Brief von Christine Heymann an einen unbekannten Empfänger (25.7.1977)

(Übersetzung aus dem Französischen.)

19 Church Lane
Middleton, St. George
Darlington
DL2 IDF Co. Durham
ENGLAND

25. Juli 1977.

Lieber Genosse,

danke für deinen Brief vom 21. Juni.

Ich möchte zunächst einen Fehler aus meinem letzten Brief korrigieren, an der Stelle, an der ich die Streichung gemacht habe: In der Rue Monceau sind wir, Widelin, Janine und ich eines morgens früh, gegen 8 Uhr scheint mir, von der deutschen Gestapo abgeholt und sofort in die Rue des Saussaies gebracht worden, wo wir verhört wurden. Am Abend befand ich mich in einem Gefangenenwagen, dann in Fresnes.

Ich muss heftig nachdenken, um bestimmte Dinge einzuordnen.

Der Artikel in La Verité, von dem du sprichst, habe ich nicht persönlich geschrieben und ich erinnere mich auch kaum daran.

In deinem Brief gibt es dennoch ein Detail, das mich sehr irritiert, die Flucht von Marcoux aus der Rue des Saussaies. Dein Brief hat mich daran erinnert, dass ich damals tatsächlich davon gehört hatte und sehr überrascht war. Bei meiner Rückkehr nach Frankreich war ich sehr unglücklich und dieses Detail hat mich nicht sehr interessiert und schien mir nicht so wichtig. Noch heute erscheint es mir als Fakt selbst nicht so wichtig, aber macht mich sehr neugierig.

Wie ich die schon in meinem letzten Brief geschrieben habe, habe ich Marcoux in der Rue Monceau gesehen. Wir wussten, dass er in einer bestimmten Nacht versuchen würde zu fliehen. Wir glaubten, dass es ihm in der besagten Nacht gelungen sei, weil wir in der Nacht nichts gehört hatten und am nächsten Morgen, als die deutsche Gestapo uns abgeholt hat, waren es nur Widelin, Janine und ich in dem großen deutschen Wagen. Widelin saß vorne, Janine und ich hinten, alle gut bewacht. Wir haben in der Rue des Saussaies Marcoux nicht gesehen. Ich kann dir versichern, dass Janine und ich daraus geschlossen haben, dass er geflüchtet sei und von diesem Augenblick an habe ich aufgehört, mir seinetwegen Sorgen zu machen. Ich bin gespannt zu erfahren, wann Marcoux in die Rue des Saussaies gebracht wurde und warum nicht mit uns. Wenn er vor uns dorthin gebracht wurde, frage ich mich, warum man nicht wenigstens Widelin zur gleichen Zeit dorthin gebracht hat. Ich hoffe, dass du dieses Rätsel für mich lösen kannst und danke dir im voraus.

Du fragst, was ich von Janine weiss. Nicht allzu viel. Soviel ich weiss, war sie nicht in der Organisation aktiv. Sie hatte Russischkurse an der Sorbonne belegt. Bevor ich wusste, wer sie war, hatte ich sie in Vorlesungen über russische Literatur gesehen, die ich ebenfalls besuchte. Sie redete wenig, selbst im Lager. In Fresnes waren wir in unterschiedlichen Zellen untergebracht, aber wir haben uns in Romainville [Konzentrationslager] wiedergefunden. Dort haben wir festgestellt, dass sie sehr gut tanzte, russische Tänze, die sie uns vorgeführt hat. Wir sind gemeinsam in Ravensbrück angekommen, aber dort sind wir getrennt worden, in verschiedene Arbeitskommandos abgestellt worden. Ich hatte das Glück von Marguerite nicht getrennt zu werden.

Bei der Rückkehr hat man mir gesagt, aber wer, weiss ich nicht mehr, die Information soll von jemandem gekommen sein, der im selben Kommando wie Janine war, dass sie vergeblich versucht habe zu fliehen. Nach meinem Eindruck von ihr, glaube ich, dass sie sich in einem Lager ganz besonders unglücklich fühlte, weil sie nach meiner Einschätzung eine Person war, die sehr unabhängig war und schwer zu durchschauen war. Aber das ist nur ein persönlicher Eindruck, ich kannte sie kaum.

Mit brüderlichen Grüßen,
Christine

Quelle: Archiv von Rodolphe Prager, Ordner 301, im IISG in Amsterdam.