Weinen um die Toten an der Mauer und Feiern der Toten im Mittelmeer: Rechtsextreme am 9. November
Rechtsextreme wollen den Mauerfall instrumentalisieren, um rechte Hetze gegen Migrant*innen zu betreiben. Warum stellen sich gerade die Rechten in die Tradition der 89er Bewegung?
Am heutigen 9.November wollen sich tausende Menschen gegen den NPD-nahen Verein „Wir für Deutschland“ stellen, der mit Kerzen statt Fackeln in einem „Trauermarsch für die Opfer von Politik“ durch Berlin ziehen möchte. Mit dieser momentan beliebten Aktionsform der extremen Rechten wollen sie das Gedenken an die Mauertoten mit den angeblichen deutschen Opfern von Merkels Migrationspolitik verknüpfen. Wie widerwärtig diese Politik ist, ist offensichtlich: Sie instrumentalisieren die Opfer des Grenzregimes der DDR, um aus einer konstruierten „Opferposition der Deutschen“ ein härteres Grenzregime der EU mit noch mehr Toten zu fordern. Die rechte Verschwörungstheorie, dass die Bundesregierung mit dem Asylrecht die Zerstörung eines „deutschen Volkskörpers“ beabsichtige, ist alter Wein in neuen Schläuchen. Aber woher kommt diese immer stärkere Bezugnahme der extremen Rechten auf die 89er-Revolution?
Rechtsradikale Kräfte haben durchaus einen wichtigen Einfluss auf den Verlauf der sogenannten „Wende“ genommen. Sie spielten eine wichtige Rolle dafür, dass die Massenbewegung, die den Sturz der SED-Bürokratie und einen demokratischen Sozialismus forderte, umgelenkt werden konnte in die Restauration des Kapitalismus in der DDR. Die ersten Interventionen der extremen Rechten begannen bereits Anfang Oktober 1989 in Dresden. DDR-Bürger*innen, die die BRD-Botschaft in Prag mit der Forderung besetzten, nach Westdeutschland ausreisen zu dürfen, wurden per Zug über Dresden in die BRD ausgewiesen. Vom 7. bis 9. Oktober kam es rund um den Dresdner Hauptbahnhof zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Hunderte Menschen, die teilweise aus der gesamten DDR anreisten, wollten den Hauptbahnhof stürmen und auf den Zug Richtung BRD gelangen. An diesen seit Langem in der DDR nicht mehr gekannten massiven Auseinandersetzungen mit der Volkspolizei beteiligten sich unter anderen rechtsradikale Hooligan-Gruppen aus Dresden. Hier war auch zu beobachten, dass sich die Parole „Wir sind das Volk“ in „Wir sind EIN Volk“ änderte.
Eine Parole, die anschließend bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig groß wurde und den Massenprozess nachhaltig veränderte. Statt eines demokratischen Sozialismus in der DDR rückte nun eine schnelle Wiedervereinigung mit der BRD in den Fokus der Massenbewegung. Auch in Leipzig mischten Neonazigruppen mit. Zeitzeugenberichte zufolge beteiligten sich manche Leute nicht am Protest, da die Montagsdemos als „Nazi-Demos“ verschrien waren. Der mögliche Einfluss dieses Bildes durch die Propaganda der SED-Hardliner, welche den BRD-Kapitalismus ja stets als Keimzelle des Faschismus bezeichneten, um die Neonazi-Bewegung in der DDR totzuschweigen, ist nicht klar einzuschätzen. Doch dass es auch in Leipzig eine aktive Neonazi-Szene gab, die Einfluss auf die Bewegung nahm, beweist indirekt auch ein anderer Fakt: In Leipzig war es, wo die erste rechtsextreme Partei der BRD kurz nach dem Mauerfall eine Ortsgruppe eröffnete: die Republikaner.
Die West-Neonazis sahen in der Wende eine „Nationale Revolution“ und sahen gute Möglichkeiten, sich im Osten aufzubauen. Alle relevanten Neonazi-Gruppen der BRD schickten massiv Kader in den Osten. Eine wichtige Rolle in der Vernetzung der schlecht organisierten und wenig ideologisch gefestigten Neonazi-Gruppen der DDR mit Westgruppen übernahmen dabei Neonazis, die in den 80ern von der BRD aus DDR-Gefängnissen frei gekauft worden waren und eine Kariere in Westgruppen machten. Nachdem bekannt wurde, wie der Verfassungsschutz den NSU über Jahre unterstützt hat, können wir vermuten, dass er wohl auch den Aufbau von Neonazigruppen im Osten unterstützt hat. Unumstritten hingegen ist, wie Polizei und Politik Nazis den Rücken frei hielten, damit Pogrome wie in Rostock-Lichtenhagen passieren konnten.
Anfang der 90er Jahre flankierte die Neonazi-Bewegung im Osten die kapitalistische Restauration. Mit dem Ausverkauf der DDR begann ein historischer Angriff auf die Arbeiter*innenklasse. In nur fünf Jahren verloren durch die Privatisierungen 80 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung der DDR ihre Arbeit. Ein ganzes Land wurde de-industrialisiert. Dagegen regte sich auch Widerstand. Seit der Machtübernahme der Nazis gab es in Deutschland nicht mehr so viele Streiks wie in den ersten Jahren nach dem Anschluss der DDR an die BRD.
Diese Massenstreiks und Demonstrationen gegen die Treuhand, die ausnahmslos in Niederlagen endeten, sind längst vergessen. Was in Erinnerung geblieben ist, sind die politischen Siege der Neonazis Anfang der 90er Jahre. In Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bewirkten sie mit ihren Pogromen, dass die schwächsten Glieder der ostdeutschen Arbeiter*innenklasse aus den Städten verdrängt wurden: die Vertragsarbeiter*innen und Asylbewerber*innen. Gleichzeitig konnten sie mit ihren Protesten durchsetzen, dass die Kohl-Regierung 1993 den ersten Frontalangriff auf das Asylrecht verabschiedete und dieses de facto abschaffte. Die siegreiche Nazi-Bewegung trug so zu der historischen Niederlage der Arbeiter*innenbewegung bei. Eine historische Niederlage, die nicht nur durch Arbeitslosigkeit, Korruption und massenhaft gebrochene Lebensläufe zu einem tiefen Ungerechtigkeitsgefühl der „Ossis“ geführt hat. Bis heute ist sind die neuen Bundesländer immer noch das Billiglohnland der BRD. Gewerkschaften verhandeln zwei Tariflöhne für Ost und West, die Rentenniveaus sind immer noch nicht gleich und die kaum existente ostdeutsche Bourgeoisie hat auch kaum eine Repräsentation in den politischen Eliten der bürgerlichen Demokratie.
Mit diesem berechtigten Ungerechtigkeitsgefühl spielen im Gebiet der ehemaligen DDR sowohl Neonazi-Gruppen als auch rechtsextreme Bürgerbewegungen oder die AfD. Doch sie richten ihre Wut nicht gegen den Verursacher – den Kapitalismus –, sondern projizieren diese Wut auf Migrant*innen. Statt nach oben zu spucken, treten sie nach unten. Mit dem 9. November bieten sie den diskriminierten Ostdeutschen eine geschichtliche Bezugnahme auf einen Moment der Stärke und benutzen den erfolgreichen Kampf gegen die angeblich kommunistische SED als Vorbild für ihren Kampf gegen Linke und Migrant*innen heute. Absurd und scheinheilig, wenn man ihre eigene Rolle in der Niederlage der Arbeiter*innen 1989 bedenkt. Doch in diesem Ungerechtigkeitsgefühl gedeiht sie, die erfolgreiche Rechte.
Dagegen braucht es einen Widerstand, der über die – zweifellos wichtigen! – Blockaden von Nazidemos hinausgeht. Der Verrat der reformistischen Linken, welche mit aller Brutalität den Arbeiter*innen ihr neoliberales Programm aufzwang (Agenda 2010, Privatisierungen), hat zu einem politischen Vakuum geführt, welches sich in der anhaltenden kapitalistischen Krise vergrößert und in einer Ablehnung der herrschenden Parteien ausdrückt. Die AfD ist derzeit die einzige politische Kraft, die es schafft, dieses Vakuum zu besetzen (während die SPD anhaltende Rekordverluste hinnehmen muss und die Linkspartei trotz einer wachsenden linken Bewegung auf der Straße nicht von der Krise der SPD profitieren kann). Erst wenn wir es schaffen, die materielle Basis, auf der die Diskriminierung beruht, anzugreifen, werden Linke das politische Vakuum, welches mit der Wende entstanden ist, den Rechten entreißen und wieder selbst füllen können.
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ ist ein alter Grundsatz der Arbeiter*innenbewegung, für den wir wieder kämpfen müssen. Dann werden ostdeutsche Arbeiter*innen erkennen können, dass sie mehr mit ihren viel härter diskriminierten und ausgebeuteten migrantischen Klassengeschwistern gemein haben, als mit der neoliberalen AfD. Ein gemeinsamer Kampf für soziale Rechte der Arbeiter*innen kann zeigen, dass der Rassismus, Sexismus und die Homofeindlichkeit der AfD dazu dienen, die Arbeiter*innenklasse gegeneinander auszuspielen und zu spalten, um deren Kampf zu verunmöglichen. Die AfD verschärft mit ihrer Politik gegen Mindestlöhne und staatliche Renten- und Arbeitslosenversicherungen die Ausbeutung aller Arbeiter*innen, ob ost- oder westdeutsch, weiß oder nichtweiß, Frau oder Mann. Ihr Rassismus, ihr Sexismus, ihre Homofeindlichkeit stehen im Dienste der Profite.
Wie vor 29 oder vor 80 Jahren zeigt sich heute auch wieder: Rechte und faschistische Kräfte sind nur die „extremsten“ Schergen des Kapitalismus, dessen Politik darauf abzielt, den Widerstand der Arbeiter*innen zu brechen. Aber es gab vor 100 Jahren auch einen anderen 9.November: In der Novemberrevolution stürzte die Arbeiter*innenklasse die Monarchie und versuchte, die kapitalistische Ausbeutung, welche zu der Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte, radikal zu beenden – mit der Losung der sozialistischen Räterepublik.