Waren die deutschen Arbeiter*innen Schuld am Faschismus?

08.05.2020, Lesezeit 20 Min.
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Ein Beitrag über die Unhaltbarkeit der Kollektivschuldthese.

In diesem Artikel sind wir daran interessiert, mit der verbreiteten Position zu debattieren, die die Schuld des deutschen Volkes am Nationalsozialismus feststellte. Diese Position spielte unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung der sozialistischen Revolution eine wichtige Rolle, insbesondere am Ende des Krieges, als, mit den Worten des britischen Generals Smutz an den britischen Premierminister Winston S. Churchill, „die Bolschewisierung eines zerbrochenen und ruinierten Europas eine konkrete Möglichkeit bleibt“.[1] Eine derjenigen, die diese Position annahm, war Hannah Arendt. Sie ist repräsentativ für einen Sektor, der sich dem neuen Szenario des Kalten Krieges anpasste und dazu beitrug, es ideologisch zu zementieren. In diesem Fall auf der von den USA angeführten Seite der „freien Welt“, wie wir in diesem Artikel sehen werden.

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es unter Intellektuellen eine intensive Debatte über die Bedeutung der zerstörerischsten Feuersbrunst der Geschichte – mit Auschwitz und der Atombombe. Eine Debatte über die Welt, die dieses Inferno auslöste, und über die Entstehung des Nationalsozialismus.

Ein bedeutender Teil der amerikanischen Intellektuellen (z.B. ein großer Teil der New Yorker) begann, sich in die neue Situation zu integrieren, die durch den Kalten Krieg und die Truman-Doktrin entstanden war.[2] Ihre Theorien wurden in Ideologien umgewandelt, um die „freie Welt“ der USA schöner aussehen zu lassen und ihren Hauptverbündeten im Krieg, die Sowjetunion, zu dämonisieren und mit dem Nazismus gleichzusetzen. Die Entwicklung der Schriften Hannah Arendts ist repräsentativ hierfür.

Schon vor Kriegsende hat Hannah Arendt den Antisemitismus zu Recht mit dem Imperialismus in Verbindung gebracht, um den Nationalsozialismus zu definieren:

Worum es auch heute noch geht, ist die politische Struktur der Imperialismen sowie die Zerstörung der imperialistischen Doktrinen, die in der Lage sind, Menschen zu ihrer Verteidigung oder ihrem Aufbau zu mobilisieren. Die imperialistische Politik hat die Wege der ökonomischen Legalität längst verlassen […] Es wird in der Tat bald klar werden, dass die „Rassenorganisation“, der eigentliche Kern des Faschismus, die unausweichliche Folge der imperialistischen Politik ist.[3]

Zu dieser Zeit und unter dem Eindruck des Kampfes gegen den Nazismus war die Sowjetunion eher ein Modell:

Was Russland betrifft, so wurde das, worauf jede politische und nationale Bewegung achten sollte – ihre völlig neue und erfolgreiche Art, nationale Konflikte zu bearbeiten und auszuführen, verschiedene Bevölkerungsgruppen auf der Grundlage nationaler Gleichheit zu organisieren – von Freunden und Feinden übersehen.[4]

Nichtsdestotrotz wird die deutsche Philosophin von der Kategorie des „Imperialismus“ (der sie in erster Linie Großbritannien und das Dritte Reich als seine schärfste Form zurechnet) zwischen 1946 und 1950 schrittweise zur Kategorie des „Totalitarismus“ übergehen, der die stalinistische Sowjetunion und den Nazismus einschließt und der weiterhin im Zentrum ihrer Überlegungen stehen wird, wobei sie sich von der Kategorie des „Imperialismus“ verabschiedet.

Tatsächlich wird sie in ihrem 1951 erschienenen Buch Die Ursprünge des Totalitarismus, einem Datum, das mit ihrem Erhalt der US-amerikanischen Staatsbürger*innenschaft zusammenfällt, ausschließlich im Zusammenhang mit der Sowjetunion und dem Dritten Reich auf Konzentrationslager verweisen. Wie Losurdo feststellt, fällt auf, dass sie in ihrer Definition von Totalitarismus über einige Länder wie Mussolinis Italien und Francos Spanien (Länder, die der NATO beitraten) schweigt und andere wie Indien erwähnt, das zwar ein parlamentarisches Regime genießt, aber zu dieser Zeit ein Verbündeter der Sowjetunion war. Sie lässt sogar die Konzentrationslager für Japaner*innen in den USA und den Rassismus gegen Schwarze beiseite. Es zeigt, dass für Arendt der Kampf zwischen Totalitarismus und Antitotalitarismus perfekt mit dem Kampf zwischen den beiden Blöcken zusammenfällt. Nach Enzo Traverso erhielt der Begriff des Totalitarismus, dessen Verbreitung zu einem großen Teil dem oben erwähnten Arendtschen Werk zu verdanken ist, in den Jahren der Veröffentlichung des Buches, mitten im Kalten Krieg, eine präzisere politische Konnotation. [5]

Trotzki war einer der ersten, der den totalitären Charakter des UdSSR-Regimes anprangerte und die dringende Notwendigkeit einer politischen Revolution zur Wiederherstellung der sowjetischen Demokratie auf der Grundlage des sowjetischen Mehrparteiensystems, die Wiederherstellung des Rechts auf Kritik, die Wiedergeburt der Gewerkschaften usw. ansprach. Er wies auch auf die Ähnlichkeit der Regime von Hitler und Stalin hin, die nach seinen eigenen Worten wie „Zwillingsgestirne“ waren. [6]

In einer Polemik gegen eine Position, die diese Ähnlichkeit im politischen Regime der UdSSR und Deutschlands auf das wirtschaftliche Terrain übertrug, antwortete Trotzki:

Wie viele Ultralinke setzt Bruno R. Stalinismus im wesentlichen mit Faschismus gleich. Einerseits hat die Sowjetbürokratie die politischen Methoden des Faschismus übernommen, andrerseits steuert die faschistische Bürokratie, die sich noch auf „partielle“ Maßnahmen der Staatseinmischung beschränkt, auf eine völlige Verstaatlichung der Wirtschaft zu und wird sie bald erreichen. Die erste Behauptung ist absolut richtig. Aber Brunos Behauptung, daß der faschistische „Antikapitalismus“ in der Lage sei, zu einer Enteignung der Bourgeoisie zu gelangen, ist völlig falsch. „Partielle“ Maßnahmen der Staatseinmischung und der Nationalisierung unterscheiden sich von der staatlichen Planwirtschaft genauso, wie sich Reformen von einer Revolution unterscheiden. Mussolini und Hitler „koordinieren“ nur die Interessen der Besitzenden und „regulieren“ die kapitalistische Wirtschaft, und noch dazu hauptsächlich für Kriegszwecke. Die Kremloligarchie ist dagegen etwas anderes: Sie kann nur deshalb die Wirtschaft als Ganzes lenken, weil die Arbeiterklasse Rußlands den größten Umsturz der Eigentumsverhältnisse in der Geschichte durchgeführt hat. Diesen Unterschied darf man nicht aus den Augen verlieren.[7]

Für Trotzki kann die materielle Grundlage der verschiedenen Tendenzen im politischen Regime – d.h. sein Klassencharakter, der bestimmt ist durch den Charakter der Eigentumsformen und der Produktionsbeziehungen jedes Staates und seine objektive historische Rolle – nicht ignoriert werden. Während die stalinistische Bürokratie ein Regime der Unterdrückung errichtete, um jede revolutionäre Tendenz, die sie in Frage stellte, zu ersticken, war sie in ihrer Außenpolitik entschlossen, die Beteiligung der Sowjetunion am Krieg zu vermeiden.

Denn der Krieg konnte ihre politische Dominanz auf zwei Arten liquidieren: durch eine Niederlage gegen den Imperialismus – oder durch die Revolution. Im Gegenteil setzte sich der Nationalsozialismus in einem imperialistischen Deutschland – mit einem Mangel an Kolonien im Gegensatz zu den imperialistischen „Demokratien“ Großbritannien und Frankreich – durch, um die Klassenwidersprüche im eigenen Land zu liquidieren und eine neue europäische Teilung im Ausland anzufechten. Nur von einem historisch-materialistischen Standpunkt aus kann man dann erklären, warum es die totalitäre Sowjetunion war, die das totalitäre Deutschland besiegte, und nicht die „Demokratien“. Aus einer Logik, die die Entsprechung der politischen Formen nicht relativiert, lässt sich auch nicht erklären, warum das „demokratische“ Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs den totalitären König von Griechenland bedingungslos schützte, eine Invasion in das Land startete und 33 Tage gegen ein Volk kämpfte, das im Kampf für eine demokratische Republik die deutsche Besatzung besiegt hatte.

Wie wir im Fall von Arendt gesehen haben, war es notwendig, den totalitären Charakter der Regime mehrerer kapitalistischer Länder der alliierten Seite zu verbergen, um die Behauptung der absoluten Opposition zwischen Demokratie und Faschismus – die auch den zweiten Weltkrieg erklären soll – oder eben zwischen Demokratie und Totalitarismus aufstellen zu können. Die Versuche, Faschismus und Stalinismus, Stalinismus und Bolschewismus gleichzusetzen oder, ganz allgemein, die Wirkungsweisen der Revolution mit denen der Reaktion zu identifizieren, waren jedoch nicht neu. Die Beschwörung von „Moral“ ist typisch für die kleinbürgerliche Intelligenz in Momenten der Reaktion. Wenige Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und erst recht nach dem Hitler-Stalin-Pakt berichtete Trotzki über dieses Phänomen:

Für die Demokraten sind Faschismus und Bolschewismus die Zwillinge, da sie sich dem allgemeinen Wahlrecht nicht beugen […] Die Gemeinsamkeiten der so verglichenen Tendenzen sind unbestreitbar. Die Realität sieht jedoch so aus, dass die Entwicklung der menschlichen Spezies weder mit dem allgemeinen Wahlrecht, noch mit „Blut und Ehre“, noch mit dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis endet. Der historische Prozess ist vor allem ein Kampf der Klassen, und es kommt vor, dass verschiedene Klassen im Namen unterschiedlicher Ziele analoge Methoden anwenden. Letztendlich konnte es nicht anders sein. Kriegerische Armeen sind immer mehr oder weniger symmetrisch, und wenn es keine Gemeinsamkeiten in ihren Kampfmethoden gäbe, könnten sie keine Angriffe gegeneinander führen.[8]

Trotzki argumentierte in seiner Polemik mit James Burnham [9]:

Ein gewöhnlicher kleinbürgerlicher Radikaler ähnelt einem liberalen „Progressiven“ darin, daß er die UdSSR als Ganzes nimmt und ihre inneren Widersprüche und Dynamik dabei nicht versteht. Als Stalin einen Pakt mit Hitler schloß und in Polen und jetzt in Finnland einfiel, jubelten die gewöhnlichen Radikalen, die Gleichheit der Methoden des Stalinismus und des Faschismus wäre bewiesen! Sie sahen sich jedoch in Schwierigkeiten, als die neue Obrigkeit die Bevölkerung aufforderte, die Landbesitzer und Kapitalisten zu enteignen – sie hatten diese Möglichkeit überhaupt nicht vorhergesehen! Unterdessen störten die revolutionären sozialen Maßnahmen, die mit Hilfe bürokratischer militärischer Mittel durchgeführt wurden, nicht nur unsere dialektische Definition der UdSSR als degeneriertem Arbeiterstaat nicht, sondern bekräftigten sie unumstößlich.[10]

Ohne eine materialistisch-dialektische Analyse der Nachkriegsrealität, ohne einen Klassenstandpunkt, spielte die „progressive“ amerikanische Intelligenz schließlich die Rolle des Schreiberlings des US-amerikanischen Imperialismus im Kalten Krieg.

Schuld oder Verbrüderung mit dem deutschen Volk?

Man kann sagen, dass Hannah Arendts Denken 1944 eine Wende macht, als sie in die Debatte über die Schuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des Nationalsozialismus eingriff. Die Wende vollzieht sich zwischen ihrer anfänglichen Position, diesen als Produkt des Imperialismus zu erklären, und ihrer späteren, die eine für die Ideologie des Westens funktionale Analyse einnimmt. An dieser Stelle wird Arendt den Nationalsozialismus als ein Staatssystem oder eine Staatsmaschinerie analysieren, die die bürgerlichen Freiheiten und politischen Rechte außer Kraft setzt, „jene ‚Verwaltung des Massenmordes‘, in deren Dienst nicht Tausende, nicht Zehntausende von ausgewählten Mördern, sondern ein ganzes Volk gestellt werden konnte“. [11] Hannah Arendts Behauptung der deutschen Schuld wird durch ihre Behauptung belegt werden, dass die alliierte Parole, dass nur ein „toter Deutscher“ ein guter ist – „die extremste Parole“ – „auf realen Umständen beruht: Nur wenn die Nazis jemanden hängen, können wir wissen, dass er wirklich gegen sie war. Es gibt keinen anderen Beweis.“ [12]

Die Versuche, das Proletariat und das deutsche Volk zur Rechenschaft zu ziehen, sind seit der Machtübernahme Hitlers unternommen worden. Die Trotzkist*innen waren die einzigen, die diese Politik anprangerten, systematisch bekämpften und die einzige Alternative gegen diese Politik darstellten. Wie der trotzkistische Anführer Felix Morrow seinerzeit schrieb, muss man, um dem deutschen Volk die Schuld zu geben, seinen revolutionären Kampf gegen Hitler und die Verantwortung der Sozialdemokratie und des Stalinismus für die erlittenen Niederlagen ignorieren[13] und vergessen, wie letztere kampflos dem Aufstieg Hitlers nachgegeben hatten. Es sollte vergessen werden, dass der deutsche Chauvinismus zunächst vom französischen Imperialismus als Garant und meistbegünstigte Nation des Versailler Vertrags genährt wurde, und im Gegenzug vom englischen Imperialismus, der mit Hitlers wütendem Antibolschewismus sympathisierte. Die Konterrevolution kleinbürgerlicher faschistischer Banden gegen die deutsche Arbeiter*innenbewegung (ein besonderes Merkmal des Faschismus) und die Zerstörung ihrer Gewerkschaften und Parteien muss vertuscht werden.

Im Gegenteil, für die Trotzkist*innen wie

für Lenin war es ein Axiom, dass die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft es den großen Massen unmöglich macht, ihren eigenen Willen und ihr eigenes Schicksal direkt zu bestimmen. Die kapitalistische Kontrolle der wirtschaftlichen und politischen Macht, der Schulen, der Zeitungen, des Radios usw., sowie die Heterogenität der Massen bedeutet, dass selbst die kapitalistische ‚Demokratie‘ eine Form der Diktatur der Bourgeoisie ist. Und die Diktatur kann nicht direkt von den Massen gestürzt werden. Ihre Heterogenität hindert sie daran, auf andere Weise zu kämpfen als durch die Führung von Arbeiterparteien. Die Klasse und die Partei sind keineswegs identisch. Zudem sind die Führung und die Massen nicht dasselbe. Klasse, Partei und Führung, diese drei präzisen Begriffe sind die Eckpfeiler der leninistischen Politik. Lenin tadelte jedenfalls nie die Massen, er tadelte immer bestimmte Parteien und vor allem ihre Führung für ihr Versagen, den Kapitalismus zu stürzen.[14]

Zweifellos werden diese drei Konzepte von denjenigen, die das deutsche Volk zur Verantwortung ziehen, nicht übernommen.

In den ersten Kriegsjahren, als die Nazis fast ganz Europa besetzten, brachten die Alliierten über einen englischen Sprecher (Vansittart) die oben erwähnte Schuldpolitik mit dem Satz „der beste Deutsche ist ein toter Deutscher“ zum Ausdruck. Gleichzeitig forderte der Stalinismus zwar, den Widerstand der imperialistischen Führung De Gaulles anzuvertrauen, bekräftigte diese Politik jedoch mit der Losung „Jedem sein ‚Boche'“[15] als Ziel des antifaschistischen Widerstands und ermutigte zu individuellen Angriffen und Guerillakrieg gegen jeden Deutschen. Die Alliierten verbargen nicht nur ihre Verantwortung dafür, den Faschismus gefördert zu haben, sondern verfolgten auch das Ziel, die Völker beider Seiten, insbesondere die deutschen Soldaten (die zumeist Bauern und Arbeiter waren), die sich in den besetzten Ländern befanden, zu trennen und eine mögliche Verbrüderung mit dem eingedrungenen Volk zu verhindern. Für den Nationalsozialismus funktionierte diese Propaganda funktional zu seiner chauvinistischen Kampagne, indem sie zeigte, dass „die ganze Welt“ gegen Deutschland war, und so zur Erhaltung der nationalen Einheit beitrug und es schwierig machte, innere Risse zu öffnen, ohne die es für die deutschen Massen unmöglich war, einen Sturz des Naziregimes in Erwägung zu ziehen.

Die Propaganda über die deutsche Schuld wurde von den Alliierten von 1942-43 verstärkt, als sich in einigen der wichtigsten europäischen Länder revolutionäre Situationen zu entwickeln begannen und die Nazis ihre wichtigsten Niederlagen in der UdSSR erlitten. In diesem Fall diente sie den Alliierten nicht nur dazu, die Völker daran zu hindern, sich mit einer unabhängigen Politik gegen beide imperialistischen Seiten zu vereinigen,[16] sondern auch dazu, das Terrain für die Verteilung der deutschen Beute vorzubereiten und harte Bedingungen für Kriegsreparationen und für den Wiederaufbau der zerstörten deutschen Wirtschaft zu stellen, die vom deutschen Volk selbst bezahlt werden sollten.[17] Der Stalinismus, als Teilnehmer an der Verteilung, war auch funktional für diese Politik. Doch

bis zum Ende, als die Bombenteppiche der alliierten Armeen regelmäßig auf die Arbeiterquartiere fielen und dazu beitrugen, jeden ernsthaften Widerstand gegen Hitler zu lähmen, bekämpften die deutschen revolutionären Arbeiter den Faschismus durch Streiks und Demonstrationen. Deutsche Deserteure, zu denen sich ausländische Arbeiter gesellten, erhoben sich gegen die SS. In einigen Städten ergriffen die Arbeiter vor der Ankunft der alliierten Armeen in einem mutigen Aufstand die Macht. Dieselben Streitkräfte, die dem deutschen Volk vorwerfen, Hitler nicht gestürzt zu haben, taten alles in ihrer Macht stehende, um diese proletarischen Aufstände zu liquidieren und mundtot zu machen. Denn letztlich sind sich die siegreichen Imperialisten, die besiegten Hitlerfaschisten und die deutsche Bourgeoisie, die heute als demokratisch gilt, sich darin einig, die proletarische Revolution als ihren gemeinsamen Feind zu betrachten. Gerade die Behandlung des deutschen Volkes auf der Grundlage des Prinzips der Kollektivschuld gibt den getarnten Faschisten die Möglichkeit, das trübe Wasser des Nationalismus aufzuwühlen. Dies ist umso leichter, als diese These die Schuld der wirklichen Naziverbrecher verschleiert und ihnen die Möglichkeit gibt, sich ihrer gerechten Strafe zu entziehen, indem sie das gesamte deutsche Volk für schuldig erklärt.[18]

Die Trotzkist*innen riefen im Gegenteil von Anfang an die Arbeiter*innen der Welt dazu auf, das deutsche Volk als Opfer ihrer Führung zu sehen und Solidarität zu zeigen, indem sie nach Wegen suchten, die internationalistische Verbrüderung und Einheit der Völker gegen die für den imperialistischen Krieg verantwortlichen Regierungen zu konkretisieren und so die Erfahrung aus der Zeit vor dem russischen Oktober[19] fortzusetzen. In Europa sollte diese Einheit um das gemeinsame Ziel herum zum Ausdruck gebracht werden, für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu kämpfen, der einzige Weg, um einen echten „Völkerfrieden“ zu garantieren.

Am weitesten ging die Erfahrung der Verbrüderung in der Stadt Brest. Von der Internationalistischen Arbeiterpartei, der offiziellen Sektion der Vierten Internationale, die etwa fünfzehn Mitglieder in der Region zählte, gefördert, erzählt ein Kämpfer der französischen LCR:

Zweifellos war es die Tatsache, dass Brest eine Stadt war, in der sich die Garnison lange genug für die Flugabwehr, die Wartung der U-Boote und den Bau des Atlantikwalls aufhielt, die diese Erfahrung ermöglichte. Unter dem Einfluss und der Leitung von Robert Cruau, einem Briefträger aus Nantes, der nach Brest gekommen war, um der Gestapo von Nantes zu entkommen, und der Deutsch sprach, widmeten sich Teile der Gruppen aus Brest und Quimper dieser äußerst riskanten und gefährlichen Aufgabe. […] Die Zahlen, die wir haben, die aber nur ungefähr sind, deuten auf etwa fünfzehn Soldaten hin, die in einer Zelle umgruppiert sind, von denen sieben oder acht behaupteten, der Vierten Internationale anzugehören. Insgesamt scheinen sich 25 bis 30 Soldaten bereit erklärt zu haben, sich an der Verteilung der deutschsprachigen Zeitung „Zeitung für Soldat und Arbeiter im Westen“ an Heer und Marine zu beteiligen. Die Artikel wurden von den deutschen Soldaten geschrieben.

Die Aktivität, die im März 1943 begann, endete im Oktober desselben Jahres, als die meisten Trotzkist*innen und alle beteiligten Soldaten verhaftet wurden. Die meisten wurden erschossen oder blieben in Haft.

„Diese Erfahrung, absolut einzigartig in den Annalen des Widerstands in Frankreich, wurde bei der Befreiung aus mehreren Gründen völlig zum Schweigen gebracht. Erstens hätte die KP Frankreich die Annahme nicht geduldet, dass sich auch Trotzkisten am Widerstand beteiligt hätten. Für die KPF waren sie Hitler-Trotzkisten, und deshalb war es unmöglich.

Da die Machthaber die Kommunisten brauchten, um die Situation wieder in Gang zu bringen, sollten sie sich nicht mit einer solchen Frage befassen. Die Trotzkisten ihrerseits hatten kaum die Mittel, dieses Schweigen zu brechen […] Warum also diese Geschichte wieder aufgreifen, die schließlich eine fast im Laboratorium gemachte Erfahrung war? Vielleicht lässt einen der Jahrestag der Landung in der Normandie, an der zum ersten Mal eine offizielle deutsche Delegation teilnahm, daran denken, dass nicht alle Deutschen Nazis waren. Hätte man statt der Forderung nach ihrer Ermordung ohne Unterschied eine Verbrüderung unter den Arbeitern mit oder ohne Uniform im Massenmaßstab befürwortet, hätte man die Physiognomie des Krieges und seiner Ergebnisse verändert.[20]

Obwohl diese Erfahrung an sich nichts an der Realität ändern konnte, hätte sie, wenn sie sich ausgebreitet hätte, den Triumph der Revolution anheizen können. Nur würde sie diesmal, anders als im Ersten Weltkrieg, nicht vom „rückständigen“ Russland ausgehen, sondern in einigen „fortgeschrittenen Ländern“ im Herzen Europas beginnen und sich entwickeln. Im Gegensatz zur Definition der „deutschen Schuld“ zeigt die marxistische Vision, dass es an einer revolutionären Partei fehlte. Mit anderen Worten, es ist den stalinistischen und sozialdemokratischen Führungen zu verdanken, dass das Proletariat die Katastrophe des zweiten interimperialistischen Krieges nicht ausnutzen konnte, um als Sieger hervorzugehen. Der Trotzkismus ist die einzige Strömung, die sich rühmen kann, den Zweiten Weltkrieg durchlebt zu haben, ohne der Politik der „heiligen Allianz“ nachgegeben zu haben, im Gegensatz zu den kommunistischen Parteien, die das Proletariat und die Massen den „verbündeten“ Bourgeoisien unterordneten.

Dies ist nicht nur ein notwendiger historischer Anspruch, sondern ermöglicht es auch, sich auf künftige Situationen vorzubereiten, denen die Massen in dieser Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen ausgesetzt sein werden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch.

Fußnoten:

[1] Winston S. Churchill, La Segunda Guerra Mundial. El cerco se Cierra, Buenos Aires, Peuser, 1965, S. 454, eigene Übersetzung
[2] Über die Sowjetunion: “totalitäre Regime, die freien Völkern durch direkte oder indirekte Aggression auferlegt werden, untergraben die Grundlagen des Weltfriedens und damit die Sicherheit der Vereinigten Staaten”. Henry S. Commager (Hsg.), Documents of American History, Vol. 2, New York, Appleton-Century-Crofts, 1963, S. 255, eigene Übersetzung.
[3] Hannah Arendt, Imperialism: road to suicide; the political origins and use of racism, 1946.
[4] op.cit., S. 271.
[5] Enzo Traverso, La historia desgarrada. Ensayo sobre Auschwitz y los intelectuales, Barcelona, Herder, 2001, S. 91, eigene Übersetzung.
[6] Leo Trotzki, Das Zwillingsgestirn Hitler-Stalin (1939). https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/12/zwilling.htm
[7] Leo Trotzki, Die UdSSR im Krieg (1939). https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/09/vdm-ussrkrg.html
[8] León Trotsky, “Emanaciones de Moral” en Escritos Filosóficos, Bs. As., CEIP, 2004, S. 80, eigene Übersetzung.
[9] James Burnham war Mitglied der SWP, der US-amerikanischen Sektion der 4. Internationale. Er führte eine Fraktion an, die 1939-40 begann, den Staatscharakter der UdSSR als bürokratisch degenerierten Arbeiter*innenstaat in Frage zu stellen. Als der Krieg endete, war Burnham ein führender Intellektueller der antikommunistischen Kampagne, die von den USA angeführt wurde.
[10] Leo Trotzki, Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party (1939).
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/12/vdm-kboswp.html
[11] Hannah Arendt, op.cit., S. 40.
[12] Hannah Arendt , op.cit., S. 38.
[13] Auch müsste man die Revolutionen von 1918-19 (sowie die Ermordung ihrer besten Anführer*innen Luxemburg und Liebknecht) und von 1923 vergessen, oder die Politik des Stalinismus, der sich weigerte, eine Einheitsfront mit der Sozialdemokratie (dem „Sozialfaschismus“) einzugehen.
[14] Felix Morrow, “Stalin acusa al proletariado alemán” (Junio 1942), Cahiers León Trotsky Nº 66, Francia, ILT, 1999, S. 51, eigene Übersetzung.
[15] Boche war ein Schimpfwort für Deutsche.
[16] 1942 wurden andererseits eine große Anzahl an Arbeiter*innen der besetzten Länder als billige Arbeitskraft nach Deutschland deportiert, was sie in direkten Kontakt zu deutschen Arbeiter*innen brachte. Es gibt Flugblätter aus der Zeit, in der Trotzkist*innen die Arbeiter*innen, wenn sie ihre Deportation nicht vermeiden könnten, dazu aufrief, sich mit den deutschen Arbeiter*innen zu verbrüdern.
[17] “Zerstörung des Landes, Annektion von großen Regionen, gezwungene „Rückkehr zum Land“, Plünderung der Maschinen, Beschlagnahmungen aller Art, Deportation von Millionen aus ihrem Land, Hunger aufgrund der Blockade, Milliarden in Kriegsreparationen. Das ist der „Frieden“, der dem deutschen Volk angeboten wird, das in seiner Gesamtheit als schuldig erklärt wird“. Internationale Solidarität mit dem deutschen Proletariat, Europäisches Exekutivkomitee der Vierten Internationalen, 12/45-1/46.
[18] ebd.
[19] Die Wellen des Patriotismus wurden nicht nur vom Zarismus, sondern danach auch von den Sozialrevolutionären und Menschewiki nach der Februarrevolution vorangetrieben. Die russischen und deutschen Soldaten verbrüderten sich, ermutigt von den Bolschewiki, an der Front. Sie bereiteten die Bildung der Arbeiter vor, die in der Revolution 1918-19 eine zentrale Rolle spielen würden.
[20] André Fichaut, “Los trotskistas franceses en la 2ª Guerra Mundial. Una resistencia diferente”, Rouge Nº 2073, 15/07/2004, eigene Übersetzung.

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