Was ist Entrismus?

17.04.2013, Lesezeit 6 Min.
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Entrismus gilt in manchen Kreisen als ein Markenzeichen trotzkistischer Politik: Eine mehr oder weniger geheime Gruppe tritt in eine reformistische Partei ein, um dort Mitglieder zu werben. Die beiden größten Gruppen in der BRD, die sich auf Trotzki beziehen, nämlich die SAV und Marx21, führen genau diese Politik in Bezug auf die Linkspartei aus. Doch wie entwickelten Trotzki und seine AnhängerInnen ursprünglich die Taktik des Entrismus?

Nachdem Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt wurde, gab es einen starken Drang nach Einheit innerhalb der ArbeiterInnenklasse im Nachbarland Frankreich. Die stalinistierte Parti Communiste Français (PCF) hatte bis dahin die „Sozialfaschismusthese“ vertreten und die sozialdemokratische Partei Section Française de l‘Internationale Ouvrière (SFIO) zum „sozialfaschistischen“ Hauptfeind erklärt. Doch nach einer Demonstration der FaschistInnen in Paris im Februar 1934 musste sie wegen des Drucks nach gemeinsamer Aktion gegen die faschistische Gefahr diese These aufgeben. Die StalinistInnen zielten nun auf ein Regierungsbündnis mit den SozialdemokratInnen und auch mit der bürgerlichen Radikalen Partei, die sogenannte „Volksfront“.

In der zugespitzten Situation strömten Hunderttausende neu politisierte ArbeiterInnen in beide Parteien. Die trotzkistische Ligue Communiste, die ungefähr 100 Mitglieder hatte, hatte eine große Kampagne für eine antifaschistische Einheitsfront gemacht – nun fand sie keinen Zugang zur proletarischen Basis dieser Parteien, vor allem zum starken linkszentristischen Flügel der SFIO. Vor diesem Hintergrund schlug Trotzki die Taktik des „Entrismus“ („entrer“, eintreten) vor. Die TrotzkistInnen traten im September 1934 geschlossen in die SFIO ein und konstituierten sich dort als Groupe Bolchevik-Léniniste (GBL).

Die TrotzkistInnen konnten in den folgenden neun Monaten wichtige Erfolge erzielen: Sie gewannen Einfluss im linken Flügel der Partei und vor allem in der Jugend, während sie sich scharf von LinkszentristInnen wie Marceau Pivert abgrenzten. Die Zeitung der Pariser Föderation der Sozialistischen Jugend, „Révolution“, vertrat trotzkistische Positionen in einer Auflage von 80.000 Stück. Doch im Juni 1935 begann die sozialdemokratische Führung mit bürokratischen Angriffen gegen die trotzkistische Gruppe. Trotzki argumentierte für eine Gegenoffensive, doch manche Führungsmitglieder der GBL wollten sich dem linkszentristischen Flügel der SFIO anbiedern, um länger in der Partei bleiben zu können. Trotzki argumentierte:

„Der vorübergehende Eintritt in die SFIO oder selbst in die Kuomintang ist kein Verbrechen an sich. Doch muss man wissen, nicht nur wie man eintritt, sondern auch wie man austritt. Wenn man an einer Organisation weiter hängt, die proletarische Revolutionäre nicht länger bei sich dulden kann, wird man notwendigerweise ein jämmerliches Instrument des Reformismus, des Patriotismus und des Kapitalismus.“[1]

In einem Brief an die polnischen AnhängerInnen der Vierten Internationale zog Trotzki erste Schlüsse:

„1. Der Eintritt in eine reformistische, zentristische Partei, beinhaltet an sich keine lange Perspektive. […]

2. Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Einerseits schaffen sie die Bedingungen, unter denen der Eintritt in einer allgemeinen Form möglich wird. Andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat, nach vielen Schwankungen, die revolutionären Elemente auszuschließen […].

3. […] Notwendig ist aber, vor allem im Licht der französischen Erfahrung, uns von den Illusionen in die Zeit zu befreien; den entscheidenden Angriff gegen den linken Flügel rechtzeitig zu erkennen und uns dagegen zu wehren, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiele, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4. Was oben gesagt wurde, schließt nicht im geringsten die Aufgabe aus, sich den Arbeitern in reformistischen Parteien ‚anzupassen‘, ihnen neue Ideen beizubringen in einer Sprache, die sie verstehen. Im Gegenteil muss diese Kunst so schnell wie möglich gelernt werden. Doch darf man nicht, unter dem Vorwand, die Basis zu erreichen, prinzipielle Zugeständnisse an die führenden Zentristen und Linkszentristen machen […].

5. Die meiste Aufmerksamkeit der Jugend schenken.

6. Das entscheidende Kriterium für den Erfolg in diesem Kapitel ist noch fester ideologischer Zusammenhalt und Scharfsinnigkeit in Bezug auf unsere gesamte internationale Erfahrung.“[2]

Diese Taktik wurde von verschiedenen Sektionen der Vierten Internationale ausprobiert. Während in Frankreich andauernde Fraktionskämpfe und mehrere Spaltungen die erzielten Erfolge wieder zunichte machten, konnten zum Beispiel die amerikanischen TrotzkistInnen mit einer Entrismus-Taktik in der sozialdemokratischen Socialist Party fast die gesamte Jugendorganisation für die Vierte Internationale gewinnen. Entscheidend für die Erfolge war, dass die trotzkistischen Gruppen ihr eigenes Programm vertraten und keine programmatischen Zugeständnisse an den Zentrismus machten.

Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Führung der Vierten Internationale unter Michel Pablo, als Produkt ihrer zentristischen Degeneration, einen langfristigen „Entrismus sui generis“ (der besonderen Art) zu befürworten. Die TrotzkistInnen agierten als geheime Gruppe und verschmolzen mit den linken Flügeln der reformistischen Parteien, um längerfristig in diesen arbeiten zu dürfen. Diese Politik wurde von der gesamten Führung der Vierten Internationale getragen. Während die Strömung um Ernest Mandel sich ab 1968 von der Sozialdemokratie ablöste und sich stattdessen den StudentInnen- und Guerilla-Bewegungen anpasste, blieb etwa die Strömung um Ted Grant insgesamt 40 Jahre in den reformistischen Massenparteien, in der Hoffnung, diese irgendwann komplett übernehmen zu können. Zahlreiche andere Strömungen führten ebenfalls einen „tiefen“ Entrismus durch.[3]

Deswegen steht die Entrismus-Politik von der SAV und von Marx21 in Gegensatz zum Entrismus, wie Trotzki ihn vorgeschlagen hat. Ihre Politik ist vielmehr ein Produkt des trotzkistischen Zentrismus nach dem Zweiten Weltkrieg.

Fußnoten

[1]. Leon Trotsky: „Against False Passports in Politics“. In: Ebd.: The Crisis of the French Section. New York 1977. S. 116. (Eigene Übersetzung.)

[2]. Ebd.: „Lessons of the SFIO Entry“. In: Ebd.: The Crisis of the French Section. S. 125-126. (Eigene Übersetzung.)

[3]. Die AnhängerInnen der Strömung von Gerry Healy behaupten, gegen den „Pablismus“ und den „Entrismus“ agiert zu haben. In Wirklichkeit betrieb Healy selbst zwischen 1950-59 eine Gruppe in der Labour Party, die so geheim war, dass sie nur „The Club“ hieß!

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