung aufrechterhalten, reproduzieren und legitimieren.
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Die Pandemie, die sich momentan über den Planeten ausbreitet und eine Spur aus Infektionen und Todesfällen hinterlässt, hat interessante und kontroverse Debatten darüber ausgelöst, welche Welt uns erwartet. Wird nichts mehr so sein wie vorher, oder wird alles zur „Normalität“ zurückkehren? Wird dies das Ende der westlichen kapitalistischen Demokratien und der Aufstieg neuer totalitärer Regime mit einer beispiellosen Zunahme rassistischer und patriarchaler Gewalt bedeuten? Oder wird die Menschheit im Gegenteil neue Formen der Selbstorganisation schaffen und die Gesellschaft nach egalitären Maßstäben neugestalten?
Was auch immer geschieht, es wird nicht vom Coronavirus abhängen. Es wird zum einen von den herrschenden Klassen und ihren Regierungen abhängen. Sie versuchen in ihrem Eifer, die kapitalistischen Profite zu schützen, die Kosten der Krise auf die Schultern der arbeitenden Massen zu laden. Zum anderen hängt es davon ab, welche Antwort die Massen auf die Sparpläne geben können. Es drohen in Zukunft noch schlimmere Krisen für Millionen von Menschen, solange den reaktionären Kräften des Kapitalismus kein kollektives soziales Subjekt entgegensteht. Dieses Subjekt muss für seine eigene Lösung der uns alle bedrohenden Krise kämpfen, unabhängig von allen politischen Vertreter:innen der Kapitalist:innen bleiben und die Perspektive einer radikalen Transformation verteidigen.
Diese materielle Kraft müssen wir aufbauen. Junge Menschen in den USA, mit Schwarzen gemeinsam mit ihren Latinx-Geschwistern in der ersten Reihe, erfüllen uns mit Hoffnung, dass es möglich ist, auf diesem Weg voranzukommen. Ein antikapitalistischer und revolutionärer Feminismus kann sich dieser Aufgabe nicht entziehen. Die neue Krise, die wir erleben, macht den tiefen Widerspruch zwischen dem Profitstreben einer parasitären Klasse und dem Leben von Millionen von Menschen deutlich. Frauen sind dabei wieder einmal besonders betroffen.
Wenn „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ junge Arbeiterinnen und Studentinnen einer neuen Generation im Herzen des US-Imperialismus und in anderen Teilen der Welt dazu inspiriert, diese Aufgabe in die Hand zu nehmen – eine Kraft aufzubauen, die für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung kämpft, eine Welt, in der kein Mensch wegen seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Nationalität oder aus irgendeinem anderen Grund von einem anderen unterdrückt wird –, dann werde ich stolz darauf sein, dass dieses Buch seinen Zweck erfüllt hat.
Buenos Aires, September 2020
Die deutschsprachige Ausgabe von „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ erschien 2019 im Argument-Verlag, übersetzt von Lilly Schön und ist unter info@klassegegenklasse.org für 15 Euro plus Versand erhältlich.