​Eine Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen

28.03.2021, Lesezeit 25 Min.
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Quelle: Ideas de Izquierda

Der dritte und letzte Teil der Rede von Emilio Albamonte zur Eröffnung des Kongress der PTS im Dezember 2020 dreht sich um die Epoche von Krise, Krieg und Revolutionen und um die Frage, wie und warum wir kämpfen. Dies umfasst ebenso eine Bilanz des Nachkriegstrotzkismus.

Der imperialistische Krieg von 1914 besiegelte den Beginn der „Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen“, wie Lenin sie nannte. Der revolutionäre Marxismus kam indes relativ spät zu dieser Definition. Bereits zwischen 1899 und 1902 fand der sogenannte Zweite Burenkrieg statt, bei dem die Brit:innen die niederländischen Kolonist:innen töteten und eine Wende zum Krieg einleiteten. Zwischen 1904 und 1905 fand der Krieg zwischen dem russischen und dem japanischen Reich statt, in dessen Rahmen die russische Revolution von 1905 stattfand. Zwischen 1912 und 1913 fand die Balkankriege statt, in denen Slaw:innen und muslimische Bevölkerung einander töten (Trotzki war ein prominenter Chronist dieser Kriege). Der revolutionäre Flügel der Zweiten Internationale hatte schon die Lanzen mit dem Revisionismus gekreuzt, welcher eine friedliche Epoche des Kapitalismus voraussah ähnlich wie die von uns erwähnten aktuellen „Postkapitalist:innen“ , jedoch zog dieser revolutionäre Flügel die wichtigsten Schlussfolgerungen über die Epoche erst, als der Krieg schon kurz bevor stand oder sogar schon begonnen hatte. Zum Beispiel sind Lenins grundlegende Schriften wie Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus oder seine Notizbücher über Clausewitz usw. nach dem Kriegsausbruch 1914 entstanden. Und da reden wir über die prominentesten Revolutionär:innen des 20. Jahrhunderts. Das muss also für uns ein Weckruf sein, wie wir unseren Blick schärfen müssen, ausgehend von allem, was der Marxismus entwickelt hat, um eine vollständige Perspektive über die Etappe zu haben, in der wir leben.

Das große Problem ist, die Dinge nicht mechanisch zu wiederholen. In den 1930er Jahren war die Arbeitslosigkeit höher als heute, und es gab große Niederlagen. In diesem Rahmen gab es große an den Rand gedrängte Massen, weil der Kapitalismus über zu viel billige Arbeitskraft verfügte, aber das Kapital nicht verwerten konnte. Allerdings haben die Kapitalist:innen dafür einen Ausweg, der zwar politisch und gesellschaftlich sehr schwer durchzuführen, aber effektiv ist: Krieg, sogar Atomkrieg. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Hypothese eines Atomkriegs zwischen den USA und Russland in Begriffen der „Mutually Assured Destruction“ („wechselseitig zugesicherte Zerstörung“, auch als „Gleichgewicht des Schreckens“ bezeichnet) diskutiert, denn wenn zum Beispiel die USA Moskau bombardierten und dem Erdboden gleichmachten, konnte die UdSSR innerhalb von Minuten eine weitere Bombe abwerfen und Los Angeles, Kalifornien, zerstören. Die Imperialist:innen diskutierten ausführlich, wie ein Atomkrieg geführt werden könnte, indem sie Städte zerstörten und einen Vorteil aus dem nuklearen Austausch zogen, der es ihnen erlauben würde, der UdSSR ihren Willen aufzuzwingen. Es mag heute seltsam erscheinen, aber über diese Diskussionen wurden Tausende und Abertausende von Seiten geschrieben. Henry Kissinger argumentierte, dass das Problem eines Atomkrieges nicht der Atomkrieg selbst sei es würde ein paar hundert Millionen Tote geben, aber das wäre nicht das Problem , sondern dass der Tod zu schnell eintreten und den Menschen keine Zeit geben würde, damit umzugehen. Das würde es sehr schwierig machen, ein System nach einem Atomkrieg zu regieren und eine Revolution zu verhindern, die die Regierung zu Fall bringen oder den Staat direkt zerschlagen würde. Mit anderen Worten, er sah das Problem darin, wie man einen Atomkrieg führt, nicht als ein Problem an sich aufgrund der Tragödie, die der Atomkrieg verursachen würde.

Warum führe ich das Thema „Krieg“ ein? Weil der Kapitalismus alle möglichen Gegentendenzen hervorbringen kann: Er kann Blasen erzeugen wie die Immobilienblase, die 2008 platzte –, er kann sich auf China ausbreiten und die Revolution wieder in eine Konterrevolution verwandeln. Die Kapitalist:innen können viele Dinge erfinden, aber die Möglichkeiten des Kapitalismus, eine Lösung für seine Krisen zu finden, sind nicht zu trennen von der Organisation der Arbeiter:innenbewegung, dem Klassenkampf und den Revolutionen, der Aktion der Revolutionär:innen. Wenn diese grundlegenden Elemente eliminiert werden, ist es dem Kapitalismus offensichtlich eher möglich, eine Lösung für seine Krise zu finden. Aber wenn er keinen Ausweg findet und seine inneren Widersprüche ihn daran hindern, Kapital zu akkumulieren, steht ihm die Alternative zur Verfügung, die er im Ersten und Zweiten Weltkrieg angewandt hat, nämlich die Produktivkräfte zu zerstören, die Brücken, die Fabriken, die Gebäude, die Straßen usw. zu vernichten. Und so führt diese Zerstörung dazu, wieder einen fruchtbaren Boden für die Akkumulation von Kapital zu schaffen. Dies geschah in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als in den zentralen Ländern Vollbeschäftigung und hohe Wachstumsraten herrschten, weshalb diese Jahre als der Boom, „die glorreichen 30 Jahre“ des Kapitalismus bezeichnet wurden. Dieser Nachkriegsboom mündete im Neoliberalismus, denn weil es keine Revolution gab, musste die Profitrate zu fallen beginnen, als der Schwung des Wiederaufbaus Europas endgültig erschöpft war. So begannen die Kapitalist:innen den Großangriff auf die Errungenschaften der Arbeiter:innen.

Wer nicht begreift, dass sich die Tendenzen des Kapitalismus zum Krieg früher oder später durchsetzen und dass Revolution und Krieg zwei Seiten derselben Medaille sind, kann die Epoche, in der wir leben, nicht richtig verstehen. Wenn wir von Krieg sprechen, bedeutet dies nicht, dass er als ein allgemeiner Krieg zwischen Großmächten beginnen muss. Er kann als ein Krieg kleinerer Mächte beginnen, an dem die Großmächte beteiligt sind. Zum Beispiel gab es bereits Kriege zwischen Indien und Pakistan, wobei China ein Verbündeter Pakistans ist und dem Land einen Großteil seiner Waffen verkauft. Dieser Konflikt könnte in der gegenwärtigen Situation zu einem umfassenderen Krieg eskalieren, bei dem der US-amerikanische und europäische Imperialismus nicht tatenlos zusehen würden. Es ist daher eine naive Vorstellung, davon auszugehen, dass die tiefsten Widersprüche, die die Verwertung des Kapitals erschweren, mittel- und langfristig durch die Gesetze des Kapitalismus selbst gelöst werden können, anstatt zu denken, dass diese tiefgründigen Tendenzen uns zu regionalen Kriegen führen, die sich in Weltkriege verwandeln können.

Im Allgemeinen sind viele Marxist:innen skeptisch, dass es eine Zeit der Krisen, Kriege und Revolutionen gibt. Die Krisen sind seit 2008 und seit der aktuellen Krise schon schwieriger zu leugnen. Und was Revolutionen angeht, so wird manchmal widerwillig akzeptiert, dass sie passieren können. Aber Kriege, groß angelegte Kriege wie der Zweite Weltkrieg, scheinen für viele unmöglich zu sein. Doch das ist, wie wir sagten, zumindest eine naive und oberflächliche Sichtweise des Kapitalismus.

Wie Trotzki sagte, predigen wir nicht den Krieg. Aber dass die Widersprüche des Kapitalismus zutiefst dazu beitragen, ihn zu erzeugen, können wir nicht verheimlichen. Zum Beispiel: Die aktuellen Krisen haben nicht das Niveau der Krise von 1929 erreicht, aber wenn sie sich in eine solche Krise verwandeln, wenn mehr als 8.000 Banken bankrott gehen, dann werden sich die Tendenzen zum Krieg in den USA aktualisieren und Biden wird sich in einen großen Kriegsherren verwandeln. Er kann auf das Beispiel seines Mentors Obama – den Perry Anderson als „Herr der Drohnen“ bezeichnete – zurückgreifen, denn Obama führte während seiner Präsidentschaft Tausende von gezielten Tötungen durch. Derselbe Präsident, der diese oben erwähnte Wende einleitete, um China zu umzingeln, das sich seinerseits mit der Errichtung von bewaffneten Inseln verteidigt. Von diesem Standpunkt aus gesehen sind die tiefsten Tendenzen zu Krieg und Revolution und all die außergewöhnlichen Nöte, die der Kapitalismus schafft, Angelegenheiten, die zur Revolution führen.

Heute steckt der Kapitalismus in immer größeren Schwierigkeiten. Er dämmt sie durch partielle Zugeständnisse ein, ist aber nicht in der Lage, die tiefsten Widersprüche, die ihn durchziehen, zurückzuhalten. Bei zwischenstaatlichen Widersprüchen kann es, wie der Artikel von Claudia Cinatti zur internationalen Lage zeigt, auch nach einem Sieg Bidens keine Rückkehr zur Situation vor Trumps Amtsantritt geben. Der Konflikt mit Russland wird weitergehen, der Konflikt mit China wird weitergehen, die regionalen Konflikte werden weitergehen. Wir sehen ein Szenario mit zwischenstaatlichen Spannungen und zunehmenden Schwierigkeiten für die Kapitalakkumulation vor uns. Revolutionäre und kriegerische Reaktionen sind in der Situation eingeschrieben. Wir Revolutionär:innen glauben, dass die Revolution –, obwohl die Situation sehr komplex ist und obwohl die Revolution voller Schwierigkeiten ist – eine viel realistischere Lösung ist als die reformistischen Auswege, die am Ende nichts lösen und immer größere Massen in die Armut führen. Denn der Kapitalismus ist seit den 70er Jahren an eine Grenze seiner Akkumulation gestoßen und seine Krisen kommen immer schneller und tiefer wieder.

Das bedeutet nicht, dass die gegenwärtige die letzte Krise ist, oder der letzte Krieg, oder der letzte Klassenkampf, oder die letzte proletarische Revolution; das zu sagen, wäre lächerlich. Aber in jedem der Prozesse, die entstehen, können wir beim Aufbau einer proletarischen Partei vorankommen und viele von ihnen können uns eine revolutionäre Perspektive eröffnen.

​Warum und wie wir kämpfen

Wenn wir einige dieser Themen auf ein näheres Beispiel anwenden wollen, können wir für Argentinien die Bilder der Orte Tartagal und General Mosconi in der Provinz Salta in den Jahren 2000 und 2001 nehmen. Damals wurden die Angestellten des öffentlichen Dienstes mit mehreren Monaten Verspätung bezahlt. Der Ölkonzern Repsol, der bei der Privatisierung des staatlichen Ölkonzerns YPF Milliarden von Dollar verdient hatte, hatte tausende Arbeiter:innen in die Arbeitslosigkeit geschickt. Also überfielen Raffinerie-Arbeiter:innen, Beamt:innen und Lehrer:innen die Gendarmerie. Große Schlagzeilen in der Presse lauteten „Überfall auf die Gendarmerie“. Das war nicht die Russische Revolution, das war Argentinien im Jahr 2000. Auf den Fotos aus dieser Zeit sieht man Arbeiter:innen, die eine Fabrik stürmen, Ölarbeiter:inen und Arbeitslose, ausgerüstet mit dem, was sie der Gendarmerie entrissen hatten. Mit anderen Worten: Leiden jenseits des Üblichen verändert die Denk- und Handlungsweisen von Menschen, die sehr passiv und friedlich sein können. Die Menschen wollen keinen Krieg, sie wollen Frieden, aber wenn die Alternative darin besteht, zu verhungern, akzeptieren viele Menschen das nicht. Das war also die Situation vor dem Dezember 2001 in Argentinien, durchzogen voller derartiger Konflikte. Und dann kam der Angriff mittels brutaler Lohnabwertung und der so genannten „asymmetrischen Umwandlung von Dollar in Peso„. Danach begannen die Rohstoffpreise zu steigen und die Weltwirtschaft erholte sich und die Situation war gerettet, aber wenn die Krise noch drei oder vier Jahre angedauert hätte, hätte sich die Lage in Argentinien in eine offen revolutionäre Situation verwandeln können.

Die Notwendigkeit, eine revolutionäre Partei aufzubauen, ist also der Rahmen der Diskussionen, die wir auf dieser Konferenz führen müssen. Denn Krisen wie die, die wir jetzt erleben, die zu Arbeitslosigkeit führen, zu Prekarisierung und Absturz der Löhne, verändern die Denk- und Handlungsweisen der Menschen, in einer Situation, die immer schwieriger einzudämmen ist. Das bedeutet wie gesagt nicht, dass es die letzte Krise oder die letzte Konfrontation sein wird. Wir kennen das Wann nicht; es wird nicht unbedingt diese Krise sein. Aber wann auch immer es sein wird, sei es in zwei oder drei Jahren, müssen wir uns schon jetzt vorbereiten. Das heißt, wenn wir zu einer Partei von 10.000 oder 20.000 Arbeiter:innen anwachsen, die wiederum Gewicht bei 10 oder 15 Prozent der Arbeiter:innenklasse hat, von den Festangestellten bis zu den Staatsangestellten, Lehrer:innen und Prekären, ist das ein Riesensprung, um sich auf diese oder die zukünftige Krise vorzubereiten.

Gleichzeitig wissen wir, dass diese Prozesse nicht auf der nationalen Ebene aufhören. Deshalb sind wir Internationalist:innen und kämpfen gemeinsam mit den Organisationen der FT-CI für den Wiederaufbau der Vierten Internationale. Wie die Theorie der permanenten Revolution zeigt, beginnt die Revolution auf nationalem Terrain, setzt sich auf internationalem Terrain fort und wird durch die Vereinigung der Produktivkräfte auf Weltebene vollendet, um alle Technik und Wissenschaft im Dienste der Verkürzung des Arbeitstages einzusetzen. Das heißt es, eine Vereinigung freier Produzent:innen zu bilden.

Wir kämpfen für eine sozialistische Gesellschaft, in der jede:r der Gesellschaft nach ihren:seinen Fähigkeiten gibt und von der Gesellschaft nimmt, was sie:er zum Leben braucht. Nicht nur die grundlegendsten Güter, sondern alle Güter (der Wissenschaft, Kultur usw.), die man zum Leben braucht. Wie Trotzki sagte, sind wir keine Asket:innen, keine Mönche. Wir sind nicht gegen „Luxus“-Produkte, sondern dagegen, dass ein Prozent der Menschheit Luxusprodukte hat und der Rest nichts zu essen hat. Wir sind nicht gegen Privateigentum in dem Sinne, dass Menschen Häuser haben, wir sind nicht dagegen, dass Menschen Autos haben, wir sagen keines dieser lächerlichen Dinge, die uns zugeschrieben werden. Wir sind für die Verstaatlichung der großen Produktions- und Zirkulationsmittel, für die Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, die Zehntausende von Hektar besitzen und zusammen mit dem internationalen Finanzkapital das ganze Geld ins Ausland bringen. Wir sind gegen die riesigen Fabriken –- die sogar mit staatlichen Zuschüssen gebaut werden, wie Techint oder Aluar oder alle großen Autofabriken des ausländischen Kapitals, die alles, was sie aus den Arbeiter:innen herauspressen, außer Landes schaffen und in ihre Hauptsitze bringen. Wir sind gegen diese Dinge. Unser Ideal ist weder lächerlich, noch kindisch, noch Armutsromantik. Das heißt, wir wollen nicht, dass alle arm sind und nur der Mangel besser verteilt wird auch wenn die Revolution in ihren Anfängen vielleicht durch Momente der Armut gehen muss –; unser Ziel ist es, die Revolution auf internationaler Ebene zu entwickeln. Und wir wissen, dass dieser Prozess nicht zum Höhepunkt kommen kann, wenn es dem US-Proletariat nicht gelingt, den Wahnsinn der in den USA existierenden Rüstungsproduktion aller Art einschließlich der Atomwaffen zu entschärfen.

In den Vereinigten Staaten werden jährlich fast 750 Milliarden Dollar für Militärausgaben ausgegeben, um Atom-U-Boote, Tomahawk-Raketen, radarunsichtbare Flugzeuge, Atomwaffen usw. herzustellen. Der Staat kann keine universelle Krankenversicherung anbieten, aber gibt das für die Verteidigung aus, also fast das Doppelte von dem, was 45 Millionen Argentinier:innen in einem Jahr produzieren. Die Massen in den USA haben zum Beispiel in der Reaktion auf die Ermordung von George Floyd Kampfkraft gegen Rassismus gezeigt. Nicht nur, dass es zu einem allgemeinen Linksruck kam, der sich in den Stimmen für den Reformisten Bernie Sanders ausdrückte, sondern es zeigte sich im direkten Kampf, in den Mobilisierungen, die stattfanden, manche friedlich und einige gewaltsam. Das nordamerikanische Proletariat kann auch von einer Welle von Revolutionen ergriffen werden, die nicht unbedingt in den USA beginnen, sondern in schwächeren Ländern starten und sich ausbreiten können. Das geschah zum Beispiel mit der Russischen Revolution, die unter anderem dazu führte, dass sich Kommunist:innen in Argentinien und Lateinamerika ausbreiteten – der Kommunismus wurde dank der Russischen Revolution von einer marginalen zu einer wichtigen Bewegung in Lateinamerika. Das ist die Norm: Revolutionen verbreiten sich, sie erzeugen Sympathie, und wenn es zum Beispiel gelingt, die Arbeitszeit zu senken und allen ein würdigeres Leben zu ermöglichen, wäre das ein großes Beispiel für die Arbeiter:innen auf der ganzen Welt, den von ihren herrschenden Klassen errichteten Wahnsinn abzubauen.

Das ist der Grund, warum wir kämpfen. In der Art und Weise, wie wir kämpfen, liegen die größten Fehler des Nachkriegstrotzkismus. Was haben die Trotzkist:innen in der Nachkriegszeit vorgebracht? In der UdSSR haben sie nicht versucht, eine Partei aufzubauen; sie waren wenige und die Situation für den Aufbau war dort sehr schwierig. Im Westen wurden aufgrund des Erfolgs, den die Sowjetunion hatte, aufgrund des Prestiges, das ihr die Niederlage der Nazis verliehen hatte, und weil sie wirtschaftlich wuchs, die sozialistischen und kommunistischen Parteien zu großen Massenorganisationen. Viele Trotzkist:innen wurden dann zu „Berater:innen“ dieser Parteien – allen voran die Strömung des Vereinigten Sekretariats. Sie beabsichtigten, die Bürokratie zu beraten, wie man kämpfen sollte, was Unsinn war. Diese Orientierung wurde 1951 von Michel Pablo in dem Dokument „Wohin gehen wir?“ vorgeschlagen. Ab dem Zeitpunkt setzten sie in diesen Parteien einen „Entrismus sui generis“ um; „sui generis“ deshalb, weil es nicht mehr um die Taktik eines Entrismus ging, Teile der Avantgarde für den Aufbau einer unabhängigen revolutionären Partei zu gewinnen, sondern das Ziel nun war, innerhalb dieser kommunistischen Parteien zu bleiben. Sie glaubten, dass ein Weltkrieg zwischen der UdSSR und den USA bevorstünde und dass, wenn dieser Moment käme, die stalinistische Bürokratie nach links driften müsste. Und dann könnten sie, da sie innerhalb dieser Parteien waren, die Führung erobern. Das ist nicht geschehen. Im Wettbewerb mit dem Kapitalismus hat der Kapitalismus gewonnen. Es gab keine objektiven Möglichkeiten für Trotzkist:innen, irgendeinen revolutionären Prozess in den zentralen Ländern anzuführen. Was aber subjektiv vom Trotzkismus abhing, war die Möglichkeit, trotzkistische Strömungen auf nationaler und internationaler Ebene aufzubauen, auch wenn sie Avantgarde-Gruppierungen gewesen wären. Indem sie sich als „Berater:innen“ für diese Bürokratien im Westen betätigten, gaben die um das „Vereinigte Sekretariat“ gruppierten Sektoren diese Perspektive auf. Gleichzeitig waren die Sektoren des Trotzkismus, die sich dieser Orientierung entgegenstellten – der so genannte „Antipablismus“ – auch keine konsequente Alternative für den Aufbau dieser Strömungen. Das führte dazu, dass der Trotzkismus als Ganzes sehr schlecht aufgestellt war, als die großen entscheidenden historischen Ereignisse stattfanden.

Unter diesem Gesichtspunkt sollte unsere Konferenz meiner Meinung nach unter folgendem Motto stehen: nicht mehr nur auf Pump von der trotzkistischen Bewegung leben, nicht mehr nur vom angesammelten historischen politischen Kapital leben. In dem Video, das ich im August dieses Jahres zu Ehren Trotzkis gemacht habe, habe ich kommentiert, wie die Trotzkist:innen in den Konzentrationslagern der UdSSR unter dem Ruf „Es lebe Trotzki“ starben, wie sie gegen die Faschist:innen, gegen den Stalinismus und gegen die „demokratischen“ Imperialist:innen kämpften. Dieser Anspruch ist korrekt, aber es gibt Strömungen, die das ganze Jahr über ihre ganze Energie in die Routine verschiedener Wahlen (politisch und gewerkschaftlich) und sogar in die Verwaltung staatlicher Hilfen stecken und dann einmal im Jahr Trotzki huldigen; das ist ein Leben auf Pump vom Trotzkismus. Und wir müssen auch tief darüber nachdenken: Wenn es eine Krise gibt, die nicht unbedingt „die letzte“ ist, sondern die die vorherigen Bedingungen verschlechtert, und wir nicht versuchen, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die doppelt oder dreifach so groß ist wie jetzt, die viel mehr in die Gewerkschaften durchdringt, die die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und die prekär Beschäftigten organisiert, die sich an den Landbesetzungen beteiligt – also nicht nur Teil der Arbeiter:innenbewegung der Festangestellten und der Studierendenbewegung ist –; wenn wir all das nicht tun, dann leben wir vom geborgten Erbe des Trotzkismus. Wenn wir all das tun, wenn wir konsequent genug dafür kämpfen, dass die Methode der Selbstorganisation durchgesetzt wird, wo kein Anführer kommt und dich herumkommandiert, usw., dann steht uns der Weg offen, nicht mehr vom geborgten Erbe Trotzkis zu leben und anzufangen, unser eigenes revolutionäres politisches Kapital anzuhäufen. Wir müssen eine revolutionäre und sozialistische Partei der Arbeiter:innen aufbauen, wir müssen diese ursprüngliche Akkumulation, die wir 30 lange Jahre lang sehr langsam betrieben haben, umwandeln und ins Spiel bringen.

Wenn wir von Zentrismus sprechen, meinen wir, dass sogar unsere eigene Bewegung logischerweise von der Gewerkschaftsbürokratie vergiftet wird. Vor einiger Zeit hatten wir eine große Diskussion mit einer Gruppe, die sich Liga für eine Revolutionär-Kommunistische Internationale (LRKI) nannte: Wir sprachen von Zentrismus und sie antworteten, dass es keinen trotzkistischen Zentrismus gibt, dass er versteinert sei und sich nicht nach links entwickeln könne. Wir haben uns geweigert, diese Charakterisierung vorzunehmen. Die Erfahrung, die wir zum Beispiel in Frankreich machen, zeigt uns, dass wir durch den Eintritt in die NPA – wo wir versucht haben, prinzipielle Vereinbarungen mit dem linken Flügel dieser Partei zu treffen, um für den Aufbau einer wirklichen revolutionären Partei in Frankreich zu kämpfen – in der Lage waren, bei der Annäherung und Gewinnung eines Sektors der besten Arbeiter:innen der Avantgarde für den Trotzkismus voranzukommen. Inzwischen haben wir dort mehr als 200 Genoss:innen, darunter Genossen wie Anasse Kazib, der ein großer Anführer bei der Eisenbahn ist, der mit bürgerlichen Politiker:innen im Fernsehen diskutiert, neben anderen Genoss:innen, die wichtige Referenzen ihrer Fabriken und Gewerkschaften sind. Natürlich verwaltet die NPA keine Sozialpläne des Staates, wenn das der Fall wäre, wäre es viel schwieriger, eine Politik wie die in Frankreich zu machen. Schauen wir uns ein anderes Beispiel an: In der Lateinamerikakonferenz, die wir mit den Kräften der FIT organisierten was dazu diente, die Debatten zu politisieren, aber wo sich zwischen den teilnehmenden Kräften große Unterschiede in der internationalen Politik in den verschiedenen Ländern zeigten gab es Genoss:innen, die die brasilianische PSOL vor allem kritisierten, weil ihr Programm nicht sozialistisch ist. Das ist richtig, aber das Hauptproblem, das die PSOL hat, ist ihre Beziehung zum Staat, was dafür sorgt, dass sich die eher rechtsgerichteten Strömungen innerhalb der Partei durchsetzen. Die argentinische NMAS sagte, dass die Stimme für Guillerme Boulos in der zweiten Runde der Wahl für die Präfektur der Stadt São Paulo die Linke in Brasilien stärkt, während Boulos für diese Wahl eine Vereinbarung mit allen bürgerlichen Strömungen gegen Bolsonaro getroffen hat, um mehr Stimmen zu bekommen. Wir haben es dagegen kategorisch abgelehnt, die Kandidatur von Boulos im Bündnis mit allen bürgerlichen Strömungen zu unterstützen, denn sie ist kein Fortschritt für die Linke, sondern ganz im Gegenteil. Und das, obwohl wir mit demokratischen Kandidaturen auf den Listen der PSOL angetreten waren – eine Möglichkeit, die in Brasilien von Strömungen verwendet wird, die es aufgrund des im Lande herrschenden antidemokratischen Wahlrechts nicht schaffen, eine eigene Legalität zu erlangen, und die sich dann mit ihrem eigenen Programm auf den Listen einer anderen Organisation aufstellen –.

Um auf Argentinien zurückzukommen: Wir haben die FIT, die ein großartiges Werkzeug ist, um politische Agitation zu machen und für Wahlen zu kandidieren; das ist sehr gut, aber nur solange wir uns darüber im Klaren sind, dass das nicht unsere Strategie ist, denn unsere Strategie ist es, eine revolutionäre Partei aufzubauen. Der parlamentarische Kampf steht hinter dem außerparlamentarischen Kampf. Wir haben uns aufgebaut in Jahren, in denen wir an den Hauptkämpfen der Avantgarde der Arbeiter:innen teilgenommen haben, aber im Rahmen eines niedrigen Klassenkampfes. Wir müssen die sich abzeichnenden Phänomene des Klassenkampfes nutzen, um mutig zu intervenieren und uns auf die sich abzeichnende Situation vorzubereiten. Dies werden wir in der Konferenz besprechen.

Aber ich möchte betonen, dass das, was in den Dokumenten zur nationalen Situation steht, nicht „die argentinische Ausnahme“ ist, weil sich in Argentinien eine revolutionäre Situation entwickeln würde und wir auf dem Weg zur Machtübernahme wären. Das sagen wir nicht; wir sagen, dass es eine anfänglich vorrevolutionäre Situation gibt. Wir versuchen, in unserer Charakterisierung so nüchtern wie möglich zu sein, nicht wie der Zentrismus, bei dem sich alles darum dreht, sich im Wettstreit zu messen, wer jede Situation am linkesten sieht. Zum Beispiel wurde in der MAS der 80er Jahre die Charakterisierung getroffen, dass es eine revolutionäre Situation gab. Diese Charakterisierung galt für sie seit dem Beginn der Krise der Diktatur und wurde dann weiter aufrechterhalten, auch nach der Machtübernahme Alfonsíns und seiner Festigung in der Regierung. Sie haben diese Charakterisierung mehr als ein Jahrzehnt lang nicht geändert. Wenn dies der Fall ist, verlieren die Worte ihre Bedeutung. Wir diskutieren so genau wie möglich, was die Elemente der Situation sind, und legen die Definition von „anfänglich vorrevolutionär“ vor, um zu definieren, wie wir uns positionieren.

Kommen wir zum Schluss. Die tiefsten Tendenzen zu Krieg und Revolution die sich früher oder später durchsetzen werden und die wiederkehrenden Krisen haben letztlich keinen anderen Ausweg als durch Revolutionen, die den Krieg beenden, oder Kriege, die einen Teil der Menschheit vernichten. Ich spreche hier von den alternativen Auswegen aus der Krise eines Kapitalismus, der keine neuen eigenen Akkumulationsmotoren finden kann; ich spreche nicht von einem klaren Datum, sondern dass es sich um die tiefsten Tendenzen in einer Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen handelt. In den 1970er Jahren endete der Nachkriegsboom und es begann der Neoliberalismus, ein reaktionärer Ausweg des Kapitalismus; es folgten mehrere Blasen. Jetzt können sie Blasen machen, die zwei oder drei Jahre halten niemand sagt, dass sie nicht aus dieser Krise herauskommen werden und dann nächstes Jahr zum Beispiel in Argentinien zwangsläufig die Revolution stattfindet. Was wir sagen wollen, ist, dass wir, wenn wir die Möglichkeiten der Situation nicht nutzen und nur auf Pump vom Erbe des Trotzkismus leben, zu Nicht-Revolutionär:innen werden, zu einer nicht-revolutionären Propagandagruppe. Wir können nicht auf Pump leben und nur sagen: „Wir Trotzkist:innen hatten immer Recht, weil wir immer Stalins Verbrechen, Hitlers Verbrechen angeprangert haben, und unsere Genoss:innen starben heldenhaft in Nazideutschland, in Vichy-Frankreich, in der Sowjetunion“. In diesem Sinne müssen wir nicht nur die PTS, sondern die gesamte FT-CI aufbauen. Wir müssen uns nicht nur den Kopf zerbrechen, um das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft mit kommunistischer Perspektive erstrebenswert zu machen, in der die menschliche Arbeit von den Beschränkungen, die der Kapitalismus auferlegt, befreit wird und auf ein Minimum reduziert werden kann, und in der die Entwicklung von Kultur, Wissenschaft und allem, was den Menschen zum Menschen macht, ermöglicht wird. Wir müssen uns auch den Kopf zerbrechen, um die Wege zu artikulieren, wie man dieses Ziel erreichen kann.

Langfristige reformistische Varianten gibt es nicht und kann es nicht geben; es kann nur kurzfristige Artikulationen geben. Langfristige Projekte, die darauf basieren, dass die Technik als eigenständiger Faktor die Widersprüche des Kapitalismus überwinden kann, halten wir weder für wissenschaftlich fundiert, noch wollen wir darauf setzen. Wir setzen darauf, dass die Mobilisierungen, die von ihrem jeweiligen Minimalprogramm ausgehen, gesteigert werden können, bis die Arbeiter:innen die Arbeiter:innenmacht in jedem Land und perspektivisch auf internationaler und weltweiter Ebene erobern. Dies ist der Rahmen, in dem wir die Diskussionen der PTS-Konferenz führen sollten. Das heißt, wir diskutieren nicht im Rahmen einer Welt, die von kapitalistischen Mächten umgeben ist, die aufblühen, und in der Argentinien die Ausnahme ist. Wir sind von dieser Situation umgeben; ein großer Teil der Welt, einschließlich der Hauptmächte, lebt in dieser Situation. Solange es keine konterrevolutionären Schläge gibt, die uns isoliert zurücklassen, ist es eine sehr vielversprechende Situation für uns. Ich wollte dies ansprechen, damit es als Rahmen für die Dokumente dienen kann, die wir in diesen Tagen der Konferenz ernsthaft und nüchtern diskutieren werden, um zu sehen, wie wir vorankommen können.

Teil 1 dieses Vortrags erschien am 14.3.2021 unter dem Titel „Die marxistische Methode und die Aktualität der Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen“. Teil 2 erschien am 21.3.2021 unter dem Titel „Ein utopischer Post-Kapitalismus“.

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