Ein Jahr Krieg: Einschätzungen und Debatten zum Krieg in der Ukraine

28.02.2023, Lesezeit 15 Min.
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Illustration: @RomPTS

Ein Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine ist es notwendig, Definitionen neu zu bewerten und Analysen zu aktualisieren. Der Konflikt von strategischer Bedeutung hat die Konfrontation der Großmächte im Herzen Europas wieder ins Blickfeld gerückt. Vor diesem Hintergrund widmet sich dieser Artikel den politischen Debatten, welche die internationale Linke spalten.

Ohne den Anspruch zu erheben, eine erschöpfende Analyse der Entwicklung des Konfliktes vorzunehmen, ist es sinnvoll, einige der Fragen aufzuzeigen, die den weiteren Verlauf des Krieges bestimmen könnten, der vor wenigen Tagen in sein zweites Jahr ging. Dabei werden wir uns hauptsächlich mit den Szenarien beschäftigen, die am wahrscheinlichsten eintreten werden.

Anmerkungen zum Stand der Dinge. Einschätzung und Perspektiven

Beginnen wir mit zwei allgemeinen Definitionen, von denen wir glauben, dass sie den Ausgangspunkt einer Lektüre der verschiedenen Momente des Krieges bilden sollten.

Die erste ist, dass der Krieg trotz der ihm zugrunde liegenden Dynamik der Eskalation immer noch auf ukrainisches Territorium beschränkt ist. Mit zunehmender Dauer des Krieges und der stärkeren Beteiligung der USA und der NATO-Mächte wächst jedoch das Risiko einer Eskalation oder sogar eines unbeabsichtigten Unfalls.

Einer schrittweisen Logik folgend erklärt sich die NATO immer wieder bereit, Selenskyj mehr und bessere Waffen zu liefern – Deutschland hat sich schließlich dafür entschieden, seine Leopard-Panzer in die Ukraine zu schicken, und Biden hat dasselbe mit Abrams-Panzern getan. Beide überschreiten jedoch nicht den schmalen Grat, der zu einem direkten militärischen Konflikt mit Russland führen könnte, insbesondere werden keine Waffen und Munition, die russisches Hoheitsgebiet erreichen können, angeboten. Biden hat es bisher abgelehnt, dem ukrainischen Militär F16-Kampfjets zur Verfügung zu stellen. Analyst:innen spekulieren jedoch, dass er, wenn er so weitermacht, früher oder später dazu bereit sein wird.

Kurz gesagt, der Krieg hat eine internationale Dimension und wird durch die von den westlichen Mächten gegen Russland verhängten Sanktionen als „Wirtschaftskrieg“ fortgesetzt, aber wir befinden uns nicht bereits im „Dritten Weltkrieg“. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Krieg in der Ukraine über die asymmetrischen Kriege hinausgeht, die von den USA (und einigen ihrer Verbündeten) geführt wurden, wie etwa die Kriege im Irak und in Afghanistan. Die Beteiligung der traditionellen imperialistischen Großmächte und aufstrebenden Mächte – auf der einen Seite die USA/NATO und auf der anderen Seite ein Bündnis aus China und Russland mit wechselnden Verbündeten – verleiht ihm in gewisser Weise einen beispielhaften Charakter für künftige Auseinandersetzungen im Kampf um die Hegemonie.

Zweitens ist der Ukraine-Krieg trotz der Beteiligung der beiden großen Atommächte – USA und Russland – und der drohenden Rhetorik bislang ein „konventioneller Krieg“ geblieben. Putin machte immer wieder indirekte Andeutungen über den Einsatz nicht-konventioneller Waffen und setzte die Teilnahme Russlands am Start-III-Vertrag aus, obwohl er sich nicht aus dem einzigen bestehenden Vertrag zwischen den USA und Russland zur Reduzierung der Atomwaffen zurückzog. Das nukleare Risiko ist nicht auszuschließen; selbst einige „realistische“ Theoretiker wie John Mearsheimer spekulieren, dass Putin taktische Atomwaffen gegen ukrainische Truppen einsetzen könnte, wenn er beispielsweise auf der Krim in die Enge getrieben würde. Heute jedoch scheint es im politischen Interesse aller Beteiligten zu liegen, ein “nukleares Armageddon” zu verhindern.

Aus strategisch-militärischer Sicht könnte der Krieg in zwei Phasen unterteilt werden, die die Neuformulierung der Ziele des Kremls zum Ausdruck bringen. In einer ersten Phase versuchte Russland, mit einer Blitzkriegtaktik den Sturz der prowestlichen Regierung von Wolodymyr Selenskyj zu erzwingen und sie durch eine russlandtreue Regierung zu ersetzen. Da dieses Ziel nicht erreicht wurde, leitete Putin die zweite Phase eines brutalen „Stellungskrieges“ ein, der sich auf die Region Donbass östlich des Dnjepr konzentrierte und bis heute mit unterschiedlichem Erfolg andauert.

Das erste Kriegsjahr hat gezeigt, dass territoriale Gewinne für die russische Armee instabil und schwer zu halten sind und dass sie erhebliche Schwachstellen und logistische Probleme aufweist. Seit der letzten ukrainischen Gegenoffensive und dem Rückzug der russischen Truppen aus der Stadt Cherson im November 2022 scheint sich Russland bei der Verteidigung der besetzten 18-20 % des ukrainischen Territoriums stabilisiert zu haben. Dazu gehören die 2014 annektierte Krim, die russischsprachigen Regionen des Donbass und die Stadt Mariupol, die in Trümmern liegt, obwohl sie als Brücke zwischen den von Russland kontrollierten Gebieten und als Zugang zum Asowschen Meer weiterhin von strategischem Wert ist.

Gegenwärtig befindet sich die russische Armee in der Offensive und kämpft eine blutige Schlacht um die Kontrolle der Stadt Bachmut. Mehrere Militäranalysten sprechen von einer „Frühjahrsoffensive“, die im Falle Russlands bereits begonnen habe, während sie auf ukrainischer Seite mit dem Eintreffen von Panzern und Munition der westlichen Mächte beginnen wird. Die meisten sind sich jedoch darin einig, dass sich die Lage im Krieg dadurch nicht ändern wird, weder durch einen Sieg einer der beiden Seiten noch durch das Auslösen von Verhandlungen. Obwohl alle Hypothesen nur vorläufig sind, scheint das wahrscheinlichste Szenario daher ein langwieriger Zermürbungskrieg zu sein, von dem im Moment alle profitieren.

Weder die russische noch die ukrainische/NATO-Seite scheint sich in einer Lage zu befinden, in der die Verluste, die sie bei einem Friedensabkommen zu erwarten haben, geringer sind als die Verluste, die sie bei fortgesetzten Kämpfen erleiden würden. Die Ukraine trägt jedoch eindeutig die Hauptlast, da der Krieg auf ihrem Territorium geführt wird, was eine weitgehende Zerstörung der zivilen Infrastruktur und einen Zusammenbruch ihrer Wirtschaft bedeutet.

Putin stellt den Krieg als ebenso existenziell für Russland dar wie diejenigen gegen Napoleon und Nazideutschland gewesen seien. Für Selenskyj wäre nur eine Rückkehr zu den Grenzen der Ukraine von 1991 akzeptabel. Dies impliziert die Rückgewinnung des Donbass und der Krim.

In der Öffentlichkeit argumentieren Biden und die führenden Vertreter der westlichen Mächte, dass die Ukraine “gewinnen kann“, aber insgeheim erkennen viele von ihnen an, dass dies ein unrealistisches Ziel ist und dass die Zeit für Selenskyj näher rückt, angepasste Kriegsziele zu akzeptieren. Diese Diskussionen über die tatsächliche Lage vor Ort, jenseits der triumphalen Reden, standen im Mittelpunkt der Münchner Sicherheitskonferenz. Dort herrschte ein Konsens unter den wichtigsten imperialistischen Mächten und Waffenlieferanten für die Ukraine darüber, dass die Waffen nicht zur Rückeroberung der von Russland gehaltenen Gebiete eingesetzt werden sollten, sondern zur Unterstützung einer Offensive zur Verbesserung der ukrainischen Position. Es ist aktuell fast sicher, dass die Zeit gegen Selenskyj spielt.

Es sind eindeutig die Vereinigten Staaten, die das westliche „Anti-Russland“-Bündnis anführen. Und für Biden ist die Verlängerung des Krieges im Moment ein gutes Geschäft. Nach außen hin ist sie funktional für die Wiederherstellung der Hegemonie der USA über ihre traditionellen Verbündeten, obwohl sie auch gezeigt hat, wie sehr sie ihre Führungsrolle außerhalb des „Westens“ verloren haben.

Innenpolitisch genießt die Hilfe für die Ukraine (die sich auf materielle Unterstützung beschränkt, ohne dass Truppen entsandt werden) weiterhin einen überwiegenden Zuspruch in der öffentlichen Meinung und der militärisch-industrielle Komplex applaudiert den Waffen- und Munitionsverkäufen. Auch die republikanische Partei unterstützt diese derzeit, obwohl eine lautstarke Minderheit auf der äußersten Rechten dagegen ist. In absoluten Zahlen mag diese Summe zwar hoch erscheinen, doch relativ gesehen ist sie ein Klacks im Vergleich zu den Kosten, die ein direktes militärisches Vorgehen gegen Russland verursachen würde.

Nach dem isolationistischen Kurs des Ex-US-Präsidenten Donald Trump hatte der französische Präsident Emmanuel Macron die NATO bereits als “hirntot” erklärt. Aktuell scheint sie ihren inneren Zusammenhalt wiedererlangt zu haben, auch wenn Risse und Spaltungen zwischen den Staaten fortbestehen, wobei Osteuropa immer mehr an Gewicht gewinnt. Der unerwartet milde Winter hat dazu beigetragen, die Energiekrise zu überdecken und die Inflation in Schach zu halten.

Die Vereinigten Staaten haben ihre Hegemonie über Europa wiedererlangt, insbesondere über Deutschland, das sich den Zielen Washingtons angeschlossen hat, auch wenn es dabei nationale Interessen gefährdet. Es ist kein Geheimnis, dass Deutschland unter Merkels Regierungen eine Art faustischen Pakt mit Putin geschlossen hatte, der es mit billigem Gas und Energie versorgte, um die Maschinerie der europäischen Wirtschaftsmacht anzukurbeln. Durch den Krieg in der Ukraine und den Druck der USA war Deutschland gezwungen, die Pipelines Nord Stream I und II nicht mehr zu verwenden (laut dem Journalisten Seymour Hersh steckten die USA sogar hinter der Sabotage der Pipeline). Der US-Präsident wird weitgehend als Architekt der deutschen Zeitenwende gesehen, ein starkes Wort für die Remilitarisierung des deutschen Imperialismus. Es ist jedoch klar, dass diese deutsche Hinwendung zum Militarismus mittelfristig (vielleicht sogar schon kurzfristig) Widersprüche mit den USA mit sich bringt.

Diese Neuzusammensetzung der Führung reicht jedoch nicht aus, um den Trend zum hegemonialen Niedergang des US-Imperialismus umzukehren, der in den durch den Krieg aufgezeigten Grenzen zum Ausdruck kommt. In gewissem Sinne ist der „Westen“ heute eine geopolitische und militärische Einheit, die die Vereinigten Staaten, Europa, Japan, Australien und Südkorea umfasst. Dabei unterscheidet sich die Welt stark von jener der unmittelbaren Zeit nach dem Kalten Krieg, da nicht nur China als Hauptkonkurrent auftritt und Russland die „liberale Ordnung“ in Frage stellt, sondern auch eine Reihe regionaler Mächte mit einer gewissen Handlungsfähigkeit entsprechend ihrer Interessen dasselbe tut.

Dies hat einige Analyst:innen dazu veranlasst, von der Entstehung einer neuen „Bewegung der Blockfreien“ zu sprechen. Diese Analogie ist nicht ganz zutreffend, wenn man bedenkt, dass die meisten Länder – anders als während des Kalten Krieges – eine „gegenseitige Abhängigkeit“ von den Vereinigten Staaten, China und Russland entwickelt haben und daher ihre Positionen nach wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen oder sogar politischen Interessen ändern. Dies macht es schwierig, einen mehr oder weniger dauerhaften Block mit einer anerkannten Führung zu bilden.

Auf der anderen Seite gibt es einen weniger konsolidierten und fließenden „Block im Aufbau“ mit einem russisch-chinesischen Bündnis in seinem Zentrum, das allmählich mehr Gestalt annimmt und als Anziehungspunkt für mehrere „aufstrebende“ Länder im so genannten „globalen Süden“ fungiert. Dazu gehören regionale Mächte wie Indien, ein großer Teil Afrikas, Asiens und Lateinamerikas (nicht zuletzt Brasilien und Mexiko) und sogar historische Verbündete wie Saudi-Arabien (und sogar Israel), das aus verschiedenen, nicht immer übereinstimmenden nationalen Interessen bei UN-Abstimmungen nicht mit den Vereinigten Staaten stimmte.

China unterstützt Russland, nimmt aber öffentlich eine angeblich neutrale Position ein. Bislang hat es sich nicht so für Putin eingesetzt, wie es der NATO-Block im Falle der Ukraine tut. Der Besuch von Wang Yi in Moskau, dem Spitzendiplomaten der chinesischen Regierung – der mit Bidens Reise nach Kiew und Warschau zusammenfiel – könnte jedoch ein Zeichen für eine engere Zusammenarbeit sein.

Auch wenn der Vergleich zwischen dem oben genannten Länderblock und der Bewegung der blockfreien Staaten nicht ganz zutreffend ist, so hat deren Existenz doch die Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegen Russland abgeschwächt und die Folgen der von den Vereinigten Staaten angestrebten internationalen Isolierung begrenzt. China und Indien haben die europäischen Märkte weitgehend ersetzt, indem sie einen Großteil der russischen Öl- und Gasexporte abnahmen. Südafrika veranstaltete gemeinsame Marineübungen mit Russland und China;ausgerechnet am Jahrestag des Beginns des Ukraine-Krieges. In den ersten anderthalb Monaten des Jahres 2023 wurde Russland von neun Ländern aus Afrika und dem Nahen Osten offiziell besucht.

Vor diesem Hintergrund findet die Debatte in der Linken statt.

Wenn der Krieg, um Clausewitz zu paraphrasieren, die Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln ist, ist der Krieg in der Ukraine ein reaktionärer Krieg.

Putins Politik, in die Ukraine einzumarschieren und ihr sogar das Existenzrecht abzusprechen (Putin behauptete, die Ukraine sei eine „Erfindung von Lenin und den Bolschewiken“), ist absolut reaktionär. Putin steht an der Spitze eines autoritären und despotischen Regimes im Dienste der Oligarch:innen seines inneren Kreises, das eine unabhängige und demokratische Organisation der Arbeiter:innen verhindert und diejenigen, die sich gegen den Krieg in der Ukraine stellen, mit Gefängnisstrafen verfolgt. Mit dem Krieg will er zumindest den geopolitischen Status einer „Großmacht“ zum Nutzen des russischen Kapitalismus wiederherstellen. Ausgehend von der Einkreisung Russlands durch die Westmächte und dem Vormarsch der NATO vertritt ein Teil der Linken die Auffassung, dass China und Russland antiimperialistisch seien, weil sie sich der US-Hegemonie widersetzen und für eine „multipolare Ordnung“ einträten. Diese linke Verteidigung der „Multipolarität“ ist die Grundlage für eine Ausrichtung, die sich in der Unterstützung Russlands in seinem reaktionären Krieg und darüber hinaus für einen kapitalistischen Block unter der Führung Chinas äußert, der durch die Vertiefung seiner imperialistischen Merkmale zu einer Hegemonialmacht aufsteigen will.

Die ukrainische Regierung ist vollständig mit den USA, der EU und der NATO verbündet. Ihre Politik zielt darauf ab, die Ukraine in einen Vasallen der USA und der EU statt in einen Vasallen Russlands zu verwandeln. Die Politik, von der sich dieser Block leiten lässt, ist nicht die „nationale Selbstbestimmung der Ukraine“, wie ein anderer Teil der Linken behauptet, der sich mit diesem von imperialistischen Mächten geführten Block verbündet hat und mehr Waffen für die Ukraine fordert. Die USA manipulieren die ukrainische nationale Frage zu ihrem Vorteil, rüsten die Ukraine auf, weil sie damit ihre Hegemonie festigen, ihre Konkurrenten schwächen und einen Block für ihren Streit mit China gewinnen wollen. Der Sieg dieses Blocks würde daher die USA und das westliche Bündnis stärken.

Die Alternative zu Positionen wie denen der „NATO-Linken“ oder der „Linken der kapitalistischen Multipolarität“ besteht darin, dem Krieg und Militarismus der imperialistischen Mächte, der zukünftige Kriege und Konfrontationen ankündigt, aus einer internationalistischen und sozialistischen Perspektive entgegenzutreten. Gegen die russische Invasion und die NATO erheben wir die Perspektive einer unabhängigen und sozialistischen Ukraine und der internationalen Einheit der Arbeiter:innenklasse. Diese Perspektive wird zu einer Zeit wiederbelebt, in der wichtige Teile der Arbeiter:innen in Bewegung treten, vor allem in den zentralen Ländern wie Großbritannien und Frankreich, um sich den Folgen des Krieges auf der Straße entgegenstellen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 26. Februar 2023 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

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