Brief von Rudolf Segall an unbekannte Empfänger (21.12.1989)

21.12.89

Liebe Freunde,

nach unserem Telefongespräch nach Eurer Rückkehr von den USA meinte ich, daß Du gesagt hattest, Du würdest mir in Kürze schreiben. Entweder habe ich mich geirrt, oder Dein Brief ist nicht angekommen.

Das macht natürlich nichts – ich hoffe nur, daß es Euch gut geht, und daß Ihr alle Strapazen gut überwunden habt.

Gestern nun kamen zwei Bücher von Paris: der Gorbatchev von Ernest und das Buch von Catherine Samary über l’expérience Yougoslave. Herzlichen Dank für beide, denn ich nehme an, daß Du die Sendung veranlaßt hast.

Ich schicke Dir kopie über die Harvard-Rechnung – die Dokumente sind noch nicht eingetroffen – und vielleicht verrechnen wir Bücher und Dokumente irgendwie?

Mit dem Gorbatchev ist das übrigens eine „Geschichte“: ich hatte ihn schon lange in der deutschen Ausgabe (Athenäum) bestellt – durch ein Mißverständnis hat sich das hinausgezögert, und inzwischen ist Athenäum Pleite gegangen… Und der Nachfolger, der angeblich alles übernommen hat, hat sich auch noch nicht gemeldet…

Ich schicke Dir Abdruck meiner (gekürzten) Rede ein, die ich in Zürich über Viktor/Widelin gehalten habe: Du siehst, ich habe Deinen Band 2 eifrig benutzt. Ich habe einiges aus dem Thalmann so zitiert, wie er es geschrieben  hat – auch wenn wir es inzwischen etwas besser wissen. Dafür habe ich durch eine eine durchaus erlaubte und stich- und hiebfeste Kombination der Quellen festlegen können, wie sich zeitlich die letzten Wochen in Viktors Leben abgespielt haben. Die Daten sind also: Verhaftung 13. Juli 1944, 22. Juli „Erschießung“ im Wald von Vincennes (20. Juli Attentat auf Hitler), 29. Juli: 1. Besuch von Paul Thalmann, 1. August: Besuch von Craipeau, danach Paul Th., 2. Aug. neuer Besuch – Viktor bereits verschleppt, ca. 5.-8. August Versuch der Überwachung des deutschen Militärhospitals, 26. August: die Deutschen verlassen Paris.

Ich hatte hier einen Anruf eines Freundes: Kasimir Badowski, Krakau, ein langjähriger Genosse, sei totkrank und würde noch gerne aus seinem Leben und dem Leben der Organisation etwas an jemanden übermitteln, der ihn besuchen würde. Ich habe sofort auf Paris hingewiesen, aber offensichtlich gebe es von dort aus keine Möglichkeit.

Ich brauche Dir vermutlich nicht zu schildern, wie sich der Zusammenbruch des Stalinismus hier bei uns auswirkt. Vielleicht war unsere Phantasie zu schwach entwickelt, und gewiß ließ sich nicht „vorausberechnen“, mit welcher Geschwindigkeit sich die Dinge entwickeln würden: nach Polen, UdSSR und Ungarn, jetzt im kürzesten Abstand DDR, CSSR, Bulgarien – und jetzt der Bürgerkrieg in Rumänien, der letzten Bastion. Das Erschreckende für die DDR, und in erheblichem Umfang für die anderen Länder: mit dem Stalinismus stirbt überall auch der Sozialismus, wahrscheinlich ist die DDR ein Sonderfall, denn es gibt keinen kapitalistischen polnischen, ungarischen, tschechischen Landesteil. Aber der Druck der Bundesrepublik mitsamt dem abgrundtiefen Haß in der DDR gegen alles, was sich Sozialismus nennt, das Greifen nach der Marktwirtschaft, der Ruf nach Wiedervereinigung, das vollkommene Unvorbereitetsein der großen Volksbewegungen – alles das sind schlimmste Vorzeichen. Wir tun, was wir können – aber das ist erschreckend wenig angesichts der Lage: entweder völlige Ratlosigkeit – oder Übergang zum „Wohlstand“ und zur glitzernden Fassade der „Besten aller Welten“.

Laßt etwas von Euch hören – mit den besten Grüßen von Inge für Euch beide

Rudolf

Quelle: Archiv von Rodolphe Prager, Ordner 301, im IISG in Amsterdam.