Tunesien: Arabischer Frühling Reloaded?
Vor fünf Jahren begann in Tunesien der Arabische Frühling. In den letzten Wochen erlebt das Land die seitdem größten Massenproteste. Können die aktuellen Proteste wieder in die Offensive übergehen?
Am 16. Januar klagte der Arbeitslose Ridha Yahyaoui im zentraltunesichen Sidi Bouzid, dass er nicht im öffentlichen Dienst eingestellt wurde. In seinem Protest kletterte er vor dem Gouverneurssitz auf einen Strommast und wurde von einem Stromschlag umgebracht. Es kamen Erinnerungen hoch an die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, die vor fünf Jahren zum Auslöser des „Arabischen Frühlings“ wurden. Auch dieses Jahr kam es von Sidi Bouzid ausgehend zu Demonstrationen im ganzen Land, an dem sich Tausende Menschen (zumeist Jugendliche) beteiligten. In den Städten Tunis, Sidi Bouzid, Kasserine gab es die heftigsten Zusammenstöße – in der Stadt Ferina kam ein Polizist ums Leben.
Nur ein Frage der Zeit …
Der Arabische Frühling ist in eine Phase der mörderischen Konterrevolution übergegangen. Die Speerspitze dessen ist das ägyptische Regime: Der Jahrestag der Ägyptischen Revolution in Kairo war sehr frostig. Der Tahrir-Platz wurde mit Panzern abgeriegelt und jegliche Demonstrationen verboten. Unter dem Bonaparte Ab eal-Fattah as-Sisi erlebt Ägypten die Tage der blutigen Konterrevolution.
Doch Tunesien stellt für die bürgerlichen Medien das Land dar, wo scheinbar die demokratischen Ziele erreicht wurde – ein bürgerliches Märchen. Denn das “Quartett des nationalen Dialogs” paktierte mit den Kräften des korrupten Ben Ali-Regimes und verriet die Tunesische Revolution. Dafür bekamen sie sogar den Friedensnobelpreis. Die sozialen Probleme von Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Korruption und Repression jedoch blieben – der Nährboden für die aktuellen Proteste.
Tunesien befindet sich heute weit entfernt von einer „pluralistischen Demokratie“ – die Revolution wurde beschlagnahmt. Das zeigt sich darin, dass der heutige Präsident Beji Caid Essebsi ein ehemaliger Minister des alten, korrupten wie verhassten Regimes war. Auch die soziale Situation der arbeitenden Bevölkerung veränderte sich in den vergangen Jahren nicht. Gegenwärtig liegt die offizielle Arbeitslosigkeit bei über 15 Prozent – rund 1,5 bis 2 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Unter Akademiker*innen liegt sie um ein vielfaches höher – bei etwa 33 Prozent. Ein Grund für mangelnde Arbeit im Land sind auch die vermehrten Terroranschläge des sich ausbreitenden radikalen Islamismus.
Alles in allem eine andauernde Krise eines Regimes, welches nur in einer Kategorie hervorragend ist: als Stiefelputzer des französischen Imperialismus. Ein Ausdruck der tragischen Symbolik, dass der Präsident Essebsi wegen der Proteste just seine Reise nach Frankreich zu Präsident Francois Hollande abbrechen musste.
Erinnerung, sprich!
Viele Tunesier*innen teilen die Probleme von Yahyaoui: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Elend, Vetternwirtschaft. Deshalb weitete sich der Widerstand gegen die mangelhafte Regierung schnell auf andere Städte aus, auch in der Hauptstadt Tunis wurde demonstriert. Die Antwort der Polizei waren Repression und Tränengas.
Das Regime selbst reagierte nervös und kündigte für die arme Region Kasserine 5.000 neue Stellen an und versuchte mit der Erklärung zu besänftigen, dass es “eben Zeit brauche” bis neue Arbeitsplätze entstünden. Eine nur allzu plumpe Ausrede für mehrere Jahre Untätigkeit.
Des weiteren verhängte die Regierung eine landesweite Ausgangssperre, was die unzufriedenen Massen jedoch nicht davon abhielt, wieder zu Tausenden auf die Straße zu gehen. Wiederum eher Kosmetik, dass die Ausgangssperre verkürzt wurde (nun ab 22 statt von 20 bis 5 Uhr).
Aus der Vergangenheit lernen
Während also in Kairo der Jahrestag der Revolution erstickend ruhig ablief, schlagen die unzufriedenen Massen in Tunesien ein neues Kapitel des Kampfes auf.
Denn die Forderungen nach Arbeit und besseren Löhnen, die schon 2011 Motor der Massenmobilisierungen waren, sorgen erneut für Aufruhr. Auch die demokratischen Forderungen gegen Korruption und mehr demokratische Freiheiten wurden nicht erfüllt.
Der revolutionäre Prozess, der zum Sturz von Diktator Ben Ali führte, konnte durch einige kosmetische Veränderungen im politischen Regime erstickt werden. Besonders die Gewerkschaftsbürokratie der UGTT vertrat innerhalb der Massenbewegung die Position der „nationalen Versöhnung“.
Die UGTT-Bürokratie spielte auch bei den jetzigen Massenprotesten eine unrühmliche Rolle, indem sie zur „Ruhe“ und „Befriedung“ aufrief. Das ging sogar soweit, dass die öffentliche Gebäude schützte. Damit vetrat sie einen heuchlerischen Doppeldiskurs: Einerseits zeigte sie „Verständnis“ für die Proteste, andererseits wollten sie sie „befrieden“, also ersticken.
Diese „demokratische Konterrevolution“ schwächte die Proteste zeitweise, doch erneuert ständig die strukturellen Ursachen. Die neuen Massenproteste sind ein aufmunterndes Zeichen und sind gleichzeitig die Vorboten neuer größerer Proteste, die die konterrevolutionäre Situation in der Region umdrehen können.